Dieser Beitrag wurde am 01.11.2016 auf bento.de veröffentlicht.
"Ich habe beschlossen zu leben", sagt Yussuf. Er steht am Fenster des Krankenhauszimmers, blickt hinab auf die staubigen Straßen Beiruts. Dünn, fast durchsichtig, spannt die graue Haut über seinen kahlen Schädel. Yussuf sieht aus wie ein greiser Mann, dabei ist er erst 13 Jahre alt. Aus seiner Brust ragt ein Schlauch, der den kleinen mageren Körper mit Chemikalien vollpumpt. Rituximab, Cyclophosphamid, Prednison. Yussuf kennt sie alle beim Namen. "Ich muss Arzt werden und ein Medikament erfinden, damit kein Kind mehr sterben muss, weil es arm ist."
Eigentlich dürfte Yussuf gar nicht mehr leben. Eigentlich hat er sein Todesurteil schon vor zwei Jahren bekommen: diffuses großzelliges B-Lymphom. Lymphdrüsenkrebs. In Deutschland bedeutete das: Diagnose, Chemo und in 70 Prozent der Fälle auch Heilung. Für einen Flüchtlingsjungen im Libanon, für Yussuf heißt das: Sterben.
Eine Krankenversicherung für Flüchtlinge gibt es nicht. Und eine Krebsbehandlung im Libanon kann sich ohne Versicherung niemand leisten. Erst recht kein syrischer Flüchtling.
Dass Yussuf heute noch immer lebt, ist ein Wunder. "Normalerweise kommen Kinder wie Yussuf gar nicht mehr in die Klinik", sagt seine Ärztin.
Im Libanon wurde er zunächst abgewiesen, zurück in Syrien bekam er die falsche Diagnose, die falsche Chemo, zwei Rückfälle, zwei Jahre Krankenhaus. Yussufs Leiden im Zeitraffer.
Und Yussuf wäre längst tot, hätte er Mariam nicht getroffen.
Mariam, eine junge Frau aus Berlin. Eine, die mit natürlichen Todesurteilen so gar nicht einverstanden ist. Eine, die zwar nicht an Wunder glaubt aber daran, dass jedes Kind das Recht haben sollte zu leben. Deshalb hat sie vor fünf Jahren den ersten Verein für Kinderkrebshilfe im Libanon gegründet.
"Das wir einmal diese Verantwortung tragen würden, hätte ich nie im Leben erwartet", erinnert sich die heute 34-Jährige. Sie sitzt vor einem kleinen Café in Kreuzberg, 2700 Kilometer entfernt von Beirut, von Yussuf. Ihre schwarzen Locken, die dunklen Augen, all das erinnert ein bisschen an ihren Papa, der vor 45 Jahren als Student vom Südlibanon nach Deutschland gekommen war. Mariam geht den umgekehrten Weg.
Als sie 2012 den Verein "Akuthilfe für Kinder und Jugendliche im Libanon" gründet, geht es für sie um einen Einzelfall und darum, ein Band zu knüpfen zur Heimat ihres Vaters.
Dass der Konflikt im benachbarten Syrien zu einer der schlimmsten humanitären Katastrophen des 21. Jahrhunderts ausarten würde, war damals nicht abzusehen. Nicht, dass fünf Jahre später über 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge im Land leben würden. Nicht, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das UNHCR, kurz davor sein würde, unter der Verantwortung zu kollabieren.
"Es ist doch abstrus: Unser kleiner Verein soll eine Aufgabe stemmen, die nicht mal große Hilfsorganisationen leisten können", sagt Mariam. Sie hat deshalb einen zweiten Verein im Libanon gegründet: Karma.
Es ist die einzige Organisation, die krebskranken Flüchtlingskindern im Libanon hilft. Selbst Ärzte ohne Grenzen und das überforderte UNHCR überstellen ihnen ihre kranken Patienten, weil sie sich nicht zuständig fühlen oder das Geld fehlt. 18 Ehrenamtliche – für alle krebskranken Kinder im Libanon.
Mariam will es sich nicht anmerken lassen, doch sie fühlt sich allein gelassen mit einer viel zu großen Aufgabe: Das Geld wird weniger, die Notfälle immer mehr.
32 sind es im Moment.
Mariam
"Wenn das so weiter geht, dann werden wir an einen Punkt kommen, an dem wir Kinder abweisen müssen." Abweisen, aufgeben, das Todesurteil Krebs stillschweigend akzeptieren ohne wenigstens gekämpft zu haben.
