Zur Ausgabe
Artikel 29 / 119

Formen und führen

aus DER SPIEGEL 46/1993

Gerhard Boeden, bis 1991 Chef des Verfassungsschutzes, hatte kurz vor seiner Pensionierung eine Idee. Damit sein Amt künftig auch organisierte Kriminelle bekämpfen dürfe, müsse nur der »Begriff Staatsschutz über den vom Verfassungsschutzgesetz gesteckten Rahmen hinaus« ausgedehnt werden - weil es »letztendlich um den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat« gehe, immer und überall.

Erstes Spähopfer in Sachen Organisierte Kriminalität sollte die Scientology Church (SC) sein - obwohl der multinationale Seelenfänger-Konzern kein politisches Programm hat und sich auch nicht als außerparlamentarische Opposition versteht.

Im Juni 1992 beauftragte das Bonner Innenministerium den Geheimdienst mit der Prüfung, ob die SC verfassungsfeindlich sei.

Die Scientologen, fand der Dienst zu Recht heraus, seien »Kapitalisten reinsten Wassers« und könnten »weder links noch rechts eingeordnet werden«. Es sei »fraglich, ob sich die Zielsetzung der SC und ihre Aktivitäten als politische Verhaltensweise bzw. Bestrebungen werten lassen«. Die SC strebe zwar »nach Macht und Einfluß«, beteilige sich aber »weder direkt noch indirekt an Wahlen«. Sie richte sich »ausschließlich an oder gegen Individuen«.

Damit war bewiesen, daß der Verfassungsschutz die falsche Adresse für die obskure Organisation ist. Die Geheimdienstler fanden dennoch einen Dreh, um zuständig zu sein.

Die SC, stellten sie in ihrem Gutachten fest, wolle »den Menschen allumfassend formen und führen«. Weil Scientologen ihre Arbeit auch im politischen Leben »allein im Sinne der SC« ausrichteten, sei die Zielsetzung der SC »sogar im erheblichen Maße eine politische«. Mithin bestünden »tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht, daß die SC verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt«, die Voraussetzungen für eine Beobachtung durch den Geheimdienst seien »erfüllt«.

Das Gutachten hatte nichts Neues über den totalitär geführten Verein erbracht - aber dem Geheimdienst ein mögliches Objekt der Beobachtung zugeführt.

Ihre Erkenntnisse bewerteten die Geheimdienstler als so bedeutend, daß sie das Gutachten als »VS-vertraulich« und »amtlich geheimgehalten« einstuften.

Das macht Sinn. Womöglich wäre sonst bekanntgeworden, auf welcher Grundlage die Analyse erarbeitet wurde. »Als besonders informativ«, teilten die Verfassungsschützer ihrem Innenminister vertraulich mit, habe sich »der kürzlich erschienene Sammelband ,Mission mit allen Mitteln'«, ein Rowohlt-Taschenbuch, erwiesen.

Die Verfassungsschützer hatten sorgfältig das Aufklärungsbuch über die Scientologen exzerpiert und für ihr Gutachten ausgeschlachtet.

Zur Ausgabe
Artikel 29 / 119
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren