CDU Fraktion kaputt
Ein Dutzend Tage vor seinem dreijährigen Kanzlerjubiläum widerfuhr Ludwig Erhard die »tiefste menschliche Enttäuschung« seiner Amtszeit.
Vor allem christlichen Fraktionsvolk knüppelte am Dienstag letzter Woche eine Keulenriege junger Abgeordneter auf den glücklosen Regierungschef los, wie es noch nie ein Bonner Kanzler erdulden mußte.
Zweierlei verletzte Ludwig Erhard besonders: Keiner der Minister, die ihr Amt aus seiner Hand erhalten hatten, warf sich zu des Kanzlers Verteidigung in die Bresche; die jungen Angreifer rekrutierten sich ausgerechnet aus Erhards politischer Wahl-Heimat Baden -Württemberg, wo er 1965 durch einen eindrucksvollen CDU-Sieg den Frischlingen zum Bundestagsmandat verholfen hatte*.
Aufgestachelt waren die Jungen vom Uralt-Kämpfer der Christenunion: Konrad Adenauer hatte in zwei Wochenend -Interviews seinem ungeliebten Nachfolger die Schuld an der »Not des Vaterlandes« zugeschoben und öffentlich Eugen Gerstenmaier als neuen Regierungschef empfohlen.
Durch diesen Segen des Patriarchen war der Erklärung des Bundestagspräsidenten, er halte sich bei aller Loyalität gegenüber Erhard notfalls für das Amt des Regierungschefs bereit (SPIEGEL 41/1966), höhere Weihe verliehen worden.
In klarer Schlachtordnung standen sich die Kampfhähne der Union am Wochenbeginn gegenüber. Das erste Scharmützel war exklusiv: Erhard und Schröder auf der einen, Gerstenmaier und Strauß auf der anderen Seite trafen am Montag zur Mittagszeit im Amtszimmer des Fraktionsschlichters Barzel im Bundeshaus aufeinander.
Im neumöblierten Barzel-Büro - der Fraktionschef hat die Chippendale-Gemütlichkeit seines Vorgängers Brentano durch unterkühlte Flughafen-Sachlichkeit ersetzt - redeten sich die zerstrittenen Unions-Herren die Köpfe heiß. Sogar der sonst stets auf Distanz bedachte Außenminister geriet in Rage: Der Bundestagspräsident sei der Regierung Erhard in den Rücken gefallen. Sein Verhalten sei unmöglich und den Interessen der CDU abträglich.
Schwabe Gerstenmaier zahlte in gleicher Münze zurück: »Was soll dieser pauschale Vorwurf? Wenn Sie mit mir diskutieren wollen, dann legen Sie den Text meines Interviews auf den Tisch und zeigen mir Punkt für Punkt, was Sie kritisieren.«
Doch mit schneidender Stimme wiederholte Schröder seinen Vorwurf. Gerstenmaier schwoll die Zornesader: »Ihnen gebe ich hier nicht auch noch einen Treueschwur, Herr Schröder. Das merken Sie sich mal.«
Im Gänsemarsch - Gerstenmaier voran - marschierte das Quintett dann
die 50 Schritte zum Fraktionsvorstandszimmer 213 F. An der Eingangstür besann sich der Bundestagspräsident im letzten Moment auf die noch gültige CDU-Rangfolge. Er stoppte und ließ Erhard den Vortritt.
Im Führungszirkel der Christenunion gelang es Erhard noch, sich zu behaupten. Seine Kritiker fertigte er bündig ab: »Ich bin bestürzt über die Interviews. Wenn das Vaterland in Gefahr ist, kann man es nicht retten, indem man noch größere Unsicherheit ins Volk trägt«.
Auch die Errungenschaften seines USA-Trips, von, dem er fünf Tage zuvor zurückgekehrt war, wollte er sich nicht zerreden lassen. Adenauer hatte den »heißen Draht« zwischen Bonn und Washington bespöttelt: »Ach, das Telephon ... ich hatte mit Kennedy dieselbe Verbindung.« Doch Erhard triumphierte nun: »Sicher, telephonieren kann jeder. Aber meine Telephonverbindung mit Johnson ist etwas Einmaliges, das hat es vorher nicht gegeben. Es ist ein direkter, gesicherter Apparat.«
Mit selbstbewußter« Knappheit beschied der Kanzler dann die Fraktions -Oberen: »Ich bin für eine Kabinettsumbildung nicht mehr ansprechbar.«
In einem einsamen Entschluß hatte Ludwig Erhard damit einen Schlußstrich unter das Kapitel gezogen, das durch den Rücktritt seines langjährigen Weggefährten Ludger Westrick vor drei Wochen aufgeschlagen worden war. Der Kanzleramts-Minister war retiriert, um eine Kabinettsumbildung zu erleichtern (siehe Seite 37).
