GESELLSCHAFT / ELITE Fragen an Uschi
Wer was zu sagen hat in Deutschland, ist Mann, evangelisch, verheiratet, Vater zweier Kinder, über 50, entstammt einer liberalen mittelständischen Großstadtfamilie und sitzt im Büro.
Zog er mit Hitlers Wehrmacht in den Krieg, dann als Unter- oder Offizier, bezog er eine Universität, studierte er die Rechte.
Er hält sich für tüchtig und kreativ, verdient im Jahr mehr als 50 000 Mark, nennt die SPD »eher demokratisch«, bevorzugt aber die CDU/CSU. Er ist für Opposition wie Kompromiß, geht nur selten in die Kirche und treibt in seiner Freizeit Sport.
Die Macht der Springer-Presse ist ihm suspekt. Er liest die »FAZ«, die »Zeit«, den SPIEGEL und fühlt sich gleichwohl politisch nicht umfassend unterrichtet.
Das etwa ist, umrißhaft, das Porträt des gehobenen Durchschnitts-Deutschen -- ein Homunculus statisticus, dessen Daten der Mannheimer Politologe Professor Rudolf Wildenmann letztes Jahr per Umfrage bei Mitgliedern der oberen Zweitausend in der Bundesrepublik ermittelte.
Unter der Leitung des Assistenten Uwe Schleth vom Wildenmann-Lehrstuhl für Politische Wissenschaften der Mannheimer Universität selektierten Jung-Politologen des Instituts für Sozialwissenschaften aus Deutschlands High-Society die 1400 »Inhaber der formal höchsten Positionen« (Schleth) in Politik, Wirtschaft und Publizistik, in Kirchen, Universitäten und Verbänden. Und diese Auslese bat das Mannheimer Team mit Hilfe des Münchner Meinungsforschungsinstituts Infratest um Auskunft über Herkommen wie Einkommen, politische Ansichten wie Hobbys, Moral wie Religiosität, Lektüre wie beruflichen Aufstieg.
600 Führungskräfte reagierten nicht oder verweigerten die Aussage, unter ihnen fast alle Mitglieder des katholischen Klerus. Die restlichen 800 standen -- durchschnittlich 95 Minuten lang -- Rede und Antwort.
Den Interview-Extrakt fütterten die Mannheimer Sozialforscher in den IBM-Computer 7094 des Deutschen Rechenzentrums Darmstadt. Dann ordneten sie das Resultat der Roboter-Rechnung (rund 100 000 Einzeloperationen) tabellarisch zur 200-Blatt-Studie »Eliten in der Bundesrepublik"**.
Wildenmanns noch unveröffentlichte Statistik ist der erste Versuch akademischer Elite-Forscher, per demoskopischer Umfrage Denken und Trachten, Meinungen und Urteile der deutschen Machtträger zu ermitteln.
Freilich, eine exakte, bis ins Detail genaue Reproduktion des Meinungsbildes deutscher Führungskräfte brachten die Mannheimer Politologen nicht zustande. Denn ihre Inverview-Partner repräsentierten weder den deutschen Elite-Querschnitt noch in
* Trauergäste bei der Beerdigung des VW-Chefs Heinz Nordhoff.
** Rudolf Wildenmann: »Eliten in der Bundesrepublik -- Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Einstellungen führender Positionsträger zur Politik und Demokratie«. Mannheim.
jedem Falle das Meinungs-Niveau einzelner Elite-Sektoren. So verzichtete die Schleth-Mannschaft darauf, etwa die Bundeswehrführung, die Spitzen der Justiz, die Kulturprominenz und die Bundesregierung samt Staatssekretären zu befragen, obschon diese Gruppen nach der Lehrmeinung zur Führungsschicht zählen.
Die Einvernahme der Bonner Minister und Staatssekretäre schien den Wildenmann-Schülern wenig sinnvoll, da, so ihr Lehrer, »Abweichungen zur offiziellen Regierungspolitik an wichtigen Stellen des Interviews nicht erwartet werden konnten«. Als weitere Verzichtsgründe nannte der Ordinarius »finanzielle Beschränkungen« und Mangel an »eindeutigen Auswahlkriterien«.
