JUSTIZ Fluch der Silberlinge
Die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Katja Husen aus Hamburg ist eine Freundin der Musik. Auf der Festplatte ihres Laptops sind 1800 Songs gespeichert, das Liedgut ihrer CD-Sammlung (300 Scheiben) ist mehr als doppelt so groß. Kann sie sich an den ersten Song, den sie sich kostenlos aus dem Internet heruntergeladen hat, noch erinnern? »Irgendetwas, was ich mir nie gekauft hätte«, überlegt sie laut. Nach einer Weile: »Ach richtig, so ein Lied von Britney Spears war's: ,Oops! I did it again'.«
Das war in den guten alten Zeiten des Internet. Damals konnten Musiksammler noch nahezu frei und unbehelligt von der Polizei in illegalen Netztauschbörsen neue Lieder preiswert oder gar kostenlos bekommen. Die Einnahmen der Popstars und ihrer Plattenfirmen sanken beharrlich. Im Jahr 2003 verbot der Bundestag dann das Herunterladen von Musik und Filmen aus illegalen Quellen.
Seitdem stöbert Husen, 29, nicht mehr im Internet nach neuen Songs, sondern brennt nur noch »Party-CDs für Bekannte«. Diese Art der günstigen Liedervermehrung für den privaten Bereich ist legal - zumindest so lange nicht zu viele CDs daraus werden. Doch jetzt will die Große Koalition auf Druck der Industrie wie auch der Verbraucher das Urheberrecht neu regeln. Prompt streiten sich Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) und Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU): Gibt es ein Recht auf Privatkopie - und wann beginnt der Diebstahl geistigen Eigentums?
Betroffen ist ein Land, in dem über 40 Prozent der Haushalte über einen CD- oder DVD-Brenner und 60 Prozent der Bürger über einen Internet-Zugang verfügen. Millionen Kopiersüchtige fragen sich: Wann darf man Freunden und Verwandten in Zukunft noch eine Silberscheibe brennen? Nur vom gekauften Original oder auch von der Sammel-CD, die ein Freund zusammengestellt hat? Und wie kriminell ist dieser Freund, ein notorischer Kopierschutzüberwinder und Liedersammler in allen - auch illegalen - Ecken des Netzes? Soll im Gesetz stehen, dass er weiterhin ein Raubkopierer, ein Straftäter ist?
Die Antwort des CDU-Rechtspolitikers Günter Krings ist einfach: Ja. Der Bundestagsabgeordnete will das Urheberrecht sogar noch verschärfen und Privatleuten in Zukunft Kopien nur noch vom Original erlauben, und das auch nur in geringer Zahl. Sonst gebe es ja eine »exponentielle Kopier-Kurve ohne jeden Qualitätsverlust, während der Urheber leer ausgeht«. Alle, die weiter brennen, sollten als sogenannte Film- oder Musikpiraten Fälle für den Staatsanwalt sein, »immerhin geht es hier um Arbeitsplätze«.
Die Antwort von Zypries, die jetzt einen Referentenentwurf »zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft« vorgelegt hat, ist weitaus diffiziler. Sie lautet: vielleicht. Zypries will ein milderes Gesetz, um eine »Kriminalisierung der Schulhöfe« zu verhindern.
Brennen für Freunde - egal, ob vom Original oder von der Kopie - will die Bundesjustizministerin weiter erlauben. Rechtswidrig soll nach wie vor nur der handeln, der sich Kopien von einer Film- oder Musikdatei zieht, die kopiergeschützt ist (und das sind sehr viele) oder Lieder und Filme ohne Einverständnis des Rechteinhabers aus dem Internet herunterlädt. Er soll aber in Zukunft nicht mehr strafrechtlich belangt werden können, wenn er diese »Werke nur in geringer Zahl und ausschließlich zum eigenen privaten Gebrauch oder zum Gebrauch von mit dem Täter persönlich verbundenen Personen vervielfältigt«.
