HITLER-DOKUMENTE Frei erfunden
Zwei Geschichtsdetektive haben entdeckt, daß Westdeutschlands Historiker und Journalisten einer zeitgeschichtlichen Manipulation aufgesessen sind; Das Protokoll zweier Geheim-Interviews Adolf Hitlers, 1968 als Schlüsseldokument nationalsozialistischer Eroberungspolitik veröffentlicht, ist nicht authentisch.
Hans Mommsen. Professor für Geschichte an der Universität Bochum, und Fritz Tobias, Ministerialrat im niedersächsischen Innenministerium, werten die Veröffentlichung des Protokolls als einen Akt schlampiger Historiographie ah, Mommsen: »Was hier Hitler zum Teil zugeschrieben wird, kann er nicht gesagt haben.« Tobias assistiert; »Das alles ist absurd.«
Die Kritik der beiden Forscher richtet sich gegen den kroatisch-französischen Publizisten Dr. Edouard Calic, der in seinem Buch »Ohne Maske« (Societäts-Verlag, Frankfurt) das Stenogramm zweier Hitler-Interviews veröffentlicht hatte, die bis dahin völlig unbekannt waren. Das Stenogramm stammt aus dem Nachlaß Richard Breitings, der in der Weimarer Zeit als Chefredakteur der rechtskonservativen »Leipziger Neuesten Nachrichten« ("LNN") zu den einflußreichsten Männern Sachsens gehörte.
* Beim Verlassen des Braunen Hauses.
Den Notizen Breitings entnahm Calic, daß der »LNN«-Chef 1931 zweimal Hitler in Münchens »Braunem Haus«, der NS-Zentrale, interviewt hatte. Hitler habe dabei Breiting seine intimsten Pläne offenbart: die Errichtung der Diktatur in Deutschland, die Eroberung und Neuverteilung Europas. Calic erkannte: »Die Maske ist gefallen! Hitlers Worte enthüllen ihn als Anstifter allen Unheils.«
Auch der Historiker Golo Mann fand Breitings Material so überzeugend, daß er sich bereit erklärte, die Veröffentlichung der Hitler-Interviews mit einem Vorwort zu unterstützen. Mann formulierte: »Wer Hitler aus anderen Dokumenten kennt, erkennt ihn hier wieder.« In der Tat deckten sich Hitlers Worte nur allzu sehr mit seinen späteren Taten -- Grund genug für die bundesdeutsche Presse (den SPIEGEL nicht ausgenommen), das Breiting-Protokoll für authentisch zu halten.
Mißtrauen keimte erst auf, als im März 1971 ein ausländischer Historiker, Englands Hugh Trevor-Roper, »ein Warnzeichen signalisierte«, wie er es nannte. Ihm war aufgefallen, daß der Hitler des Breiting-Protokolls Namen und Begriffe verwendete, die er 1931 noch gar nicht kennen konnte.
»Ich wäre nicht überrascht«, urteilte Trevor-Roper, »wenn nachgewiesen werden würde, daß die ursprüngliche Niederschrift zu einem späteren Zeitpunkt erweitert worden ist.«
Die Warnung des Briten bestärkte die beiden Calic-Gegner Mommsen und Tobias, das Buch einer genaueren Textkritik zu unterziehen; sie hatten schon früher Verdacht geschöpft. Mit Edouard Calic sind sie zerstritten, seit der Publizist mit fragwürdigen Methoden versucht, im Streit um den Reichstagsbrand von 1933 die Thesen Mommsens und Tobias' als Rechtfertigung der Nazis abzuqualifizieren.
Mommsen und Tobias stießen sofort auf einen argen Widerspruch: Hitler ("Erklären Sie das Ihren Freunden und Ihrer Leserschaft ganz genau!") soll Breiting erlaubt haben, mitzustenographieren. ihm aber zugleich absolutes Schweigen abverlangt haben.
Ähnlich suspekt dünkten Mommsen und Tobias einige der von Breiting überlieferten Hitler-Worte. So soll Hitler schon 1931 die Arbeitslosenzahl von 1933 ("sechs Millionen") gekannt und nicht gewußt haben, daß der Reichsbankpräsident Schacht seit einem Jahr nicht mehr im Amt war. Außerdem nennt Breitings Hitler das Haus des Berliner Reichstags »ein außerordentlich häßliches Gebäude« -- nach Albert Speers Aussage schätzte er den Bau.
Hitler hält Franklin D. Roosevelt für die beherrschende Figur Amerikas, was kaum möglich ist, da Roosevelt erst 1933 ins Weiße Haus zog. Hitler soll Franz von Papen zu seinen Helfern gerechnet haben -- damals ein unbedeutender preußischer Landtagsabgeordneter ohne jeden Kontakt zu Hitler.
Vollends unglaubwürdig aber ist, daß Hitler 1931 »Offiziere wie Rundstedt, Reichenan, Beck, Blomberg, Fritsch« an der Spitze der Reichswehr wähnte -- Regiments- und Divisionskommandeure. die erst im Dritten Reich in die höchsten militärischen Führungspositionen einrückten. Und was soll der Historiker von, dem angeblichen Ausspruch Hermann Görings halten, »einige unserer Bombengeschwader« würden England zur Kapitulation zwingen -- und das 1931, da Deutschland nicht ein einziges Bombenflugzeug besaß?
Aus solchen Indizien folgerten Mommsen und Tobias, daß die Hitler-Interviews zurechtfrisiert worden waren; Hitler mochte tatsächlich 1931 mit Breiting gesprochen haben, aber wesentliche Partien des Interview-Protokolls mußten später hinzugefügt worden sein.