Ursprünglich darauf aus, eine »Gesamterhebung vorzunehmen« (Schleth), gaben sich die Mannheimer nach der Absage von 600 Interviews mit einem Zufallsresultat zufrieden: Die Möglichkeit, wenigstens aus dem Rest eine für alle 1400 Auserwählten repräsentative Stellvertreter-Elite zu destillieren, blieb ungenutzt.
Konsequenz: Wirtschaftsbosse zum Beispiel sind in Schleths Funktionärs-Gruppe mit 217 Testpersonen, Journalisten mit 120 Interview-Partnern erheblich überrepräsentiert; Professoren (39) und evangelische Kirchenführer (14) dagegen kaum vertreten.
Offen bleibt zudem, ob etwa die Altersstruktur oder das religiöse Bekenntnis der Befragten (57 Prozent Protestanten, 26 Prozent Katholiken), ihre Herkunft oder ihre Bildungswege dem Elite-Standard entsprechen.
Gleichwohl bietet der statistische Extrakt der 800 Selbstbekenntnisse aufschlußreiche Informationen über das Meinungsprofil« die politischen und moralischen Urteile deutscher Führungsgruppen.
Elite, das waren nach »Meyer's Conversationslexicon für die gebildeten Stände« von 1846 wie für »Meyers Konversations-Lexikon« von 1908 ebenso wie nach Wilhelm Liebknechts »Volksfremdwörterbuch« von 1890 ganz allein »die Besten«, »die Vornehmsten«, »die oberen Zehntausend«, »die feinste Gesellschaft«. Das waren Kraut-Junker und Schlot-Barone, Geheim- wie Kommerzienräte, Epauletten-Träger und Korps-Studenten; kurz Herren von Stande. Thomas Mann: »General Dr. von Staat«.
Das Elite-Prädikat war für Meyers Autoren so exklusiv, daß sie es äußerstenfalls noch römischen Prätorianern und K.u.k.-Kaiserjägern oder aber denjenigen »Individuen« verliehen, »die dem Züchtungsziel am besten« entsprachen -- etwa Herden von »Elite«-Hammeln.
Diese Wilhelminisch-verklärte Elite-Vorstellung des 19. Jahrhunderts geistert noch heute durch Standardwerke der Soziologie. Im »Handwörterbuch der Sozialwissenschaften« von 1961 etwa heißt es: »Den Angehörigen der Elite kennzeichnet eine entschiedene Bejahung seiner Freiheit, seiner Überlegenheit, seiner Sittlichkeit«, und: »Das Werden der Elite bleibt geheimnisvoll.«
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg lösten sich die deutschen Sozialwissenschaftler mehr und mehr von der traditionellen Definition. Und heute herrscht unter den deutschen Elite-Forschern vom Berliner Otto Stammer über den Konstanzer Half Dahrendorf bis zum Frankfurter Wolfgang Zapf weithin Einverständnis. Sie begreifen als Elite nicht »die Besten«, zur Führung berufene Individuen von hoher Bildung, erlesenem Geschmack und erhabener Gesittung, sondern, ganz wertfrei: Herrschaftsgruppen in Staat und Gesellschaft. Otto Stammer: »Funktions-Eliten ... deren Bestand, Zusammensetzung, Auswahl und Ergänzung von der Stellung und Funktion abhängig sind, welche die einzelnen Führungsgremien im politischen Wirkungszusammenhang innehaben«.
Erste Aufschlüsse über den Charakter dieser Funktions-Eliten im Deutschland der letzten 70 Jahre -- Anhaltspunkte über Aufstiegschancen ("Vertikale Mobilität") wie Karrieretypen, über Offenheit wie Geschlossenheit der herrschenden Schichten -- gewannen die Sozialforscher zunächst aus der Analyse objektiver Daten. Sie untersuchten die soziale Herkunft, die Bildungswege und Karriereverläufe deutscher Elite-Menschen, Ihr Ergebnis: Das Sozialprofil deutscher Führungsgruppen hat sich über drei Systeme hin immer nur in einem Bereich entscheidend verändert -- in der politischen Führung:
* Ralf Dahrendorf: »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«. Verlag Piper. München; 516 Seiten; 16,80 Mark.