Ob Zypries damit durchkommt, ist jedoch fraglich. Koalitionspartner Neumann hält das für ein »falsches Signal«. Deshalb werde er sich, versprach er der Industrie, »energisch dafür einsetzen, diese Regelung zu korrigieren«. Und Krings fürchtet, dass viele Internet-Nutzer Zypries' »Bagatellklausel« als Aufforderung zur Freibeuterei missverstehen könnten und dann wieder downloaden, was die Netzzugangsleitung hergibt. Die Behörden, argumentiert die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU), hätten doch schon heute die Möglichkeit, Bagatellverfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Das aber zwinge doch förmlich dazu, »im Bewusstsein der Verbraucher noch viel stärker zu verankern, dass es die Nutzung fremden geistigen Eigentums nicht zum Nulltarif gibt«.
Seit Jahren schon klagt die deutsche Film- und Musikindustrie über ein mangelndes Unrechtsbewusstsein der Datenpiraten. Allein im vorvergangenen Jahr habe der Fluch der illegalen Silberlinge nur für die Filmbranche rund eine Milliarde Euro Schaden bedeutet.
In welchem Ausmaß der rechtswidrige Musik- und Filmverkehr dafür verantwortlich sein soll, dokumentieren die Firmen und Verbände mit den sogenannten Brennerstudien, die das Marktforschungsinstitut GfK erstellt: Wurden vor rund sieben Jahren, also in der Hochphase des New-Economy-Booms, noch fast 200 Millionen CD-Alben gekauft, waren es 2004 schon ein Drittel weniger. Dagegen stieg die Zahl der mit Musik selbst bespielten Rohlinge um fast das Sechsfache. Und bei den Filmen sieht es mittlerweile ähnlich aus.
Deshalb ging die Branche zum Gegenangriff über. Vor rund zwei Jahren startete
sie die PR-Kampagne »Raubkopierer sind Verbrecher«, die unter den Freunden der freien Vervielfältigung Angst und Schrecken verbreiten sollte. Auf diversen deutschen Marktplätzen erschien in den vergangenen zwei Sommern der »Knast on Tour«, eine überdimensionale Zelle, in der jeder interessierte Passant »fünf Minuten im Leben eines Raubkopierers« erleben durfte. Kinospots sollten die Wirkung der Aktion verstärken. Doch schon bald sorgten die platten Filmchen - einer etwa suggerierte, dass man im Gefängnis mit Vergewaltigungen zu rechnen habe, weil wirklich kriminelle Mitinsassen ("meiner hat aber den geileren Arsch") auf junge Raubkopierer stünden - in den Kinosälen nur noch für höhnisches Gelächter.
Parallel begannen Musiker und Schauspieler wie Mel Gibson Kopierer in aller Welt zu verklagen. Die deutsche Film- und Musikwirtschaft hat gar zwei Organisationen gegründet. Spezialisten forschen etwa im Netz und auf Flohmärkten nach Kopien, die »ohne Einwilligung des Berechtigten« (Paragraf 106 Urheberrechtsgesetz) öffentlich gemacht werden: Die Firma proMedia sucht nach raubkopierter Musik, die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen (GVU) kümmert sich um Filme und Unterhaltungssoftware.
Allein die GVU beschäftigt zehn Rechercheure, fast alles ehemalige Polizisten. Stolz bezeichnet Geschäftsführer und Ex-Kommissar Jochen Tielke seine Gesellschaft auch schon einmal als »kleines BKA für Urheberrechtsverletzungen«. In ihrem Lagerraum in einem Hamburger Keller liegen die Raubkopien in unzähligen Kartons, »Harry Potter«, »Herr der Ringe«, »Star Wars«, insgesamt rund 120 000 DVDs.
Die Hinweise seiner Ermittler hätten zu rund 2500 Ermittlungsverfahren im vergangenen Jahr geführt, sagt Tielke; die Musikfahnder der proMedia melden gar 3500 Verfahren. Als Erfolge des vergangenen Jahres verbuchen die beiden Gesellschaften
* die Abschaltung von fünf Servern in Coburg durch die Justiz, auf denen mehr als sechs Terabytes Filme und Computerspiele zum Download angeboten wurden: das sind mehrere tausend Dateien;
* die Schließung der hunderttausendfach aufgerufenen Portalseite »The Realworld«, auf der Dateien mittels eines Tauschbörsenprogramms illegal herunterzuladen waren, insbesondere TV-Serien wie »Friends« und »24«;
* einen Schlag gegen einen Ring von 16 Ebay-Händlern in Nürnberg, der im großen Stil CDs aus Russland importiert und hier versteigert hatte.
