SPD/NIEDERSACHSEN Forum für morgen
Einen »harten Schlauch«, wie er es nennt, hat der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Gerhard Schröder hinter sich. Ein halbes Jahr ist er durch Niedersachsen gezogen und hat es in den jeweils zwei sitzungsfreien Wochen, die einem Bonner Parlamentarier monatlich bleiben, auf nicht weniger als 98 Veranstaltungen gebracht - bei Ortsvereinen und Unterbezirken seiner Partei, damit die Genossen halbwegs wissen, mit wem sie es künftig zu tun haben werden.
Den vorerst letzten Termin, dem all die Mühe gegolten hat, muß Schröder, 40, Rechtsanwalt in Hannover, kommendes Wochenende in Osnabrück wahrnehmen. Ein ordentlicher SPD-Landesparteitag dort soll ihn, den früheren Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten, zum Spitzenkandidaten der niedersächsischen Sozialdemokraten wählen, der in knapp zwei Jahren zur Landtagswahl gegen CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht anzutreten hat.
Daß er, Gerhard Schröder, dem der SPD-Professor Peter von Oertzen bescheinigt, er sei »ein linker Sozialdemokrat mit Sinn für Taktik«, als Favorit in Osnabrück antritt, hat er noch vor kurzem selber nicht geglaubt. Unversehens aber hat sich, auch durch Finesse und Raffinesse des Taktikers Schröder, eine Situation ergeben, in der allein er nach eigener Meinung und der von immer mehr Genossen »'ne wirklich demokratische Alternative« zu Albrecht bietet.
Ein abermals sozialdemokratisches Niedersachsen, wie es bis 1976 war, ein Sieg über Ernst Albrecht also - nur der Gedanke daran schien Sozialdemokraten lange Zeit absurd.
Doch wie die Dinge derzeit laufen, sieht es nicht schlecht für den Herausforderer aus. Bei der Europa-Wahl bekam Albrechts CDU nur noch 43 Prozent der Stimmen, die Sozialdemokraten erreichten 40,5, die Grünen 8,2, und die FDP blieb mit 4,9 Prozent unter dem Minimum - hessische Verhältnisse, die Schröder sich für die Landtagswahl in zwei Jahren zwar nicht wünscht, »aber ausschließen kann ich sie nicht«.
Land ist jedenfalls in Sicht. »Es gibt in Niedersachsen eine Mehrheit jenseits der CDU«, und die gilt es zu verbreitern. Nun plötzlich kommt Schröder daher und erklärt ohne Respekt, der ihm auch sonst abgeht, daß die CDU in Niedersachsen trotz Albrecht bis heute »keine strukturelle Mehrheit« besitzt und daß Niedersachsen kein Land ist, »in dem das so sein muß« wie jetzt noch.
Acht Jahre lang allerdings war es so, seit jenem Februar 1976, als der sozialdemokratische
Ministerpräsident Alfred Kubel nach halber Amtszeit die Regierung abgab und Nachfolger auf dubiose Weise kein SPD-Kandidat wurde, sondern mit Hilfe von Stimmen des SPD-Partners FDP Ernst Albrecht, der damals noch »Ernstchen« gerufen wurde.
Die niedersächsische Wende wußte selbst der damalige Bundesbauminister Karl Ravens nicht zu verhindern, der aus Bonn nach Hannover beordert wurde und statt zum Regierungs- zum Oppositionschef avancierte. Und wann immer danach Ravens gegen Albrecht antrat, gab es eine neue Schlappe. Am Ende, bei der vorigen Landtagswahl, kam die SPD mit Ravens nur noch auf 36,5 Prozent der Stimmen, 50,7 schaffte die CDU mit Albrecht. Karl Ravens sah schließlich keinen Ausweg mehr: »Wenn es nach meinen Wünschen ginge«, befand er, sollte 1986 ein anderer sein Glück versuchen.
Wenigstens dieser Wunsch ging in Erfüllung, und zwar schneller, als er und sein Landesvorstand geplant hatten. Die Funktionäre aus den vier niedersächsischen SPD-Bezirken wollten mit der Benennung eines frischen Spitzenkandidaten nicht nur bis knapp vor der nächsten Landtagswahl warten, sie hatten überdies vor, dabei »auch auf die Bonner Schiene zu gucken«, so Ravens, wo vielleicht ein Minister außer Diensten bewegt werden konnte, sich nach Hannover zu bewegen.
Statt dessen bekam die Ravens-Truppe einen »Schlag in die Fresse«, wie Landesvorstandsmitglied Hermann Oetting aus Braunschweig empfand: Gerhard Schröder, inzwischen als Nachfolger seines Ziehvaters von Oertzen zum Vorsitzenden des starken SPD-Bezirks Hannover gewählt, benannte sich flugs selbst. Denn: »Als dritter oder vierter genannt zu werden, das ist nie gut.«
Nach der Devise: »Wenn ich was wollte, habe ich das immer gesagt«, ließ Schröder sich in einem Interview Ende Oktober vergangenen Jahres fragen, ob er nach seiner Wahl zum Bezirkschef nun auch Spitzenkandidat der Partei werden wolle. Schröder: »Wer das werden will, der braucht viel Mut und die Bereitschaft zu arbeiten. Beides ist bei mir vorhanden.« Und: »Auf gar keinen Fall« werde er sich »nicht bewerben«.