* 1918 verdrängten Bürger und Proletarier den Adel aus den Schlüsselpositionen;
* 1933 usurpierten die Nazi-»Plebejer« (so der amerikanische Elitologe Daniel Lerner) die Staatsmacht;
* 1945 kehrten die 1933 Verdrängten -- freilich nicht alle -- in die politischen Spitzenpositionen -- freilich nicht in alle -- zurück. Andere Elite-Gruppen der Bundesrepublik blieben vom Wechsel der Systeme weithin verschont.
Half Dahrendorf: »Während die politische Elite sich ... nicht unerheblich gewandelt hat, gilt dies für die administrative und wirtschaftliche Elite, vor allem für die höchsten Juristen, die Generalität und führende Unternehmer, kaum*.« So waren 1955, wie der amerikanische Sozio-Historiker Lewis Edinger ermittelte, noch immer 30 Prozent der Wirtschaftsführer, 50 Prozent der Spitzenbürokraten und 100 Prozent der Generale in gleichen Positionen wie in der NS-Zeit.
Auch die »sozialen Muttergruppen« (Otto Stammer) deutscher Eliten blieben, mit Ausnahme des professionell-politischen Bereichs, über Kriege und politische Umbrüche hinweg dieselben. Der Funktions-Adel rekrutierte seinen Nachwuchs nach Berechnungen des Tübingers Wolfgang Zapf zwischen 1925 und 1955 zu höchstens zehn Prozent aus der Unterschicht. Und diese Aufsteiger machten Karriere fast ausschließlich in den Führungszirkeln der Parteien un.d Gewerkschaften.
Alle anderen Spitzengruppen, so konstatierte Ralf Dahrendorf, bevorzugen Nachwuchs aus der Mittelschicht und weisen »ein außerordentliches Maß an Selbstrekrutierung auf«.
Ob freilich auch das Weltbild deutscher Elite-Funktionäre konstant geblieben ist, konnten die Elitologen mit ihren herkömmlichen, weitgehend sozialstatistischen Methoden bisher nicht ausmachen. Erst der demoskopische Befund des Mannheimer Wildenmann-Instituts eröffnet die Möglichkeit, wenigstens einige Thesen der Elite-Soziologie auf ihre Relevanz zu überprüfen.
So folgert etwa Ralf Dahrendorf aus der unterschiedlichen Herkunft und Funktion deutscher Einfluß-Prominenter, daß sich die Elite der Bundesrepublik außer »Fachsimpelei« nichts mitzuteilen habe. Dahrendorf: »Die Spitzen der deutschen Gesellschaft sind sich im Grunde fremd.«
Wildenmanns Studie bestätigt den Konstanzer Professor. Die Testobjekte der Mannheimer Elite-Forscher kommen in der Tat aus allen Gesellschaftsschichten. Sie stammen aus alion Gauen. Gemeinden aller Größen
* 1906 bei der Hochzeit des Prinzen Eitel Friedrich von Preußen; rechts hinten: Kaiser Wilhelm II.
und haben unterschiedliche Schulbildung:
* 61 Prozent entstammen nach eigener Angabe der Mittelschicht, jeweils 18 Prozent der Unter- oder Oberschicht. Sieben Prozent kommen aus Arbeiterfamilien.
* 53 Prozent sind Großstädter, 16 Prozent vom Dorf. 37 Prozent wuchsen in Klein- und Mittelstädten auf. Jeweils etwa ein Drittel der Befragten wurde im Süden, im Norden- oder Nordwesten und in den ostelbischen Gebieten Deutschlands geboren.
* 58 Prozent haben ein Universitäts-Examen bestanden, allein 26 Prozent in der juristischen Fakultät. Vier Prozent besuchten nur die Volksschule und insgesamt 19 Prozent blieben ohne Abitur.
Freilich: Träfen sich Positionsträger beliebiger gesellschaftlicher Machtzentren zu einem staatsbürgerlichen Kolloquium, käme -- der sozialen Vielfalt zum Trotz -- eine weitgehende Identität der Bekenntnisse zu den Standard-Werten der westdeutschen Gesellschaft zutage. Denn verglichen mit der Dahrendorfschen Schreibtisch-Vermutung von der Fremdheit des deutschen Funktions-Adels, enthüllt die Wildenmann-Umfrage eine überraschende Meinungs-Konformität der republikanischen Oligarchen.