In solch schwerwiegenden Fällen können Profis auch schon mal mehrere hunderttausend Euro Profit machen. »Die Gewinnspanne ist meist größer als im Drogenmarkt«, sagt Tielke. Nur: Dass hier Straftaten zu ahnden sind, bestreitet niemand.
Anders ist es bei den vielen privaten Kunden, den Schülern, Studenten, den Familienvätern und -müttern. »Es wird doch - in egal welcher Sache - kaum noch eine Wohnung durchsucht«, sagt Tielke, »in der nicht auch Raubkopien gefunden werden.« Andererseits kommt den Verfolgern ihre Massenkriminalisierung inzwischen selbst etwas zweifelhaft vor. So wird in der Filmbranche überlegt, keine weitere Brennerstudie mehr zu finanzieren, »weil die Linie zwischen illegalen und legalen Kopien« gar nicht mehr zu ziehen sei.
Noch aber droht die Justiz in der Kopierwelle zu ertrinken. In Karlsruhe - dort erstattet die Anwaltskanzlei Schutt, Waetke im Auftrag von Firmen und Künstlern Anzeige - hat sich die Zahl der Tatverdächtigen glatt verdoppelt. Früher zählte die Staatsanwaltschaft pro Jahr rund 40 000 Verdächtige insgesamt, nun sind es bald 80 000. Alexander Schwarz von der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe befürchtet »eine Blockade« der Behörden, falls das so weitergeht: »Sollte eines Tages Bill Gates Anzeigen erstatten, brechen wir zusammen.«
Immerhin können die Staatsanwälte laut einer Empfehlung ihrer Hausspitze die Verfahren einstellen, wenn der Täter nicht mehr als hundert verschiedene Werke im Internet angeboten hat - und nicht schon einmal aufgefallen ist. Die Kanzlei Schutt, Waetke übernimmt für ihre Mandanten dann die zivilrechtliche Verfolgung. Für eine Datei verlangt sie einen Schadensersatz inklusive Nebenkosten zwischen 200 und 300 Euro. Das sei nur eine rein symbolische Forderung, erläutert Timo Schutt: »Eine Lizenz für dasselbe Stück würde doch Tausende Euro kosten.«
Obgleich Schutt weiß, dass es blauäugig wäre, alle erwischen zu wollen ("Es ist eine unfassbare Menge an Straftaten, die im Netz fast sekündlich passiert"), setzt er auf die Signalwirkung. Deshalb ist für ihn Zypries' Bagatellklausel ein Armutszeugnis: »Dann kann man ja gleich den Ladendiebstahl unter zehn Euro legalisieren.«
Aber »eine kriminelle Handlung«, wendet der SPD-Rechtspolitiker und ehemalige Richter Dirk Manzewski ein, setze doch »immer ein Unrechtsbewusstsein« voraus. Und eben daran mangele es bei den Nutzern: »Die denken doch, alles, was sie im Netz vorfinden, wäre legal.« Gesetzliches Verbot und gesellschaftliche Realität fielen offenkundig deutlich auseinander, bestätigt der Münchner Kriminologe Johannes Kaspar. Und von der Industrie erwischt würden ohnehin fast nur die technischen Trottel, spottete das Computermagazin »Wired« in seiner Januarausgabe, »tattrige Renter und 13-Jährige, die sich gerade ,Happy-Birthday' herunterladen«.
Deshalb hält auch der Medienrechtler Thomas Hoeren von der Universität Münster nichts von einer derartigen »Massenbestrafung der Bevölkerung«- sei sie nun strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Natur. Er plädiert gemeinsam mit einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern für eine Legalisierung des privaten Herauf- und Herunterladens von Texten, Musik und Filmen.
Die Künstler, Wissenschaftler und Produzenten könnten dann über eine sogenannte Kultur-Flatrate entschädigt werden, die Internet-Nutzer zum Beispiel zusammen mit den Netzzugangsgebühren überweisen müssten. »Der Kampf der Industrie«, sagt er, »ist in diesem Bereich doch längst verloren - dafür gibt es inzwischen einfach viel zu viele Angebote und Internet-Nutzer.« CAROLINE SCHMIDT, MARKUS VERBEET