Nach längeren Recherchen stießen die beiden Forscher auf einen Kronzeugen, der wie kein anderer wußte, was einst in Hitlers Arbeitszimmer gesprochen worden war. Dr. Alfred Detig, 76, ehedem Münchner Korrespondent der »Leipziger Neuesten Nachrichten«, hatte das Hitler-Breiting-Treffen vorbereitet und der Unterhaltung im Braunen Haus beigewohnt.
Detig bezeugte: »Die erste Unterredung ist in weitem Umfang frei erfunden; das zweite Gespräch hat nie stattgefunden. Die Stenogramme können keinesfalls aus dem Jahre 1931 stammen. Es sind politische Dokumente, zusammengestellt mit dem Ziel, vor Hitler zu warnen.«
Der Alt-Journalist rekonstruierte den Vorgang, der freilich in fast keinem wesentlichen Punkt mit der von Calic präsentierten Breiting-Version übereinstimmt. Nur in einem Detail decken sich die beiden Darstellungen: Breiting wollte Hitler sprechen, um die Hetzereien des sächsischen NS-Blattes »Freiheitskampf« gegen sich und seine Familie aus der Welt zu schaffen.
Aber bereits das Datum des ersten Hitler-Interviews ist umstritten: Breiting will am 4. Mai 1931 im Braunen Haus gewesen sein, Detig spricht von »Anfang September« -- aus gutem Grund: Erst am 1. August wurde sein Freund Otto Dietrich Pressechef der NSDAP und erhielt damit die Möglichkeit, den Besuch Breitings bei Hitler zu vermitteln. Auch Dietrichs ehemaliger Stellvertreter Helmut Sündermann bestätigte vor seinem Tod, das Gespräch habe »wenige Wochen nach Dietrichs Dienstantritt« stattgefunden.
Detig: »Breiting und ich wurden auf elf Uhr bestellt. Eine Stunde etwa mußten wir warten. Das Zusammensein dauerte keineswegs (wie Calic behauptet) drei Stunden, sondern knapp eine Stunde.«
Breiting, so berichtet Detig weiter, habe Hitler eine Mappe mit Artikeln des braunen »Freiheitskampfs« überreicht. Dann sei von Breiting ein Referat über seine Haltung in den politischen Kämpfen Sachsens seit 1918 gehalten worden, das Hitler mit einem Monolog über die Rolle des Bürgertums und der Partei beantwortet habe.
Hitler habe jedoch Breiting nicht erlaubt, das Gespräch aufzuzeichnen: »Während des Zusammenseins mit Hitler saß Breiting auf einem Stuhl ihm gegenüber, ich in loser Tuchfühlung zu seiner Linken auf einem zweiten Stuhl, von Hitler nur durch den Schreibtisch getrennt. Ich hatte jederzeit Blick auf Breitings Hände. Breiting hat während des Zusammenseins kein Stenogramm angefertigt.«
Einige Tage nach der Unterredung habe er, Detig, den NS-Chefjuristen Frank autgesucht und die Zusage eingehandelt, daß der »Freiheitskampf« seine Anti-Breiting-Kampagne einstellen werde. Detig: »Es wurde kein zweites Treffen Hitler-Breiting verabredet« Sündermann erinnerte sich ebenfalls an keine weitere Zusammenkunft.
Bleibt nur die Frage, wann Breiting das Protokoll über die angeblichen Gespräche mit Hitler aufgesetzt hat. Vermutlich machte er sich sofort nach seiner Rückkehr »einige Notizen, die er dann später mit eigenen Kombinationen bereicherte« -- so der ehemalige Breitong-Kollege Werner Mühe. Im Protokoll auftauchende NS-Vokabeln wie »Eintopf« und »Machtergreifung« legen nahe, daß die Niederschrift etwa Ende 1933 entstanden ist. Sie zirkulierte bereits 1934 in Kreisen bürgerlicher NS-Gegner und weckte das Mißtrauen der Partei, die daraufhin prompt von Breiting die Auslieferung der Niederschrift verlangte. Breitings Antwort klingt heute doppeldeutig: Er habe keine Protokolle.
Protokoll-Herausgeber Calic aber wird sich der Frage stellen müssen, warum er die vorhandenen Zeugnisse und den Breiting-Text nicht gründlich geprüft hat. Seit dem 25. Juli 1968 weiß er, daß Breitings Angaben mehr als zweifelhaft sind -- Detig hat es ihm damals in einer einstündigen Unterredung offenbart.
Calic zieht es vor, Fragen nach der Echtheit des Breiting-Protokolls »aus Zuständigkeitsgründen« von dem Breiting-Enkel Ekkehard Schneider-Breiting beantworten zu lassen, der in jedem Zweifel eine Diffamierung seines Großvaters sieht. Schneider-Breiting: »Ob er den Stenogrammen nachträglich etwas hinzugefügt hat, entzieht sich unserer Kenntnis.« Calic aber schweigt. Schon Trevor-Roper hatte erkannt: »Herr Calic ist kein Herausgeber, der mich mit Vertrauen erfüllt.«
Hans Mommsen will denn auch demnächst in den »Vierteljahresheften für Zeitgeschichte« untersuchen, wieweit die Recherchierkünste des Dr. Calic der kritischen Hitler-Forschung nützen. Der Professor aus Bochum kann sich dabei getrost von einer Calic-Maxime leiten lassen. Calic: »Die Wahrheit muß jeden Tag neu erkämpft werden. Und dieser Kampf wird den Historikern aller Länder von Legendenschreibern und Lügenerzählern aufgezwungen.«