FRISCH Flucht vor sich selbst
Ich bin nicht Stiller!« schreibt Stiller, Bildhauer und eidgenössischer Zeitgenosse, in Max Frischs neuem Roman »Stiller"*) auf die erste Seite seines vom Staatsanwalt erbetenen Gefängnistagebuchs. Auf Seite 504 der gleichen Aufzeichnungen findet sich der Vermerk: »Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ich bin (für sie) identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten und einundzwanzig Tagen verschollenen Anatol Ludwig Stiller ... und verurteilt zu einer Reihe von Bußen betreffend die Ohrfeige gegenüber einem eidgenössischen Zollbeamten ...«
Diese Ohrfeige bekam der junge Zöllner, als Stiller mit gültigem Paß auf den Namen White, USA, in die Schweiz einreisen wollte, dabei als der verschollene Stiller erkannt wurde, aber nicht Stiller zu sein wünschte. Man sperrt ihn in ein sauberes Schweizer Gefängnis (Schweizer Autor Frisch: »Alles in diesem Land hat eine beklemmende Hinlänglichkeit"), gibt ihm einen Verteidiger, der ihm ebensowenig glaubt wie die anderen, und läßt ihn erst einmal schmoren.
So verlangt er denn nach Whisky (den er nicht bekommt) und schreibt. Er schreibt auf, was ihm gerade einfällt: seine Gespräche mit dem Wärter, eine Erinnerung an die mexikanische Wüste, ein bißchen Tageslauf, Gedanken, Plaudereien mit dem Staatsanwalt - aber Stiller sei er nicht, der Teufel solle es holen! Unvermittelt erzählt er seinem Verteidiger das amerikanisch-holländische Märchen von Rip van Winkle: vom Mann, der in die Wälder ging und mit den Unterirdischen zechte, und als er zurückkam, waren zwanzig Jahre vergangen, und niemand glaubte dem Manne, daß er Rip van Winkle sei.
»Und?« fragt der Verteidiger. »Was hat das wieder mit unserer Sache zu tun? Gegen Ende September steigt die große Verhandlung, und Sie erzählen mir Märchen - Märchen! - und damit soll ich Sie verteidigen?«
»Womit denn sonst?« fragt Stiller zurück.
Max Frisch (SPIEGEL 41/1953), unruhig von Jugend auf und für seine Landsleute ein ärgerlicher Vagabund auf Landstraßen und Berufswegen, erst Journalist, dann Architekt, dann Dramatiker, dann unbequemer Zeitkritiker und jetzt noch Romancier dazu, hat von jeher für das Jonglieren mit scheinbar festgegründeten Normen viel übrig gehabt. Schon auf der Universität ärgerte ihn das »warenhaushafte Nebeneinander« des Dargebotenen, er wollte alles auf eine innere Mitte bringen. Damals mißlang dieser Versuch, aber Frisch hat ihn unverdrossen immer wieder erneuert.
Er ging auf Reisen. Vor dem Krieg besuchte er den Balkan und fuhr ans Schwarze Meer, nach dem Krieg ins zerschlagene Deutschland und gar nach Rußland und Polen. (In Stiller finden sich ironisch gefärbte Spuren der Erfahrungen, die er nach diesem östlichen Ausflug daheim in der Schweiz machen durfte.) Er reiste nach Amerika und Mexiko. (Auch dieser Trip hat sich in längeren Abschnitten des Romans niedergeschlagen.) Er ließ seinen »Graf Oederland« auf der Bühne aus einem nutzlosen Leben ausbrechen und nach Belieben den Aufenthaltsort ebenso wie das Naturell der Gefährtin wechseln.
Graf Oederland scheitert. Auch Stiller scheitert am Ende. Er jongliert mit Zeit und Raum, er bricht aus seiner Zelle
*) Max Frisch: »Stiller«; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main; 572 Seiten; 18,50 Mark. mühelos in längst erlebte Abenteuer auf überseeischem Boden aus, doch das warenhaushafte Nebeneinander bleibt ihm erhalten, die innere Mitte wird nicht gefunden. Der Roman entstand, wie Frisch einmal von sich selbst schrieb, aus der »ernsthaften Vorstellung, daß das Leben mißlingen kann«. Frischs neues Buch ist der Anti-Entwicklungsroman schlechthin, schillernd von Ironie, Selbstironie, bitterer Zeitkritik und bitterer Selbstkritik.
Seine Schwerpunkte liegen im Gleichnis. Stiller ist der Zeitgenosse überhaupt: der Mann, der immer zu spät kommt, der aus zweiter Hand lebt, der im Warenhaus des Lebens viele Gegenstände, der aber nie sich selbst findet. Das wird vor allem an den Stellen des Romans klar, wo Stiller sich an sein früheres Ich erinnert, wo sein Weg quer durch die Zeit zu den Taten und Untaten führt, die der verschollene Stiller auf dem Kerbholz hat.