Die Bildung der Großen Koalition im Jahre 1966 zum Beispiel halten 82 Prozent der Befragten für gerechtfertigt. Sie sind übereinstimmend der Meinung, die Kiesinger-Brandt-Regierung habe mehr geleistet als das letzte Adenauer-Kabinett oder Ludwig Erhards Mannschaft: 77 Prozent gaben der Großen Koalition, 61 Prozent der Regierung Adenauer Pluspunkte. Die Erhard-Administration hingegen er-
* Reichspräsident Friedrich Ebert (r.) und Reichskriegsminister Gustav Noske 1919 als Titelfiguren.
hielt von 67 Prozent der Befragten Minuspunkte.
Die Interviewten glauben zudem, eine schwarz-rote Koalition würde auch künftig alle außen- wie innen-politischen Aufgaben besser lösen als jede andere Parlamentsmehrheit. Aber dennoch halten 65 Prozent -- ob Gewerkschaftler oder Manager, ob Professor oder Politiker die Fortsetzung der Grollen Koalition über 1969 hinaus durchweg für schädlich -- des demokratischen Prinzips zuliebe.
Ferner: Daß sich die politischen wie gesellschaftlichen Systeme der Sowjet-Union und der westlichen Demokratien in der Zukunft einander annähern werden, ist der Mehrheit des Wildenmann-Establishment (63 Prozent) ebenso selbstverständlich wie die Erkenntnis, daß soziale Konflikte den Fortschritt der modernen Gesellschaft bewirken (71 Prozent).
73 Prozent halten eine starke Oppositionspartei für unbedingt notwendig. 58 Prozent sind für ein Zweiparteiensystem, 76 Prozent glauben an den Einzug der NPD in den nächsten Bundestag. Für 67 Prozent steht fest, daß in der Bundesrepublik »die Chancen und Möglichkeiten, im Leben zu etwas zu kommen«, gerecht verteilt sind.
Und einig sind sich die Befragten sogar im Widerspruch. Zwar verlangen 82 Prozent »möglichst grollen Einfluß« der Bevölkerung auf die »personelle Zusammensetzung und das Programm der Regierung«. Dennoch postuliert eine Mehrheit (52 Prozent) im gleichen Atemzuge: »Fragen der Regierungsbildung und des Regierungsprogramms sollten in erster Linie Angelegenheit der führenden Parteipolitiker sein; in allgemeinen Wahlen kann darüber nicht entschieden werden.«
Doch nicht nur im politischen Urteil herrscht Eintracht. Auch die Moralbegriffe der deutschen Arrivierten sind weithin uniform:
* 64 Prozent billigen jeder Frau, entgegen dem Abtreibungsparagraphen 218 StGB, das Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung zu; > 66 Prozent sind nicht der Ansicht, daß ein Mädchen, »das etwas auf sich hält ... auch heute noch unberührt in die Ehe gehen« solle; > 75 Prozent wünschen, daß Homosexualität zwischen Erwachsenen (Paragraph 175 StGB) nicht bestraft wird; und
* 80 Prozent gar glauben, daß sich mit dem Wandel der Gesellschaft zwangsläufig auch die gesellschaftliche Moral wandle.
Die Avantgarde der neuen Schicklichkeit kommt insbesondere aus den Reihen der Gewerkschaftler, Redakteure, Mitarbeiter der Funk- und Fernsehanstalten sowie der Oberhäupter deutscher Großstädte.
Hüter überkommener Moralprinzipien dominieren (beim Stichwort Abtreibung) unter den evangelischen Kirchenfürsten, den Funktionären der Berufsverbände und den Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse. Intakte Bräute hingegen halten nur noch die Spitzenprotestanten (79 Prozent) für wichtig. Für Beibehaltung des StGB-Paragraphen 175 jedoch fand sich in keiner der befragten Gruppen eine Mehrheit.
Ähnlich eindeutig fiel das Mannheimer Elite-Votum über die Todesstrafe aus: 69 Prozent sind dagegen, daß in Westdeutschland wieder Köpfe rollen.
Diese moralisch-politische Einheitsfront deutscher Funktions-Fürsten bricht nur dann wenn es statt unverbindlicher Bekenntnisse zum Gemeinwohl um handfeste Gruppeninteressen geht. Und insofern bestätigen die Interviews die marxistische Uralt-Erkenntnis, daß gesellschaftliches Sein gesellschaftliches Bewußtsein bestimme --- ein Phänomen, das der renommierte Frankfurter Elite-Forscher Wolfgang Zapf die »sozialen Distanzen zwischen westdeutschen Führungsgruppen« nennt*.