Die alte Funktionärsriege erwies sich als zu unbeweglich, die kühl berechnete Attacke zu parieren. Dem Landesvorsitzenden Ravens fiel vor Schreck nur ein, er sei »verletzt« und »noch mehr betroffen«.
Zu einem Gegenzug war als erster der sozialdemokratische Landtagsvizepräsident Helmuth Bosse, 55, verdienter Landrat aus Schöppenstedt, imstande. Da er durch Schröder »die Regeln verletzt« sah, nach denen Kandidaturen hinter verschlossenen Türen zu diskutieren sind, suspendierte er die Regeln auch für sich und meldete sich gleichfalls als Spitzenaspirant.
In der Adventszeit hatte dann auch der Landesvorstand seine Erleuchtung. Mit knapper Mehrheit richtete er an die Genossin Anke Fuchs, im Kabinett Schmidt Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, die Aufforderung, sich nun auch noch zu bewerben.
Angespornt von Karl Ravens und dem früheren Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg aus dem niedersächsischen SPD-Bezirk Weser-Ems, die ihr einflüsterten, Schröder leicht aus dem Feld schlagen zu können, sagte die Bonner Politikerin zu.
Doch allzubald zeigte sich, daß Anke Fuchs, 46, tatsächlich nur eine »Notlösung zur Verhinderung von Schröder« war, wie Schröder-Freunde gleich vermutet hatten, und daß auch zutraf, was Kandidat Schröder von der Gegenkandidatur hielt: »Die Leute haben doch die Schnauze voll von der Bonner Kinderlandverschickung.«
Obwohl spürbar wurde, daß die Bonner Konkurrentin, die zuweilen von Wiederaufarbeitung in »Dragau« statt in Dragahn redete, mit Niedersachsen nicht viel mehr verknüpfte als ihre Zweitwohnung in Wilhelmshaven, tat die gebürtige Hamburgerin so, als sei das Rennen für sie bereits gelaufen: »Ich halte mich schon für die Beste«, bekannte sie und plante: »Vielleicht wird Schröder einer meiner Minister.«
Die Genossen im Land sahen das anders. Auf dem Weg, eine Mehrheit der 221 Delegierten des Kandidaten-Parteitags Anfang Juli zusammenzubringen, kam Anke Fuchs ausgerechnet im Bezirk Weser-Ems ins Stolpern, von dem sie eine »eindeutige Mehrheit« für sich fest eingeplant hatte: Von den siebzig Mitgliedern des Bezirksausschusses stimmten nur 38 für sie, 31 für Schröder.
Damit war an einen Fuchs-Erfolg auf dem Landesparteitag nicht mehr zu denken, wo der Schröder-Bezirk Hannover allein 96 Delegierte stellt. Enttäuscht gab Anke Fuchs auf, und auch Karl Ravens fand: »Es hat nun keinen Zweck mehr für sie.«
Die Kapitulation war schon lange vorher besiegelt worden, und zwar durch heimliche Absprache zweier Genossen, die sonst nicht viel gemeinsam haben. Gerhard Schröder traf sich eines Mittags im Hauptbahnhof von Oldenburg mit Johann ("Joke") Bruns aus Emden, dem Paradepferd der Partei-Rechten und, wie nicht nur Schröder meint, »stärkster Mann in der Landtagsfraktion und der intelligenteste auch«.
Bruns, 52, bis dahin Fuchs-Mann, hatte, so Schröder, »gerechnet und gerechnet« und war zu dem Ergebnis gekommen, »mit den Delegierten wird das
wohl nichts«. Und weil der Ostfriese fürchtete, daß ein Spitzenkandidat Schröder auch gleich noch Landesvorsitzender werden wolle, bot er ein Agreement an: »Wenn du zustimmst«, so Bruns, »kandidiere ich als Landesvorsitzender.« Umgekehrt werde er sich nun für Schröder einsetzen.
Seither gibt es in Niedersachsen, so sieht Schröder das, keine Linken und keine Rechten mehr, sondern nur noch Sozialdemokraten: »Das Bündnis mit Johann Bruns ist eines, in dem sich in diesen beiden Personen die ganze Partei wiedererkennen kann.«
So hat er es schon immer gern gewollt. Rechte Sozialdemokraten existieren für ihn ohnehin nicht, »das ist ein Widerspruch in sich«, und Marxisten wie er kämpfen »innerhalb der SPD für deren Veränderung, aber auch für deren Einheit«. Dies sind für Schröder »alles keine neuen Positionen in der Geschichte der Arbeiterbewegung«, sondern einfach nur Auseinandersetzungen »um den richtigen Weg zum gemeinsamen Ziel«.