Noch konnte Erhard nicht ahnen, daß sein maßhaltendes Renovieren das Fanal für die Palastrevolte in der Fraktion abgeben würde. Die Fraktionslenker jedenfalls fanden sich ohne Widerspruch mit des Kanzlers Bescheid ab; sie standen ihm sogar gegen seine Kritiker bei.«
Kurt Birrenbach, Atlantiker von der Ruhr: »Die Bandbreite unserer Außenpolitik ist nicht so groß, als daß wir uns nicht einigen könnten.«
Bauer Detlef Struve: »Manche müssen sich endlich einen anderen Umgangston angewöhnen. Gegen das Kabinett Erhard ist immer geschossen worden, ohne daß man weiß, wo eigentlich die Unterschiede zu früher liegen.«
Junior-Außenpolitiker Ernst Majonica brach zum höheren Ruhm seines Regierungschefs gar eine persönliche Fehde mit Gerstenmaier vom Zaun. Wenn der Interview-Krieg weitergehe, werde er beantragen, daß sich der Ehrenrat der Fraktion mit den Unbotmäßigen befasse. »Jede Form der Diskussion findet dort ihre Grenze, wo die Gemeinschaft zerstört wird. Wer das nicht akzeptiert, muß die Gemeinschaft verlassen.«
Hochrot vor Erregung, setzte sich der Bundestagspräsident zur Wehr: »Das ist absurd.« Seine Ehre stehe nicht zur Diskussion. »Hier geht es um eine politische Streitfrage.«
Noch ungerührt von den Geschehnissen im Fraktionsvorstand, tafelten an diesem Montagabend rund 30 Jungmannen der Christen-Fraktion im Souterrain des Bonner Presseclubs an der Koblenzer Straße. Partei-Verwalter Bruno Heck hatte zum ideologischen Schulungsabend geladen. Friedfertig diskutierte die Runde über den Begriff des Christlichen vor und nach dem Konzil, als der in der Fraktionshierarchie bereits arrivierte Berliner Abgeordnete Ernst Benda, 41, hinzustieß. Während der Essenspause fütterte er die Jungschar mit Brocken aus dem Vorstand.
Seine Nachricht, Erhard habe eine Kabinettsumbildung aufgegeben, empörte den Kreis. Speziell der Nachwuchs aus Baden-Württemberg geriet in Zorn. Morgen in der Fraktion würden sie dagegen zu Felde ziehen. Erregt forderten die Junioren, Heck solle das Thema des Abends auf die aktuellen Ereignisse umstellen. Doch der Minister wehrte ab: Er wolle nicht als Verschwörer in Erscheinung treten. »Wir reden kein Wort von dem, was zur Zeit läuft.«
Tags darauf war das Schweigegebot abgelaufen. Kaum war die Fraktionssitzung der CDU/CSU am Dienstagnachmittag eröffnet, gaben die Veteranen. Gerstenmaier und Strauß die Marschrichtung an. Das frankophile Duo rammte Erhards Position mit Schelte an der Außenpolitik.