Seine These: »Im Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sind die einzelnen Sektoren: Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaft, Kirche, Kommunikation, in sich recht homogen. Zwischen ihnen aber bestehen deutliche Distanzen«, die auch »Lebensstil und Gesellschaftsbild mit einschließen«.
Wildenmanns Befragungsaktion untermauert diese Distanz-Analyse. Ein Gruppen-Vergleich ergibt: Die traditionellen Unterschiede im Welt- wie Gesellschaftsbild verschiedener Führungskreise sind so deutlich wie eh und je.
So waren die Mannheimer Testpersonen aus dem Kreis der Finanz-, Wirtschafts- und Verbandsmanager in ihrer Mehrheit der Ansicht, daß »Meinungs und Diskussionsfreiheit dort ihre Grenzen haben müssen, wo elementare moralische Überzeugungen und sittliche Grundwerte berührt werden«. Deutschlands Gewerkschaftsbosse aber, offenbar mißtrauisch gegenüber unpräzisen Formeln aus dem Polit-Katechismus des Bürgertums, halten unbegrenzte Meinungs- und Diskussionsfreiheit für unabdingbar.
Die Funktionäre aus den Gewerkschaftszentralen wiederum bestreiten schon aus Standesinteresse energisch, daß die »Chancen und Möglichkeiten, im Leben zu etwas zu kommen«, in der Bundesrepublik gerecht verteilt seien. Der saturierte Wirtschafts-Klan indes sieht Chancengleichheit allüberall.
Auch Standard-Klischees der Adenauer-Ära fanden bei der Kapitalisten-Creme -- im Gegensatz zu den Gewerkschaftlern -- lebhaften Beifall. Der Interview-Formel: »Die größte Ge-
* Wolfgang Zapf: »Wandlungen der deutschen Elite -- Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919-1961«. Verlag Piper, München; 260 Seiten; 24 Mark.
fahr für die westlichen Demokratien ist nach wie vor der aggressive Weltkommunismus, dem nur mit Härte begegnet werden kann«, stimmte die Gruppe Wirtschaft mit Mehrheit zu
Daß die politischen Urteile des Managements und der Gewerkschaften derart differieren, kann, der Sozialpartner-Ideologle zum Trotz, kaum verwundern. Aufschlußreicher hingegen ist die Tendenz anderer Elite-Gruppen zu einem der beiden Meinungspole des Establishment
So ermittelte Wildenmann, daß die Spitzenpublizisten aus Presse, Funk und Fernsehen ebenso wie die Hochschullehrer (unter ihnen 15 Rektoren) in wesentlichen politischen Fragen mit den Gewerkschaftlern übereinstimmen. Gemeinsam zum Beispiel erwarten sie Gefahren für das politische System der Bundesrepublik -- im Falle einer Wirtschaftskrise -- eher von der radikalen Rechten als von der äußersten Linken.
Gemeinsam plädieren sie für »eine wirksame öffentliche Kontrolle der Regierung« und bestreiten, daß Demokratie in Deutschland nur möglich sei, wenn sich eine starke Regierung über alle Gruppeninteressen hinwegsetze. Und gemeinsam schließlich fordern Professoren, Publizisten wie Arbeiterfunktionäre Einfluß vor allem der Bürger und nicht nur der Parteipolitiker auf Regierungsbildung wie Regierungsprogramm.
Doch auch die konservativen Wirtschaftsführer stehen mit ihren Meinungen In der deutschen Elite nicht allein. Genau wie sie zeigen vor allem die befragten Mitglieder der Bonner Spitzenbürokratie autoritäre Neigungen.
Diese Gruppe -- 38 Hauptabteilungsleiter der Bundesministerien, der Bundesbank, der Post und des Rechnungshofs -- hat mit 52 Prozent nicht nur den höchsten Anteil ehemaliger NSDAP -- Mitglieder
* Vorn links: der ehemalige Heeres-Inspekteur Moll; M.: Generalinspekteur de Maizière.
** 1957 in Hamburg; vorn: der heutige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, der damals Rektor der Hamburger Universität war; neben Schiller: der Philosoph und Physiker Friedrich von Weizsäcker.
unter allen Wildenmann-Partnern; sie neigt auch mehr zum Obrigkeitsstaat als zur Massendemokratie.