Zu diesen Ausflügen in die Vergangenheit verhelfen ihm die Begegnung mit Frau Julika Tschudy-Stiller, Tänzerin, wohnhaft in Paris, und die Gespräche mit seinem Staatsanwalt. Frau Julika wurde vom verschollenen Stiller schmählich verlassen, als sie lungenkrank in Davos lag. Nun erscheint sie, groteskerweise vom Verteidiger, nicht vom Staatsanwalt gerufen, zur Identifizierung des Häftlings. Sie ist entzückend.
»Ihre Haare sind rot, der gegenwärtigen Mode entsprechend sogar sehr rot, jedoch nicht wie Hagebutten-Konfitüre, eher wie trockenes Mennig-Pulver ... Ihre Lippen sind für meinen Geschmack etwas schmal, nicht ohne Sinnlichkeit, doch muß sie zuerst erweckt werden, und ihre Figur (in einem schwarzen Tailleur) hat etwas Knappes, etwas Knabenhaftes auch, man glaubt ihr die Tänzerin, vielleicht besser gesagt: etwas Ephebenhaftes, was bei einer
Frau in ihren Jahren einen unerwarteten Reiz hat ... Sie spricht sehr leise, damit der Partner nicht brüllt. Sie spekuliert auf Schonung.«
Auch Julika glaubt Stiller nicht, daß er White sei. Er verliebt sich von neuem in sie. Er geht ihr bald »bei Fuß« (während der durch Kaution ermöglichten Spaziergänge außerhalb der Kerkermauern) und erliegt einer Verzückung, die wenig mit echtem Gefühl, aber viel mit der Freude am sinnenhaften, aber nicht sinnlichen Reiz zu tun hat.
Mit dieser Wiederaufnahme vergangenen Privatlebens schiebt sich auch der wohlwollende Staatsanwalt breit ins Bild. Frisch hat eine Vorliebe für ungewöhnliche Justizbeamte, auch sein Graf Oederland war ursprünglich Staatsanwalt.
Dieser hier ist besonders bemerkenswert. Nicht nur, daß er den Angeklagten Stiller nach Kräften unterstützt: er tut dies auch darum, weil Stiller seinerzeit mit Frau Staatsanwalt, Sybille genannt, ein großes Liebesverhältnis hatte.
Stiller betrog Julika, weil ihr das Tanzen wichtiger blieb als Stiller - Sybille betrog den Staatsanwalt, weil sie nach aufregendem Leben gierte. Staatsanwalt und Julika sind daran beide beinahe zugrunde gegangen, er an der Seele, sie an der Lunge.
Diese verwickelten Geschichten knäueln sich langsam und von leiser Ironie gefärbt vor dem Leser auf. Trotz der ständigen Überschneidungen und Überblendungen bleibt das Romanbauwerk des Architekten Frisch übersichtlich. Stillers unangenehme Affären werden von Seite zu Seite angenehmer, menschlicher, denn alle vier Hauptbeteiligten präsentieren sich als komplette Charaktere: es ist ihnen eben nichts Menschliches fremd. Staatsanwalt und Sybille haben später wieder zusammengefunden, zur Zeit von Stillers Haft wird ihnen ein Kind geboren.
Gegen Ende seiner Aufzeichnungen besucht Stiller das Atelier des verschollenen Stiller. Er kennt sich dort angeblich nicht aus, da er ja der Verschollene nicht sein will. Er zerschlägt die noch herumstehenden Arbeiten des Bildhauers. Ist dies nicht Beweis, so glaubt er, daß er, Stiller, nicht der Bildhauer sein kann?
Stiller führt herostratisch diesen Nachweis, aber niemand legt dem Zertrümmern toten Materials Bedeutung bei. Damit hat Frisch seine verborgenen Gleichnisse auf den Gipfel geführt: Es gibt kein Mittel, das eigene Leben zu zerschlagen, und niemand kann sich selbst entfliehen oder kann »sich selbst wählen«, wie der Staatsanwalt in dem ein wenig überraschend angehängten letzten Teil schreibt.
Dieser Teil schildert Stillers ferneres Schicksal, nachdem er dazu verurteilt wurde, er selber zu sein. Der geplagte Held zieht sich mit Julika in die Berge zurück, wählt sich selbst als einen Richtpunkt seines Handelns und wird Töpfer.
Dann stirbt Julika, und Stiller bleibt zurück mit der Erkenntnis, weder sie noch irgend etwas jemals wirklich geliebt zu haben. Ursache seiner Flucht war, Ursache seiner Verzweiflung ist der Mangel an Kontakt mit Mensch und Welt und Gott.
Die Schweizer werden über diesen ungebärdigen Roman ihres derzeit bekanntesten Schriftstellers nicht eben erfreut sein. Er hat darin mit scharfer Kritik an der Bourgeoisie des eigenen Ländchens nicht gespart. Auch die innerdeutsche »fidele Resignation« bekommt einiges Wohlbegründete ab, und die »Frankfurter Allgemeine« bemerkte dazu: »Man darf gespannt sein, wie gewisse Gralshüter abendländischer Couleur auf solche Stellen reagieren werden.«