Der Bundestagspräsident zeigte mit dem Finger auf den Kanzler: »Ich bin für diesen Mann durchs Feuer gegangen. Nur einmal in 17 Bonner Jahren habe ich mit konstruktivem Mißtrauensvotum gearbeitet: um Ludwig Erhard die faire Chance zu geben, seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft, den er mit Recht erhoben hat, zu sichern.«
Dann setzte Gerstenmaier nach: »Ich habe diesen Anspruch nicht.« Aber er vergaß nicht, auf Adenauer hinzuweisen, der ihn - Gerstenmaier - zum neuen Kanzler küren möchte: »Ich habe mit Konrad Adenauer viel und oft die Klingen gekreuzt. Ich freue mich, daß Herr Adenauer in reiferen Jahren zur besseren Einsicht gelangt ist.«
CSU-Chef Strauß leistete dem Freizeit-Jäger Schützenhilfe: »Ich möchte die Frage stellen: Wäre alles in Ordnung, wenn die Interviews nicht gegeben worden wären?«
Dann ergriff der Nachwuchs seine Chance. Heinrich Geißler, 36, ein Regierungsrat, der aus dem Vorzimmer des baden-württembergischen Arbeitsministers auf den Bonner Abgeordnetenplatz überwechselte, belehrte den Kanzler forsch: Sachfragen könnten ohne personelle Änderungen nicht gelöst werden. »Wenn Erhard bleiben soll, dann muß seine Regierung stark gemacht werden, dann müssen alle führenden Kräfte ins Kabinett.« Aber: »Wenn es sich bei dieser Regierung um ein sinkendes Schiff handelt, dann muß man eben ein anderes Schiff flottmachen.«
Landsmann Hansjörg Häfele, 34, ein Regierungsrat, der vor der Übersiedlung nach Bonn Pressereferent des Stuttgarter Innenministers war, sekundierte: »Herr Bundeskanzler, die Bevölkerung hat das Vertrauen in Sie verloren.«
Katholik Häfele pries ein römisches Beispiel an: Wie bei der Papstwahl sollten entzweite Unions-Führungskräfte in ein Konklave gesperrt und erst dann herausgelassen werden, wenn sie sich geeinigt hätten. Konklave-Kenner Minister a. D. Wuermeling verfeinerte den Gedanken: Am ersten Tag sollte man den Eingesperrten Wasser und Brot, am zweiten nur noch Wasser hereinreichen. Das beschleunige die Entscheidung.
Als dritter Baden-Württemberger ging Anton Stark, 37, Sozialreferent des Bauernverbandes, den Kanzler an: »Ich habe das Vertrauen nicht mehr, daß diese Regierung es schaffen könne.«
Manfred Wörner, 32, vor seiner Wahl als Regierungsrat Berater beim Stuttgarter Landtag, begehrte von Erhard zu wissen, ob er »diese Potenzen« - gemeint waren hauptsächlich Gerstenmaier und Strauß »in die Regierung aufzunehmen« beabsichtige.
Biedermann Erhard war den Brandstiftern ungeschützt ausgeliefert. Zweimal mahnte der Wuppertaler Altparlamentarier Otto Schmidt Außenamtschef Schröder während der vierstündigen Fraktionsschlacht: Jetzt müssen Sie das Wort ergreifen.: Doch Schröder schwieg.
Das Wort ergriff schließlich der ehemalige Rundfunk-Journalist Max Schulze-Vorberg, der 16 Jahre lang für bayrische Zuhörer die Bonner Ereignisse kommentiert hatte. »Eugen Gerstenmaier ist ein tapferer Mann«, so eröffnete er. Denn: Einst habe Gerstenmaier geführt, »um Adenauer kaputtzumachen.« Nun sei Gerstenmaier dabei, Ludwig Erhard mit denselben Methoden wie damals kaputtzumachen. »Das macht diese Fraktion kaputt.«
Gerhard Schröder, nach der Fraktionssitzung von mehreren Unions-Kollegen wegen seiner Passivität im internen Streit um Erhard getadelt, holte das Versäumnis am nächsten Tag nach. In der Plenardebatte über Erhards amerikanischen Reisebericht fing er mit der Opposition lautstarken Streit über eine Geschäftsordnungsfrage an. Prasselnder Beifall der Fraktioner und ein inniger Händedruck des Kanzlers lohnten seinen Einsatz, der ihn nichts kostete.
Das Halali für die Jagd auf Erhard blies schließlich Nimrod Gerstenmaier selbst. Im Hallstein-Zimmer des Palais Schaumburg legte er am vergangenen Freitag letzte Hand an das Abschlußkommunique einer Sitzung des CDU -Bundesvorstands. Kernsatz: »Ludwig Erhard ist und bleibt Bundeskanzler.«
* Von 36 Wahlkreisen in Baden-Württemberg fielen 30 an die CDU, sechs an die SPD.
Kölnische Rundschau
Die Pharisäer proben den Aufstand
Erhard-Kritiker Stark
»Herr Bundeskanzler, die Bevölkerung ...
Erhard-Kritiker Geißler
... hat das Vertrauen ...
Erhard-Kritiker Häfele
... in Sie verloren«