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SOZIALDEMOKRATEN Flügelsalat

Mit dem drohenden Rausschmiss Wolfgang Clements offenbart sich der tiefe Riss zwischen den beiden Lagern der SPD. Die Linken haben die Oberhand über die Reformer gewonnen. Das zeigt sich auch in Hessen, wo Andrea Ypsilanti sich doch noch mit Hilfe der Linkspartei wählen lassen möchte.
aus DER SPIEGEL 32/2008

Wolfgang Clement saß auf dem Beifahrersitz, seine Frau Karin kurvte über die engen Straßen der Toskana, als das Handy des Superministers a. D. klingelte. Das Ehepaar macht gerade Italien-Urlaub, mit weiteren 17 Familienmitgliedern. Am Mittwochabend aber waren die Clements unterwegs zu einem alten Freund.

Ob er schon die Nachricht erhalten habe, fragte der Anrufer aus Deutschland. Nein, hatte Clement nicht. Die Landesschiedskommission der SPD in Nordrhein-Westfalen habe beschlossen, ihn aus der Partei zu werfen. Clement war völlig schockiert. Das gibt's doch nicht, stammelte er.

Das einzig Gute war, dass es sich bei dem Freund, den die Clements besuchen wollten, nicht nur um einen Weggefährten, sondern gleich um seinen Anwalt handelte. Otto Schily besitzt seit Jahren ein Haus in der Nähe von Siena. Beim Wein berieten die Ex-Mitglieder der Regierung Schröder sofort die neue Lage. »Die sind total verrückt geworden«, schimpfte Schily. Dies sei der Versuch, sich an den Protagonisten der Reformagenda 2010 zu rächen. Deren Gegner hätten sich durchgesetzt. »Hier geht es um den Kurs der Partei.« Beide beschlossen weiterzukämpfen: »Wir wehren uns auf Bundesebene.«

Der Kampf um die Mitgliedschaft des Wolfgang Clement ist tatsächlich mehr als ein Streit um eine einzelne Aussage im hessischen Landtagswahlkampf. Wegen der Energiepolitik der SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti hatte der Atomlobbyist Clement im Januar in einer Zeitungskolumne dazu aufgerufen, seine eigene Partei nicht zu wählen. Damit habe er der SPD »schweren politischen Schaden zugefügt« und »den Parteifrieden erheblich gestört«, befand vergangene Woche die Schiedskommission in Düsseldorf. Nun stört ihre Entscheidung, Clement auszuschließen, den Parteifrieden erheblich.

Kaum hatte der Spruch des Schiedsgerichts nicht nur die älteren Herren in der Toskana, sondern auch das politische Berlin erreicht, war die erhoffte Ruhe und Eintracht im Sommer vorbei. Knapp drei Wochen hatte sie gehalten. Der unglückliche Parteichef Kurt Beck macht irgendwo an der Mosel Urlaub. Die zerstrittenen Parteiflügel hatten es tatsächlich 17 Tage ausgehalten, ohne sich öffentlich zu beschimpfen. Doch binnen weniger Stunden zerfiel die SPD am vorigen Donnerstag wieder in ihren Urzustand: in ein rechtes und ein linkes Lager, die sich lieber gegenseitig bekämpfen als den politischen Gegner.

Parteirechte wie Franz Müntefering, Finanzminister Peer Steinbrück, Wirtschaftssprecher Rainer Wend oder der Chef des rechten Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, kritisierten das Urteil als »überflüssig«, »irreführend« oder »grotesk«. Die Linke um den schleswig-holsteinischen Parteichef Ralf Stegner oder den SPD-Umweltexperten Hermann Scheer dagegen fand die Entscheidung »höchst berechtigt«.

Nicht mal über Verfahrensfragen konnten sich die Genossen noch einigen. Während der Altlinke Erhard Eppler erklärte, parteischädigendes Verhalten sei

schon immer entsprechend bestraft worden, fühlte sich der Bundestagsabgeordnete Reinhard Schultz an die »Praxis kommunistischer Kaderparteien« erinnert. SPD-Fraktionsmitglied Gunter Weißgerber kündigte an, er werde bei einem Rauswurf Clements ebenfalls die Partei verlassen.

