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ÖSTERREICH / INTELLIGENZ Flucht nach Deutschland

aus DER SPIEGEL 30/1963

Mehr als 800 000 Mark Entwicklungs -Hilfe kassiert die Bundesrepublik alljährlich von Österreich: Sommer für Sommer bezieht sie frei Haus etwa 50 diplomierte Ingenieure der Technischen Hochschulen Österreichs, von denen jeder den österreichischen Staatssäckel 16 000 Mark Schulgeld gekostet hat.

Schon vor Jahren jammerte Professor Karl Adamik von der Grazer Technischen Hochschule, fast die Hälfte der österreichischen Jungingenieure wandere aus. Doch vermochte keine Behörde sein Klagelied vom »geistigen Ausverkauf der einstigen Brutstätte für Nobelpreisträger« statistisch zu untermauern.

Erst jetzt wies der Akademikerbund, ein der konservativen Österreichischen Volkspartei nahestehender Intellektuellenverband, nach, daß nur 54,6 Prozent der TH-Studenten in Österreich bleiben: 43,6 Prozent drängen sofort nach ihrer Abschlußprüfung ins Ausland, davon 12,5 Prozent nach Deutschland.

»Das ist Massenflucht«, entsetzte sich Dr. Herbert Christoph Günzl, Wiener Landesobmann des Akademikerbundes, und detaillierte die Motive der akademischen Emigranten:

- Bürokratismus der Staatsindustrie in Österreich ("parteiliche Protektionswirtschaft bei Besetzung der interessantesten Stellen"),

- Konkurrenzunfähigkeit gegenüber den EWG-Staaten ("also schlechtere Verdienstmöglichkeiten"),

- mangelnde Forschungstätigkeit und Unterbewertung der geistigen Arbeit ("Der Hilfsarbeiter wird fast ebenso besoldet wie der Jungakademiker").

Zudem schreckt jene Spinnweben -Atmosphäre österreichischer Hochschulen junge Österreicher von einer akademischen Karriere ab, zu deren Wahrzeichen der »uralte, selbstgebaute Röntgenapparat des Physikalisch-Chemischen Universitätsinstituts« in Wien geworden ist, für den sich laut »Wochenpresse« »bereits ein privates Museum interessierte«.

Den Auswanderungsgelüsten ihrer Jungtechniker suchten Österreichs Verantwortliche bisher allein durch Verbote beizukommen. Offene Werbung ausländischer Firmen durch persönliche Kontakte, Inserate und Arbeitsämter wurde gesetzlich untersagt. Konstatiert Akademiker Günzl: »Der Student steht hierzulande unter einer Käseglocke.«

Bessere Bedingungen für den einheimischen Technikernachwuchs zu schaffen, ist in Wien bisher noch niemandem eingefallen. Folge: Einem jährlichen Nachwuchsbedarf von etwa 520 Maschinenbau-Ingenieuren und 280 Elektro-Ingenieuren stehen insgesamt nur rund 400 Diplom-Ingenieure aller Sparten gegenüber, die jährlich die Hochschulen verlassen. Davon wandert noch fast die Hälfte ins Ausland ab.

Der »Notring der wissenschaftlichen Verbände Österreichs« sorgte sich: »Österreich wird bald neben Griechenland, Portugal, Irland und Island das fünfte unterentwickelte Land Europas sein.«

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