Er sehnt sich nach den uralten Zeiten, als die Partei mehr war als heute, »'ne soziale Institution« nämlich. Das hat er zu Haus im Lippischen kennengelernt, in Mossenberg bei Detmold, wo der Vater, im Krieg gefallen, mal Hilfsarbeiter auf der Kirmes war, und die Mutter, acht Kinder, auch »keine geborene von Soundso, sondern eine geborene Sozialdemokratin«.
Da war nicht mehr drin als acht Jahre Volksschule und eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in einem Gemischtwarenladen, und so ist die schönste Erinnerung die an seinen Fußballverein TUS Talle, in dem er Mittelstürmer spielte und die Flanken des Linksaußen »eiskalt verwandelte« - Marx hieß der Flügelmann, natürlich.
Politisch wurde ihm Marx ein Begriff, als er mit einem Freund, der Theologie studierte, nach Göttingen zog, erst die Mittlere Reife, dann das Abitur nachholte, mit dem Jura-Studium begann und in die SPD eintrat: »Je mehr ich von Politik erfuhr«, weiß er noch, »desto prononcierter wurde meine linke Position.«
Schon bald saß Schröder im Vorstand der Göttinger Jungsozialisten. 1971, als er sein erstes Examen machte, wurde er als Nachfolger des heutigen hannoverschen Oberbürgermeisters Herbert Schmalstieg zum Juso-Chef im SPD-Bezirk Hannover gewählt, 1978 zum Juso-Bundesvorsitzenden. Egon Bahr vom Parteivorstand damals: »Es wird Schwierigkeiten geben.« Gerhard Schröder: »Das sehe ich auch so.«
Es gab aber keine, vor allem weil Schröder seine Linie hielt, nicht gegen Personen anzugehen, sondern nur gegen »falsche politische Inhalte«. Dabei will er auch bleiben, wenn es nun gegen Ernst Albrecht geht, der für ihn »kein Grinsemann und kein Keksonkel« ist, sondern »einer der kältesten, aber auch intelligentesten CDU-Politiker« - mindestens was das angeht, hat Schröder gleichfalls Albrecht-Format.
Vom 8. Juli an, dem Tag nach Osnabrück, will er mit »permanentem Wahlkampf« beginnen, seine Arbeit als Bonner Abgeordneter reduzieren und sich, wo immer er Gelegenheit sieht, mit der niedersächsischen Albrecht-Regierung »auseinandersetzen«, was bei ihm, der deftig zu formulieren weiß, gewiß bedeutet: Er wird sich gehörig anlegen mit ihr.
Es soll aber trotzdem »keine High-Noon-Auseinandersetzung« werden, sondern »mit einem Team, klein und schlagkräftig«, ein Dauerdisput über Arbeit, Umwelt und Bildung, vor allem über »die Grundlagen der politischen Kultur« und darüber, »was Albrecht an höheren Werten so vor sich herträgt« - »die heile Welt«, die der Regierungschef nebst Gattin Dr. Heidi-Adele und sechs Kindern mit pittoresken Laienspielen, innigen Rezitationen und familiärem Gesang privat aufzuführen pflegt, ein »sinnerfülltes Leben«, so Albrecht, das »Schöne, Wahre und Gute«, das er auch außer Haus proklamiert.
Von der Politik der Albrecht-Regierung, wie sich das niedersächsische Kabinett offiziell nennt, geht weniger Harmonie aus. »Die Unfähigkeit der CDU, eine Antwort auf die Krise zu finden«, soll Schröders einziger Verbündeter sein. Und um das im Lande klarzumachen, ist der hemdsärmelige Kandidat auch schon »toll gewandet mit Blazer und Krawatte« vor eine Versammlung junger Unternehmer getreten und hatte den Eindruck: »Die sind natürlich für Albrecht, sagen aber: Wenn der es wird, ist es auch keine Katastrophe.«
»Ruhig und sicher« will der einst oft rabiate Schröder in die Auseinandersetzung mit Albrecht ziehen. Häuslich ist er unterdes geworden und einem privaten Leben zugetan, in dem die feinere Küche nicht fehlen darf. Auf dem Lande bei Lehrte lebt er mit Frau Hiltrud, die er vor drei Wochen geheiratet hat, zwei Kindern, die sie in die Ehe mitbrachte, sowie zwei Neufundländern, und denkt teils gelassen, teils optimistisch an den Wahltag, an dem die Chancen gar nicht mehr so schlecht stehen.
»Die Leute«, hat er festgestellt, »kommen wieder aus ihren Ecken« und sagen, nachdem sie ihm zugehört haben: »Mensch, diese SPD ist das Forum, wo auch für morgen nachgedacht wird.«
Manchmal ist Gerhard Schröder dann schon so weit, daß er überlegt: »Ich werd' mir wohl 'n Smoking kaufen, vorsichtshalber.«