Eigentlich war man sich in der SPD sicher gewesen, dass es schlimmer als im ersten Halbjahr 2008 nicht werden könne. Doch in der vergangenen Woche zeichneten sich, neben dem Wirbel um Clement, auch weitere Chaostage am hessischen Horizont ab. Trotz eindringlicher Warnungen der Parteispitze in Berlin scheint die dortige Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti fest entschlossen, sich nach dem stornierten ersten Versuch doch noch mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Spätestens dann wird der Flügelstreit eine neue Eskalationsstufe erreichen.

Es passte zusammen, dass der Ausschluss des Wolfgang Clement vorige Woche mit den Aktivitäten der Andrea Ypsilanti zusammenfiel. Nicht nur, dass Clements Parteiausschluss auf eine Aussage gegen Ypsilanti zurückgeht. Beide Vorgänge markieren zudem eine sozialdemokratische Zeitenwende: die Abkehr von der kurzen Reformepisode unter Gerhard Schröder und die Rückkehr ins Reich der Visionen - und Illusionen.

In beiden Fällen ging es um die Identität der Partei, um die Frage, wie zeitgemäß die SPD noch sein möchte. Ob sie sich auch künftig den Realitäten stellen und ernst genommen werden oder ob sie vor allem ihrer traditionellen Klientel gefallen möchte?

Die Antworten sind eindeutig.

Die Parteilinke wehrte sich heftig, als Gerhard Schröder ihr im Frühjahr des Jahres 2003 einen Mantel überwarf, den sie als Zwangsjacke empfand. Die Agenda 2010 war die notwendige Anpassung an das Zeitalter der Globalisierung, doch für die linken Genossen war sie eine Zumutung, ja, ein Angriff auf die Identität der Partei.

Sie beschlossen damals, es Schröder und seinen breitbeinigen Reformfreunden eines Tages heimzuzahlen. Jetzt, im Sommer des Jahres 2008, sieht es aus, als hätten sie ihr Ziel erreicht.

Wie die Freude darüber aussieht, konnte man vergangenen Donnerstag im Bochumer Stadtteil Hamme beobachten. Im Kleingartenverein Carolinenglück e. V. feierten fünf SPD-Linke ihren Sieg über Clement. Sie saßen auf einer bunten Hollywoodschaukel und blau-weiß gestreiften Gartenmöbeln, tranken Fiege-Pils aus der Flasche und verzehrten selbstgemachte Frikadellen und Fleischwurststücke aus der Hand.

Für sie ist Clement ein Verräter an den Idealen ihrer Partei. Deshalb haben sie das Verfahren gegen den ehemaligen Parteivize initiiert. »Das war für uns eine Frage der Selbstachtung«, sagt Vorstandsmitglied Martin Rockel und schwingt sanft auf seiner Schaukel.

Rockel und seine Freunde haben sie noch erlebt, die guten alten Zeiten der SPD im Ruhrgebiet, das in einem Anflug proletarischer Poetik irgendwann in »Herzkammer« umgetauft wurde. »Früher war die SPD noch für ihre Bürger da«, sagt Rudolf Malzahn, seit mehr als 20 Jahren Ortsvereinsvorsitzender. Er klingt wehmütig.

Clement habe die Gründung der Linken überhaupt erst möglich gemacht, sagt Malzahn. Er hätte der SPD Zehntausende Mitglieder geraubt und die Partei runtergewirtschaftet.

Wolfgang Clement war Gerhard Schröders Mann für die Agenda. Er sollte als Superminister die Hartz-Gesetze einführen, den Kern des Reformwerks. Die Linke hat dann so lange gegen ihn und die Agenda rebelliert, bis Schröder vorzeitige Neuwahlen einberief, die SPD diese verlor und mit Kurt Beck Stück für Stück unter dem Agendamantel hervorkroch. Der Ausschluss Clements ist für viele Parteilinke so etwas wie das krönende Ende dieses Prozesses.

Anders als bei den Herren auf der Hollywoodschaukel herrschte bei der SPD-Führung am Donnerstag Fassungslosigkeit über das Urteil. In einer Telefonschaltkonferenz musste man sich die eigene Machtlosigkeit eingestehen. Hoffnung verlieh allein der Gedanke, die Bundesschiedskommission könne das Urteil des Landesschiedsgerichts demnächst noch aufheben.

Das sozialdemokratische Schicksal Clements liegt nun in den Händen einer Genossin mit dem schönen Namen Hannelore Kohl. Frau Kohl ist die Vorsitzende der Bundesschiedskommission. Die 59-Jährige machte als Richterin in Hessen Karriere und wurde 1997 Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern.

