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LÖHNE Fortschritt revidiert

aus DER SPIEGEL 16/1965

Generaldirektor Klopfer, SED-Mitglied und Chef der Vereinigten Volkseigenen Betriebe (VVB) Schwermaschinenbau, eröffnete Reportern aus Ost und West einen Blick in sein Portemonnaie: »1964 war mein Gehalt höher als im Vorjahr. Das habe ich ganz schön gespürt. Ich werde dafür sorgen, daß das System der leistungsabhängigen Gehälter weiter ausgebaut wird.«

Der Generaldirektor, der auf der Frühjahrsmesse im Musiksaal des Leipziger Sportforums vor 150 Journalisten über das »neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in der DDR« referierte, hatte offensichtlich, wie die meisten selbstbewußten jungen Manager der DDR-Wirtschaft, wieder einmal das Zentralorgan seiner Partei »Neues Deutschland« nicht gelesen.

Denn schon 15 Tage zuvor, in der Ausgabe vom 18. Februar, hatte »Neues Deutschland« eine Verfügung des DDR -Ministerrats veröffentlicht, die den Beschluß des Zentralkomitees der SED vom 5. Dezember über die Einführung leistungsabhängiger Löhne parteioffiziell revidierte.

Diesen Beschluß hatte Politbüromitglied Alfred Neumann noch im Dezember vor dem 7. Plenum des Zentralkomitees mit Pathos als Fortschritt auf dem Wege zu effektiver Ökonomie gefeiert: Alle 250 000 Betriebsfunktionäre der wichtigsten Schlüsselindustrien, vom Generaldirektor bis hinunter zum Meister, sollten durch das System leistungsabhängiger Gehälter zu größerem Fleiß und Verantwortungsbewußtsein angespornt werden.

Doch die Führungskräfte erkannten den parteiverordneten Fortschritt nicht. Sie meuterten. Viele von ihnen stellten ihre Posten zur Verfügung, denn sie fühlten sich dort getroffen, wo auch ideologisch gefestigte Kommunisten keinen Spaß verstehen - am Geldbeutel.

So mußte ein altgedienter Meister, der bis Dezember monatlich 900 Mark brutto in der Lohntüte hatte, von Januar 1965 an mit einem Mindestlohn von nur 720 Mark brutto rechnen, wenn er mit seinen Arbeitsbrigaden den Plan seines Bereichs nicht zu erfüllen vermochte. Der 20prozentige Lohnabzug konnte ihn zudem völlig unverdient treffen: Selbst wenn er seine Arbeiter gut in Schwung hatte, vermochte die kleinste Schlamperei eines Zulieferbetriebes den Produktionsertrag und damit seinen Lohntüten-Inhalt zu dezimieren.

Endlose Querelen und persönliche Feindschaften zwischen den Meistern waren die Folge. Nur wenige erreichten das optimistische Ziel der Partei - 20 Prozent Lohnzuschlag bei Planerfüllung.

Besser gestellt waren innerhalb dieses neuen Lohnsystems die Abteilungsleiter (Durchschnittssalär: 1200 Mark). Ihre Gehälter wurden nach der durchschnittlichen Planerfüllung aller ihnen unterstellten Meisterbereiche errechnet. Meister, die ihren Plan übererfüllen konnten, halfen damit nicht ihren unverdient benachteiligten Kollegen, sondern glichen das Gehaltskürzungsrisiko des Abteilungsleiters aus. Das Betriebsklima verschlechterte sich zusehends.

Direktoren und Generaldirektoren wie Schwermaschinen-Klopfer fuhren mit dem neuen System noch am besten. Da ihre Gehaltshöhe sich nach der durchschnittlichen Leistung aller Abteilungen ihres Betriebes richtete, war das Risiko, das Gesamt-Plansoll nicht zu erfüllen, verhältnismäßig gering. Zudem verhalf ihnen (die je nach Betriebsgröße 2000 bis 4000 Mark verdienen) der auf den unteren Chargen der Betriebsfunktionäre lastende Druck zu fetten Tantiemen in Höhe bis zu 30 Prozent ihres Gehaltes.

Selbst wenn in ihrem Betrieb größere Pannen vorkamen und sie in einem Monat mit einem Gehaltsabzug von 30 Prozent bestraft wurden, war der Verlust zwar bitter, aber nicht unerträglich.

Um den Betriebsfrieden wiederherzustellen, hat der DDR-Ministerrat nun die Revision des Fortschritts beschlossen: Das neue Lohnsystem soll erst in Kraft treten, wenn die Industriefunktionäre sich selbst zu der Neuregelung bereit finden. Die Betriebsdirektoren sollen unterdessen jedem Abteilungsleiter und Meister »die neue Gehaltsform persönlich nahebringen und ihn von den Vorzügen dieses Gehaltes überzeugen, um sein Einverständnis zu erreichen«.

Für Einsichtige hat die Regierung Belohnungen in Aussicht gestellt: Wer sich breitschlagen läßt, soll in Zukunft bei Nichterfüllung seines Plans nicht mehr mit 20, sondern nur noch mit zehn Prozent seines Gehalts büßen.

SED-Funktionär Neumann

Werktätige ernüchtert

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