Tote im Mittelmeer: Dieser Anwalt will EU-Politiker hinter Gitter bringen
Dieser Beitrag wurde am 06.06.2019 auf bento.de veröffentlicht.
Seit Jahren sterben immer wieder Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. In Libyen werden Flüchtlinge wie Sklaven gehalten. (SPIEGEL ONLINE) Zwei Menschenrechtsanwälte machen jetzt die Politik der EU dafür verantwortlich und werfen Politikern Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Am Montag reichten Omer Shatz und Juan Branco eine fast 250-seitige Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein. Das Dokument entstand in zweijähriger Arbeit, mit Unterstützung von sieben Studentinnen und Studenten der Paris School of International Affairs. (SPIEGEL ONLINE)
Wir haben mit Juan Branco gesprochen.
Der 29-jährige Anwalt hat schon mit 20 begonnen, für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu arbeiten – vor den er jetzt europäische Regierungschefs bringen will. Im Jahr 2012 wurde er Berater des damaligen französischen Außenministers Laurent Fabius. Er promovierte in Yale und gehört seit einiger Zeit zu den Anwälten von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Er ist Investigativjournalist bei "Le Monde Diplomatique" und gilt als "Shootingstar der französischen Intellektuellenszene". (Der Standard )
Im Interview erzählt Branco, worauf er und seine Mitstreiter ihre Vorwürfe stützen und was sie sich von der Anzeige erhoffen.
Was genau werft ihr der EU vor?
Wir beschuldigen die Staats- und Regierungschefs der EU, den Tod von Menschen im Mittelmeer bewusst geplant zu haben, um andere von der Überquerung abzuhalten.
Wir legen
dar, dass die EU-Politik der Definition von Verbrechen gegen die
Menschlichkeit entspricht.
Womit hat sich die EU eurer Ansicht nach schuldig gemacht?
Erstens mit dem Rückzug von Rettungsschiffen aus dem Mittelmeer. Und zweitens mit der Zusammenarbeit mit kriminellen Akteuren wie der sogenannten libyschen Küstenwache, die eigentlich nur eine Ansammlung von Milizen ist. Diese Entscheidungen haben dazu geführt, dass viele Geflüchtete gestorben sind oder in Gefangenenlagern in Libyen vergewaltigt und gefoltert wurden.
Eure Strafanzeige hat fast 250 Seiten. Auf welche Quellen stützt ihr eure Beweisführung?
Die Anzeige ist das Ergebnis von zwei Jahren Arbeit. Es war uns sehr wichtig, nur seriöse und offizielle Quellen und die vorsichtigsten Schätzungen von Zahlen zu nutzen. Das ist ein Strafprozess, die Anforderungen an die Beweisführung sind sehr hoch. Wir schreiben zum Beispiel von 14.000 Toten, obwohl andere Schätzungen von bis zu 50.000 ausgehen. Außerdem berufen wir uns auf interne Dokumente, die von Wikileaks oder anderen Akteuren geleakt wurden, und auf Zeugenaussagen von Geflüchteten.
Gleich zu Anfang der Anzeige zitiert ihr die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Fatou Bensouda, die bereits 2017 die Zustände in Libyen angeprangert hat. Warum braucht der Strafgerichtshof diese Anzeige von außen und ermittelt nicht selbst?
Um es kurz zu sagen: Weil es dafür Mut braucht. Es ist schwer für den internationalen Gerichtshof, gegen die EU zu ermitteln, die zu seinen Hauptunterstützern zählt. Also helfen wir und geben dem Gerichtshof dieses sehr gewissenhaft ausgearbeitete Dokument an die Hand, dem man aus rechtlicher Sicht nur schwer widersprechen kann. Außerdem wissen wir aus internen Quellen, dass das Büro der Chefanklägerin hauptsächlich die libysche Seite verantwortlich macht. Wir wollen aber zeigen, dass die Libyer nur Komplizen sind. Weder wären sie in der Lage, noch hätten sie eine Motivation diese Verbrechen zu begehen, wenn die Europäische Union sie nicht dazu anstiften würde. Sie haben nur den finanziellen Anreiz, den die EU ihnen gibt.
Du hast selber einige Zeit beim Internationalen Strafgerichtshof gearbeitet. Was passiert dort jetzt mit eurer Anzeige?
Das Büro der Chefanklägerin wird die rechtliche Argumentation analysieren. Das sollte recht schnell gehen. Sie kennen uns und wissen, dass wir sehr ernsthafte Arbeit abliefern. Wir sind uns fast sicher, dass sie zu dem Schluss kommen werden, dass wir starke Argumente haben. Entscheidend wird sein, ob sie sich dann auch wirklich dafür entscheiden, die Ermittlungen aufzunehmen. Vielleicht werden sie es aus politischen Gründen nicht tun. Dann müssen wir da sein und Druck ausüben, damit der Gerichtshof nicht nach der Logik der Macht, sondern der Gerechtigkeit handelt.
Wenn der Internationale Strafgerichtshof die Ermittlungen wirklich aufnimmt: Wie hoch schätzt du die Chancen ein, dass dieser Fall ernsthafte Konsequenzen hat?
Riesig, denn aus rechtlicher Perspektive ist der Fall einfach. Das Einzige, was die Ermittler machen müssen, ist in die Archive der Ministerien nach Paris, Berlin, Brüssel und Rom zu gehen und festzustellen, wer genau diese Politik vorangetrieben hat, die zum Tod von mindestens 14.000 Menschen geführt hat. Zum Beispiel muss ermittelt werden, ob der damalige italienische Innenminister Angelino Alfano 2014 alleine die Entscheidung getroffen hat, das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ einzustellen oder ob Angela Merkel und der damalige französische Präsident François Hollande Druck auf ihn ausgeübt haben. Die EU hat eine Kooperationsvereinbarung mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Es dürfte also keinen Grund für die betroffenen Staaten geben, eventuelle Ermittlungen nicht zu unterstützen.
Was ist euer Ziel?
Wir wollen, dass die Verantwortlichen für diese Politik ins Gefängnis gehen. Mindestens 14.000 Menschen sind tot. Schon wenn man einen Menschen umbringt, kann man dafür lebenslänglich bekommen. Jahrelang dachten die Verantwortlichen, dass sie ungestraft davonkommen, weil die Opfer ihrer Politik keine Möglichkeit hatten, sich rechtlich zu verteidigen. Und weil sie sogar noch politischen Nutzen aus ihren Entscheidungen ziehen konnten. Das Töten hatte keinen Preis.
Bis heute sterben Menschen im Mittelmeer. Welche Auswirkungen könnte ein Verfahren auf die aktuelle Situation haben?
Momentan denken Entscheidungsträger nicht darüber nach, dass ihnen rechtliche Konsequenzen drohen könnten. Ein Verfahren könnte das ändern und zu viel größerer Vorsicht führen, zum Beispiel bei der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. 2017 hat der deutsche Botschafter in Niger in einem Bericht an Merkel von „KZ-ähnlichen Zuständen“ in den libyschen Gefangenenlagern gesprochen. Man kann das ignorieren, so wie Merkel das getan hat, wenn man nicht mit Konsequenzen rechnet. Sobald sich das aber ändert, wird das auch Auswirkungen auf die aktuelle Politik haben. Da bin ich mir sicher.