Der Fall Clement ist nicht die erste kniffelige Entscheidung, die sie als Richterin zu treffen hat. Sie entschied beispielsweise schon über Fahrverbote für betrunkene Lkw-Fahrer und über die Frage, ob American-Staffordshire-Terrier nun gefährliche Hunde sind oder nicht. Sind sie, fand Kohl.

Andere Parteijuristen haben das Düsseldorfer Urteil über Clement inzwischen studiert und sind einigermaßen ratlos, wie der frühere Superminister doch noch in der SPD verbleiben könnte. »Juristisch sauber begründet, unheimlich schwer, das noch einmal zu drehen,« lautet die Meinung in der Düsseldorfer Parteizentrale.

Ende vergangener Woche entschied sich die SPD-Spitze, es mit moralischem Druck zu versuchen. Es war ein später Entschluss. Tagelang hatte Parteichef Beck zum Fall Clement geschwiegen. Ein Wink von oben, so hatten ihm seine Vertrauten geraten, könne die Parteirichter erst recht auf Krawallkurs bringen.

Schließlich machte die Parteiführung dann doch deutlich, welches Urteil sie sich wünscht. Bei dem Verfahren dürfe nicht nur »persönliches Verhalten«, es müsse »auch die politische Lebensleistung« berücksichtigt werden, sagte Beck. Auch Außenminister Steinmeier stellte sich demonstrativ hinter Clement. Der Mann, sagt der mögliche SPD-Kanzlerkandidat im SPIEGEL-Gespräch, sei ein »Querdenker« und kein »Querulant« (siehe Seite 20).

Helmut Schmidt hat die SPD einmal mit einer Möwe verglichen. Genau wie die Möwe habe die SPD zwei Flügel, einen rechten und einen linken, und genau wie die Möwe brauche sie beide Flügel, um voranzukommen. Es war der Versuch, das, was die SPD hemmt und lähmt, in einem positiven Bild zu versöhnen. Heute ist das Problem, dass die Flügel in verschiedene Republiken fliegen möchten.

Der Streit zwischen Ypsilanti und Clement hat einen Vorgeschmack gegeben. Die Linke in Hessen und der Reformer in der Toskana gehören zu den größten Extremen, die die SPD bislang versuchte, unter ihren Dach zu vereinen. Inzwischen ist die Sturheit das Einzige, was die beiden noch gemeinsam haben.

Für Ypsilanti ist Clement offensichtlich erledigt. Sie befindet sich in diesen Tagen auf einer Busreise durch Hessen, unter dem Motto »Gute Arbeit und mehr«, wobei das »mehr« offenbar für ihre gute Laune steht.

Sie geht durch den Bus und erzählt Geschichtchen aus ihrem Leben wie bei einer Kaffeefahrt: dass sie im Urlaub in Südfrankreich wegen der hohen Wellen kaum ins Meer konnte. Und dass sie gern putze. »Alles aus den Ecken kehren, das finde ich toll. Wenn dann das Zimmer blitzt.« Sie hat an einem sonnigen Sonntag die Kacheln im Bad geschrubbt, fix und fertig sei sie gewesen und habe sich gedacht: »Da musst du durch!«

Andrea Ypsilanti tut tatsächlich so, als gäbe es keinen Clement und keine bohrenden Fragen danach, ob sich die SPD-Fraktionsvorsitzende nun doch noch mit den Linken zur Ministerpräsidentin wählen lassen will. Das bestärkt all jene in Berlin, die längst der Überzeugung sind, Ypsilanti lebe inzwischen in ihrer eigenen Welt, völlig abgeschottet.

Viele Mitglieder der Parteiführung haben es immer wieder versucht, sie in Gesprächen davon zu überzeugen, die Finger von den Linken zu lassen. Parteichef Kurt Beck sprach mit ihr, Generalsekretär Hubertus Heil, auch Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier. Dass es etwas genützt hat, glauben sie nicht mehr.

