SCHWEIZ Frei wie die Väter
Kinder spielen auf dem sechsspurigen City-Ring Fußball, über die verlassene Autobahn radeln Radfahrer, und auf den leeren Landstraßen schreiten Wanderer mit Rucksack und Spazierstock einher:
Diese Idylle einer autofreien Schweiz soll sich zwölfmal im Jahr, nämlich »am zweiten Sonntag jedes Monats im ganzen Hoheitsgebiet der Schweiz« auftun -- sofern die Eidgenossen am 28. Mai in der Volksabstimmung dem Verbot jeglichen privaten Verkehrs »zu Lande. zu Wasser und in der Luft« zustimmen.
Die Idee stammt aus dem Ölkrisen-Herbst 1973, als die Schweizer Regierung per Notrecht drei autofreie Sonntage dekretiert hatte und die Eidgenossen die Vorteile der lärm- und abgasfreien Feiertage genossen.
Aus der Energienot wollten neun Studenten der Ingenieurschule im bernischen Burgdorf eine ökologische Tugend machen: Laut Eigenwerbung ohne Macht, ohne Einfluß und ohne Geld, zogen sie eine Unterschriften-Kampagne auf, die den Schweizern beweisen sollte, daß die »persönliche Freiheit nicht nur vier Räder hat«.
116 000 Eidgenossen, mehr als doppelt so viele wie von Gesetzes wegen nötig, unterschrieben damals die »Burgdorfer Initiative« für die zwölf autofreien Sonntage pro Jahr. Bereits im Mai 1975 wurde das Begehren im Berner Bundeshaus eingereicht.
Die Umweltbelastungen durch den Autoverkehr sind im Transitland Schweiz tatsächlich besonders groß: Allein im vergangenen Jahr fielen rund 49 Millionen ausländische Fahrzeuge in das Alpenland ein, in der Ferienzeit kommen allein über die Rheintal-Autobahn sonntags durchschnittlich 45 000 Motorfahrzeuge via Basel in die Schweiz.
Auch die Schweizer dachten bisher nicht ans Energiesparen: Trotz sinkender Bevölkerungszahl steigt der Fahrzeugbestand um derzeit vier Prozent im Jahr. Ende 1977 gab es bei 6,2 Millionen Einwohnern bereits 2,3 Millionen Motorfahrzeuge.
Doch gerade die Fahrfreude der Eidgenossen und der Ferienverkehr der Ausländer läßt den Verkehrsbehörden die Autostopp-Idee als unsinnig erscheinen. Sie befürchten, daß an den gesperrten Sonntagen
* die Straßen wegen der unerläßlichen Notfall- und Behinderten-Dienste für Fußgänger ohnehin gesperrt bleiben müßten;
* die rund zwei Millionen Schweizer Wochenendausflügler auf die Stunden vor und nach dem Verbot (Sonntag früh drei Uhr bis Montag früh drei Uhr) ausweichen würden, was Stauungen zur Folge hätte; > die ausländischen Touristen an den Grenzen steckenbleiben, deshalb die Schweiz als Ferienland meiden. Zudem rechneten Verkehrstechniker aus, daß die zwölf autofreien Sonntage den gesamten in der Schweiz verbrauchten Treibstoff nur um höchstens 0,6 Prozent reduzieren würden.
Aber auch den Befürwortern geht es heute weniger ums Energiesparen, eher schon um die Besinnung auf das Helvetische: »Wir wollen die Werte unseres Landes erhalten«, erklären sie, denn: »Der Mensch ist seiner Selbständigkeit beraubt und wird zum versklavten Konsumenten der Motorfahrzeuge.«
Schon wurde das Schweizer Freiheitssymbol Wilhelm Tell gegen den Autoverkehr und für die abgasfreie Alpennatur mobilisiert: Bei einem Volksfest der Burgdorfer trat der Ur-Eidgenosse auf, statt des Hutes vom Landvogt Geßler wurde ein Volkswagen als Symbol der Unterdrückung aufgehängt -- und Teil zitierte: »Wir wollen frei sein, wie die Väter waren.«
Schweizer Bodenständigkeit mischte sich mit alten Überfremdungsängsten, traditionelle Heimatpflege mit modernem Umweltschutz: Das Burgdorfer Fahrverbot scheint vielen Eidgenossen der erste Schritt zur Rettung ihres vom
* Wie der Geßler-Hut in der Tell-Sage soll der VW Unterdrückung symbolisieren.
technischen Fortschritt bedrohten Heimatlandes zu sein, vielleicht sogar ein Vorbild für die Nachbarstaaten.
Über 60 Prozent der erwachsenen Schweizer unterstützten im Frühjahr 1977 einer Umfrage zufolge das Burgdorfer Anliegen. Jeder sechste Volksvertreter im Nationalrat gab seine Unterschrift für eine Gesetzesänderung. Und sogar beim größten Autofahrerverband, dem Touring-Club der Schweiz, sprach sich die Mehrheit der Befragten für das sonntägliche Fahrverbot aus.
Für den Abstimmungskampf gründeten schließlich etwa 300 Honoratioren verschiedener Parteien und Richtungen ein »Patronatskomitee«.
Da kämpfen der Kabarettist Franz Hohler und der Rektor der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Heinrich Zollinger, Schulter an Schulter -- aber auch der Chef der Überfremdungspartei, Valentin Oehen, und der Ökonom Hans Jenny, der nebenbei Präsident einer »Stiftung für abendländische Besinnung« ist.
Selbst wenn die Mehrheit der Schweizer in der Burgdorfer Idee einen vaterländischen Rückgriff »auf die Rolle der Schweiz als Pionierland« (so die Befürworter) entdecken wollte -- an der Urne entscheiden die Eidgenossen meist nach materiellen Interessen.
Und zu denen gehört, neben dem eigenen Recht aufs Autofahren, vor allem der Fremdenverkehr. So verkauften die Schweizer im vergangenen Jahr 32,6 Millionen Übernachtungen an Ausländer, davon 13,3 Millionen an Deutsche.
Und auf viele Devisenbringer müßte das Schweizerland dann verzichten.