Denn Kinderkrebshilfe hat nicht gerade die Pole-Position inne im Wettlauf um die Spendengelder. Spender wollen: Ein bisschen Welt retten und zwar so effizient und schnell wie möglich, am besten mit zehn Euro im Monat. Dabei sind Spenden für krebskranke Kinder ungefähr so sexy wie die Chemo selbst. "Die Behandlungskosten lassen sich nie planen“, sagt Mariam. "Mal sind es 10.000, mal sind es 20.000 Dollar und manchmal stirbt das Kind trotzdem."
In Yussuf haben sie inzwischen 32.000 Dollar gepumpt – bis zur vollständigen Heilung werden es mehr als 100.000 sein.
Geld, mit dem sich andere einen Sportwagen oder eine Segelyacht kaufen. Mit dem man ganzen Dörfern helfen könnte – das ist ein Vorwurf, den Mariam oft zu hören bekommt. "Das Schlimmste, was wir machen können, ist, mit dem Massenelend das Leid des einzelnen zu rechtfertigen", antwortet Mariam dann immer. Yussufs Leid.
"Mein größter Traum ist es zu reisen", sagt Yussuf. Er sagt das so sachlich und ernst, als würde er eine Rechenaufgabe lösen. "Ganz einfach: Wenn ich eine realistische Chance haben will zu überleben, muss ich weg aus dem Libanon", erklärt er. Was Yussuf braucht: eine Knochenmarktransplantation. Was es im Libanon nicht gibt: eine Spenderkartei mit passenden Spendern und Geld, 90.000 Dollar um genau zu sein. In Europa gibt es beides.
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Mariam
Deshalb hat Yussufs Mutter beim UNHCR einen Antrag auf Resettlement wegen medizinischer Versorgung gestellt. Der Antrag liegt seit eineinhalb Jahren in irgendeinem Aktenstapel in der französischen Botschaft. Noch immer warten sie, in der illusorischen Hoffnung, dass doch etwas passiert.
Wenn Angela Merkel, François Hollande und Co. Pläne vorstellen, um das Flüchtlingsproblem mit Resettlement-Programmen zu lösen, klingt das für sie wie Hohn, denn von 1,5 Millionen im Libanon lebenden Flüchtlingen wurden seit 2011 15.000 Menschen in die Europäische Union umgesiedelt. 1 Prozent! So ein Resettlement ist wie ein Sechser in der Flüchtlingslotterie. Sehr, sehr selten.
"In zwei Fällen haben wir es tatsächlich geschafft, dass Kinder umgesiedelt wurden", erinnert sich Mariam, "aber in beiden Fällen war die Behandlung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen". Eine zähe Bürokratie und jahrelanges Warten sind die Norm. Zeit, die sich der Krebs nicht nimmt. "Es sind schon drei Kinder gestorben, die auf der Warteliste standen und es nicht rechtzeitig geschafft haben."
Und auch Yussufs Zeit läuft langsam ab.
Mariam ist gerade wieder in den Libanon gereist. Auch um Yussuf zu besuchen. Sie sitzt dann immer an der Kante seines Bettes und sie reden. Über das Leben – und den Tod. "Ich bin froh Mariam als Freundin zu haben, mit der ich über alles sprechen kann", erzählt Yussuf. Dann, wenn ihn die grinsenden bunten Fische an der babyblauen Krankenhauswand wieder herausfordernd anglotzen. Dann, wenn ihn die Wut zu zerreißen droht.
Mariam nimmt seinen Arm, fährt mit der Hand über den kahlen Hinterkopf. Mit einem blauen Kuli zeichnet sie ein kleines Peace-Zeichen auf die papierartige graue Haut. Als Stinkefinger für den verdammten Krebs.
"Es ist meine Schuld", sagt Yussuf traurig, als müsse er vor Gericht ein Geständnis ablegen. "Ich will meine Mutter nicht mehr heulen sehen. Mein Vater kann sich die Granatsplitter nicht aus dem Kopf operieren lassen, weil meine Behandlung das Geld auffrisst. Meine Brüder, 16 und 14, müssen auf der Baustelle arbeiten, damit ich atme, hier liege, nichts tue", sagt er verbittert. "Und was ist, wenn ich wirklich sterbe? War dann alles umsonst?“
Hier erfährst du mehr über Mariams Projekt Karma und kannst dafür spenden.
Bartholomäus von Laffert auf Twitter: @bartvola
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