Zwar reagierte auch die Beamten-Creme (Computer-Kürzel: Bu-V) auf Mannheimer Reizfragen durchaus systemfreundlich: 68 Prozent sprachen sich für die Souveränität des Volkes auch in Fragen der Regierungsbildung und des Regierungsprogramms aus. 70 Prozent jedoch erklärten auf die Mannheimer Anschlußfrage, Regierungsbildung und Regierungsprogramm sollten in erster Linie Angelegenheit der führenden Parteipolitiker sein. In allgemeinen Wahlen, so meinen die Chef-Beamten, »kann darüber nicht entschieden werden«.
In ähnliche Widersprüche verwickelten sie sich auch an anderen Stellen des Interviews, Mit 73 Prozent stimmten sie der Behauptung zu (Durchschnitt: 88 Prozent), es sei bedenklich für eine Demokratie, wenn die Verwaltung bei politischen Entscheidungen mehr Einfluß habe als die gewählten Politiker. 53 Prozent jedoch (Durchschnitt: 31 Prozent) verkündigten voller Berufsstolz« daß »tatsächlich die öffentliche Verwaltung«, nicht Parteien und Parlamente, in der Bundesrepublik »eine einigermaßen zufriedenstellende Politik« gewährleistet.
Durchaus pflichtbewußt reagierten die Ministerialbeamten ferner auf die Gretchenfrage, ob denn wohl die Demokratie »von eingehender öffentlicher Kritik am politischen Geschehen und von wirksamer Opposition gegenüber der jeweils amtierenden Regierung« lebe. Die Antwort war volksdemokratisch. 95 Prozent bekannten sich zu dieser Lehrformel.
Aber: Zwölf Fragen später bereits meinte jeder zweite Staatsdiener, in der Bundesrepublik komme es »weniger auf eine wirksame öffentliche Kontrolle« an als vielmehr darauf, daß es »überhaupt eine starke, zielbewußte und handlungsfähige Regierung gibt«.
Ähnlich konservative Neigungen spiegeln sich auch im Wunsch der Berufsbeamten nach einer »starken politischen Führung« wider, die sich »über alle Gruppeninteressen hinwegsetzt« (58 Prozent).
Doch so klar konturiert das statistisch gewonnene Meinungsprofil der konservativen Wirtschaftsbosse und Spitzenbeamten zu sein scheint -- die Mannheimer Untersuchung legt auch liberale Züge bloß.
Ausgerechnet die Männer der Hochfinanz, Deutschlands Bank- und Versicherungsherren« Traditionsgespenster der Proletarier aller Länder, äußern aufgeklärten Freisinn. Nachdrücklicher als ihre Standesgenossen aus Industrie, Unternehmerverbänden und dem hohen Beamten-Adel entschied sich diese, im Wildenmann-Sample 33 Mann starke Gruppe materiell zufriedener, überwiegend protestantischer Juristen mit Neigungen zu Literatur und Musik für Geduld im Umgang mit Gammlern und gegen die Todesstrafe.
Und auch politisch hält die Finanz-Aristokratie Distanz zu ihrer gesellschaftlichen Muttergruppe. Sie wählt zu 48 Prozent CDU/CSU, während Industrielle mit 67 Prozent und die Bonner Bürokraten mit 66 Prozent eindeutige Vorliebe für die besitzbewußte Christen-Union bekunden.
Auch Adenauers schlichte Herrschafts-Formel »Keine Experimente« findet bei Deutschlands Schatzmeistern weit weniger Sympathie als bei Industriekapitänen und Bürovorstehern.
Eine »möglichst hohe Chance der Ablösung einer Regierungspartei durch die Opposition« ist dem Finanzmanagement weit wichtiger (60 Prozent) denn »Stabilität und Kontinuität der politischen Führung«, denen sich hinwiederum die anderen Ökonomen mit klarer Mehrheit und die Spitzenbeamten immerhin mit 47 Prozent kreuzkonservativ verpflichtet fühlen.
