SOWJET-UNION / LITERATURKONGRESS Fleisch vom Fleisch
Bei uns geht alles wie bei netten Leuten zu -- still, friedlich, bequem, ohne scharfe Reden, ohne jede Erregung«, beschwerte sich Schriftsteller Michail Scholochow, 62, vor dem Kongreß der Sowjetdichter.
Erfolgslos putschte der Nobelpreisträger ("Der stille Don") im Großen Kremlpalast die gelangweilten Dichter-Delegierten auf: »Alle hier atmen gleichmäßig und lächeln so milde, und im Saal herrscht eine solche Versöhnlichkeit, daß mancher schon zum Einschlafen neigt.«
Scholochow wußte, warum die Staatsdichter sich nicht aus der Reserve lochen ließen: Er selbst gab an, die Tagungsteilnehmer seien im Durchschnitt sechzig Jahre alt. Scholochow: »Das ist ähnlich wie bei der Armee, wo man erst General wird, wenn man schon beinahe von Motten zerfressen ist.«
Die Vertreter der 6608 Mitglieder des Schriftstellerverbandes -- auf dem Kongreß kollektiv mit dem Lenin-Orden dekoriert -- waren des Kampfes mit der Partei müde. 403 der 473 Delegierten sind Mitglieder oder Anwärter der KPdSU. Widerspruchslos akzeptierten sie Ende Mai in Moskau eine Resolution, in der sie ihre eigene Treue zur Partei und zum verordneten Patriotismus priesen. Ihre poetische Losung:« Unsere Literatur ist Fleisch vom Fleisch der sozialistischen Revolution.«
Die wirklich revolutionären Literaten Rußlands gehören dem Verband nicht an. Sie schreiben illegal, verbreiten Untergrund-Zeitschriften und werden, weil nicht durch Mitgliedschaft lizenziert, als »Arbeitsscheue« verfolgt.
Der französische Ehrengast des Kongresses (deutschsprachige Beobachter: Friedrich Dürrenmatt und Hans Magnus Enzensberger), Armand Lanoux, trat in einer Begrüßungsrede für die verurteilten Sowjetschriftsteiler Sinjawski und Daniel ein. Der Kongreß schwieg; die Sowjetpresse unterschlug die unbequeme Fürsprache.
Festredner Georgij Markow, der 1963 den -- damals -- rebellischen Poeten Jewtuschenko hart kritisiert hatte, nannte den Generationskonflikt unter den Sowjetschriftstellern eine »Erfindung ideologischer Feinde«.
Laut Markow ist die »zentrale Gestalt vieler Werke junger Dichter ein infantiler Jüngling, der durch die Straßen der Städte schlendert, der Gesellschaft absolut nichts gibt, aber beansprucht, nicht nur über seine eigene Generation zu richten, sondern auch über die ältere Generation«.
Auf der Suche nach würdigen Repräsentanten der Sowjetliteratur mußte aber selbst der konservative Markow Autoren loben, die der Parteilinie zuwiderliefen:
> Owetschkin, 1958 des »Revisionismus« beschuldigt,
> Dorosch, dessen »Dorftagebuch« das Dogmatiker-Blatt »Oktjabr« 1963 scharf kritisiert hatte,
> Abramow, der im selben Jahr von der Staatszeitung »Iswestija« der Abweichung bezichtigt wurde,
> Tendrjakow, dessen Werk »Die weiße Flagge« den Chefredakteur der Jugendzeitung »Junge Garde« wegen des Abdrucks den Posten kostete, und
> Baklanow und Bondarew, die wegen Pazifismus und mangelnder Heidenverehrung angeklagt wurden. Markows Lob der Abweichler entging den meisten der vor sich hin dämmernden Kongreß-Delegierten. Sie merkten auch nicht auf, als der Berichterstatter über Sowjetlyrik, M. A. Dudin, in seinen Vortrag die gefährlichen Worte einflocht: »Ich will keine Prophezeiung versuchen, aber ich bin fest davon überzeugt, daß mit jedem neuen Tag der Mensch mehr Mut braucht -- Mut aber wird von der Wahrheit genährt, einschließlich der gnadenlosen Wahrheit der Poesie.«
Mut zeigte allein ein Sowjetpoet« der nicht im Kremlpalast sprechen durfte: Alexander Solschenizyn, Verfasser der Botschaft aus einem Stalinschen Totenhaus »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«. Der ehemalige Häftling sandte dem Kongreß-Präsidium einen offenen Brief, in dem er gegen die Zensur protestierte (siehe Seite 94).
Doch die Dichterfürsten hatten sich entschlossen -- wie Scholochow verriet -, der Diskussion »alle scharfen Ecken zu nehmen«. Solschenizyns Beschwerde wurde verschwiegen.
Die Diskussion fand außerhalb des Kremlsaals statt. Solschenizyn hatte sein Schreiben vervielfältigt und in 400 Exemplaren unter die Delegierten gebracht. Bei ihrer Abreise nahmen die alten Herren der Sowjetliteratur die Blätter mit.
Vorige Woche besannen sich 82 Sowjetliteraten: Sie forderten eine öffentliche Diskussion des Solschenizyn-Protestes.
Unter den Mutigen war Jewgenij Jewtuschenko. Er hatte am Kongreß nicht teilgenommen, sondern war nach Portugal und Spanien gereist.