Sie fragen sich, wie sie im Herbst einen Kanzlerkandidaten Steinmeier in den Bundestagswahlkampf schicken sollen, wenn Ypsilanti noch einmal vor die Wand rennt. Doch das andere Szenario wäre ihnen ebenso wenig willkommen. Würde Ypsilanti bei einer Abstimmung ihre knappe Mehrheit erhalten, könne man sich im Bundestagswahlkampf nicht mehr glaubwürdig von Lafontaines Leuten abgrenzen. Man habe den Eindruck, Ypsilanti habe den Überblick verloren, heißt es in der SPD-Spitze. Die freilich hatte ihn auch zwischenzeitlich verloren, denn Beck selbst war es gewesen, der kurz nach der Hessen-Wahl eine Tolerierung durch die Linkspartei akzeptieren wollte.

»Die Stimmung in der Partei ist, es noch einmal zu probieren, mit einer rot-grünen Minderheitsregierung«, sagte Ypsilanti auf ihrer Reise mit dem Bus. Sie spüre »nicht den Druck, aber ein Bedürfnis und einen Wunsch, dass wir möglichst umfassend einen Politikwechsel gestalten«.

Am Donnerstagnachmittag trifft der Tross bei der Firma Leica Microsystems in Wetzlar ein, und dort steht ein Kamerateam von Sat.1 und fragt Ypsilanti nach ihren Karriereplänen. Was den Landtag angehe, sagt sie, habe man ja nun in den vergangenen Monaten genug Zeit gehabt, die jetzige Konstellation zu testen. »Und man hat gesehen, dass es nicht geht, wenn man nicht an der Regierung ist.«

Ypsilanti steht mit dem Rücken zur Wand. Alte Hasen in der Hessen-SPD sagen, die Vorsitzende habe gar keine andere Möglichkeit, als jetzt den Weg mit der Duldung durch die Linken zu gehen. Denn bis Ende des Jahres soll im Landtag der Haushalt beraten werden, aufgestellt von der CDU. Das, prophezeien die Auguren, könne aufgrund der Mehrheitsverhältnisse nur im Chaos enden, und dann gebe es Neuwahlen.

Die aber würde Ypsilanti wohl haushoch verlieren. Hatte sie bei der Wahl im Januar noch 36,7 Prozent geholt, versprechen die Prognosen Anfang Juni gerade noch 27 Prozent. Dass sie nun versucht, mit einer hauchdünnen Mehrheit ans Ziel zu kommen, ist im Grunde ihre letzte Chance. Weil die sozialdemokratische Abgeordnete Dagmar Metzger bei ihrem Nein bleiben will, bedürfte es nur noch eines einzigen weiteren Abweichlers, und Ypsilanti stünde genauso dumm da wie einst Heide Simonis bei der Wahl zur Kieler Ministerpräsidentin.

In Berlin geht währenddessen das Gerücht um, dass es neben Metzger noch mindestens drei weitere Abtrünnige geben soll. »Ich kenne keinen davon«, beginnt und beendet Jürgen Walter, Ypsilantis Stellvertreter, jedes Gespräch zu diesem Thema. Parteiintern habe das ihm gegenüber noch niemand behauptet.

Rein rechnerisch könnte es vermutlich reichen, und selbst wenn es nicht reicht, glaubt kaum jemand, dass Ypsilanti auf ihren letzten Schuss verzichten wird.

So scheint sich in der vergangenen Woche ein sozialdemokratischer Kreis geschlossen zu haben. Wegen Clements Politik hatte sich vor einigen Jahren im Westen der Republik ein Teil der Sozialdemokratie abgespalten, sich kurz unter dem Namen WASG scheinselbständig gemacht, um schließlich mit den Sozialisten aus dem Osten zu einer neuen linken Partei zu verschmelzen. Andrea Ypsilanti will diese Spaltung in Hessen nun teilrückgängig machen, indem sie erneut den Pakt mit der Linken sucht.

Am Abend steht sie im Mathematikum in Gießen. Dort lässt sie sich vorführen, wie ein Ball auf einer langen gebogenen Bahn schneller zu Tal saust als auf einer kurzen Geraden. »Nicht immer führt der direkte Weg zum Ziel«, sagt die Museumsführerin. Ypsilanti nickt. Ein Mädchen will von seiner Mutter wissen, wer die Frau ist, die dauernd fotografiert wird. »Ich glaube, das ist die hessische Ministerpräsidentin«, sagt die Mutter.

MARKUS FELDENKIRCHEN, SIMONE KAISER,

CONNY NEUMANN, BARBARA SCHMID

* Auf dem Weg zur Anhörung im Parteiausschlussverfahren am 12. Juli in Düsseldorf.

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