Konsequent für freies Spiel der Kräfte wenden sich die Finanziers mit 72 Prozent auch gegen die wettbewerbsfeindliche Formel, »das Gemeinwohl in der Bundesrepublik« werde durch die »ständigen Forderungen und Auseinandersetzungen der Interessengruppen gefährdet«. Just dieser Parole aber zollen die Unternehmer (mit 58 Prozent) ebenso Beifall wie die oberen Bundes-Bürokraten (63 Prozent).
Ob freilich auch in anderen Elite-Sektoren ähnlich gravierende Meinungsdifferenzen herrschen, läßt sich anhand des Mannheimer Materials der methodischen Mängel wegen nicht nachweisen. Für die Analyse anderer, in der Forschung vernachlässigter Aspekte bieten die Interviews immerhin Orientierungshilfen.
Daß zum Beispiel Angehörigen der sozialen Unterschicht der Aufstieg in die Elite-Gruppen nur selten gelingt, stellten bereits Zapf wie Dahrendorf fest. Diese Erkenntnis allein jedoch sagt nichts darüber aus, ob diese Aufsteiger, einmal oben heimisch geworden, die Denk- und Verhaltensweisen ihrer gesellschaftlichen Muttergruppen beibehalten oder nicht.
Auch über die Altersstruktur des deutschen Führungskorps wie über den Machtanteil ehemaliger Nationalsozialisten lieferte die Soziologie bisher lediglich statistische Anhaltspunkte. Doch erst mit Hilfe der Interview-Technik läßt sich die Bedeutung dieser Daten für das Meinungsprofil deutscher Machtträger ermitteln.
So befragte das Wildenmann-Team seine Testpersonen aus der Unterschicht (Computer-Kürzel: »Uschi") nach eigener Aussage 144 von insgesamt 800 Funktions-Fürsten -- nach politischer wie moralischer Gesinnung und erfuhr, daß sie, wiewohl arriviert, Distanz zur Oberschicht bewahren. Die »Pyramidenkletterer« (US-Soziologe Vance Packard), die zu mehr als einem Drittel vom Lande oder aus der Kleinstadt stammen, geben sich moralisch noch liberaler als ihre Elite-Kollegen (146 Befragte) mit Oberschichtabstammung: Während fast die Hälfte der Erb-Elite noch immer unberührte Bräute bevorzugt, sind 71 Prozent der Aufsteiger gegen derart übertriebene Forderungen. Und auch den Männer-Paragraphen 175 halten mehr Aufsteiger als Alt-Elitäre für überholt
Diese Differenzen beider Gruppen, in der Wertung überkommener Moralprinzipien nur Nuancen, vertiefen sich, sobald es um soziale wie politische Urteile geht: Die Aufsteiger aus der Unterschicht zeigen noch immer Reste von Klassenbewußtsein.
Sie hegen, anders als die Traditions-Elite, erhebliche Zweifel daran, daß in der Bundesrepublik »die Chancen und Möglichkeiten, im Leben zu etwas zu kommen«, gerecht verteilt sind. Nur 44 Prozent der Elite-Neulinge -- im Gegensatz zu 73 Prozent der Alteingesessenen -- glauben an Chancengleichheit.
Selbst in der Freizeit-Gestaltung unterscheiden sich die alten von den neuen Herren. Wer in die Elite aufgestiegen ist, liest mehr. Wer immer oben war, sammelt Kunst. Einig hingegen ist sich die gute Gesellschaft -- ob Aufsteiger, ob Platzhalter -- in ihrer Aversion gegen Gesellschaftstanz und Leichtathletik.
Doch nicht nur die unterschiedliche Herkunft der Spitzenbürger führt zu Meinungsverschiedenheiten. Schattierungen im Meinungsbild der Mannheimer Elite-Auswahl resultieren auch aus der Altersschichtung.
Der Block der Fünfzigjährigen -- mit 61 Prozent die Mehrheit der 800 Befragten -- gab sieh Wildenmanns Sendboten gegenüber moralisch altbackener und politisch autoritätsbewußter als die Gruppe der Jüngeren. Je älter sie sind, desto entschiedener befürworten sie die
Wiedereinführung der Todesstrafe: die bis Vierzigjährigen zu acht, die über Siebzigjährigen zu 56 Prozent.
Zudem sind die Älteren im Gegensatz zu den Jungen mehrheitlich der Ansicht, daß
* die größte Gefahr für die westliche Welt nach wie vor der »aggressive Weltkommunismus« ist, dem nur »mit Härte« begegnet werden kann,
* in der Bundesrepublik die Aufstiegschancen gerecht verteilt sind und
* die Stabilität und Kontinuität der politischen Führung für die Bundesrepublik wichtiger ist als die Möglichkeit der Ablösung der Regierung durch die Opposition.
Auch fühlen sich die graumelierten Funktions-Republikaner weit mehr von der Union des silbergrauen Kanzlers angezogen denn von der Partei des immer noch brünetten Willy Brandt. Und ihnen kommt es im Staat weniger auf öffentliche Kontrolle als vielmehr darauf an, daß es eine »starke, zielbewußte und handlungsfähige Regierung« gibt.
Bei der Selbsteinschätzung aber herrscht wieder Eintracht. Alle Nach-Vierziger (90 Prozent der Befragten) widerlegen die Dahrendorf-Behauptung: »Es gibt kein Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Oberschicht ... bei denen, die durch ihre Stellung ihr doch zugehören.« Sie zählen sich mit absoluter Mehrheit zu den oberen Zweitausend.
Spezifische Charakterzüge schließlich entdeckten die Mannheimer Befrager auch bei der 193-Mann-Fraktion ehedem aktiver oder passiver NSDAP-Mitglieder unter den 800 Testpersonen. Sie stellen -- in Wildenmanns Auslese -- 52 Prozent der Spitzenbürokraten aus den Bundesministerien, 43 Prozent der Staatssekretäre in den Bundesländern, 41 Prozent der Geschäftsführer von Unternehmerverbänden und 35 Prozent der Oberhäupter deutscher Großstädte.
Die Ex-Pgs wenden sich weniger entschlossen gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe als ihre ehedem parteilosen Funktions-Kollegen. Sie schätzen, im Vergleich zu den Nicht-Pgs, Intellektuelle wie Gewerkschaftler geringer, die Bonner Ministerialbürokratie und die Regierung aber um so höher ein. Und sie erwarten, durchweg traditionsbewußter als ihre damals weniger aktiven Volksgenossen, Unbill für die Bundesrepublik eher von links denn von rechts -- von den roten Radikalen daheim wie vom aggressiven Weltkommunismus.
Auf die Frage nach ihrer Lieblingspartei aber antworten 54 Prozent der ehemaligen Nazis bereitwillig und elite-konform (Durchschnitt: 51 Prozent): CDU/CSU. Für die SPD hingegen votieren -- nun im Gegensatz zum Durchschnitt (34 Prozent) -- lediglich 19 Prozent.
Sonst aber entspricht das Bekenntnis der einstigen Parteigenossen zur Demokratie -- von der Anerkennung
* Der hannoversche Schokoladenfabrikant Bernhard Sprengel mit Ehefrau.
parlamentarischer Spielregeln bis zur Ablehnung der NPD (nur knapp drei Prozent plädieren für Thadden) -- durchaus den elitären Standards.
Eine -- kuriose -- Abweichung vom statistischen Elite-Mittel deckten die Computer lediglich bei einer Mini-Gruppe vormals führertreuer Führungsmenschen auf. Sie ermittelten drei Ehemalige, die sich ausgerechnet als Gewerkschaftsfunktionäre auf dem linken Flügel des deutschen Establishment ein rechtes Refugium geschaffen haben.
Dieses Trio hält, im Gegensatz zur Mehrzahl der anderen 68 Befragten seiner Gruppe, Kommunisten wie Sozialdemokraten für gleichermaßen widerwärtig. Und es ist sich darin einig, daß Parteifunktionären, nicht aber dem Volk Mitbestimmung über Regierungsprogramm wie Regierungsbildung zukomme.
Erst bei der Suche nach dem innenpolitischen Feind geraten diese drei Kollegen aneinander: Die Mehrheit (zwei) wittert Gefahr von beiden Extremen.; die Minderheit (einer) indessen nur von links.
»Gemeinsame Züge an Elite-Mitgliedern nachzuweisen«, so erkannte der Schweizer Soziologe und Bochumer Ordinarius Urs Jaeggi denn auch bereits acht Jahre vor der Exkursion des Mannheimer Politologen Wildenmann ins Reich der oberen Zweitausend, »ist ein ebensooft versuchtes wie gescheitertes Unternehmen.«