PRIVAT-SENDER Freibeuter an der Saar
In den Morgenstunden des vorletzten Sonnabends setzte sich ein Trupp saarländischer Postbeamten - unter dem Geleitschutz saarländischer Polizisten - zum Sauberg bei Saarlouis in Marsch. Den Zweck dieser Expedition teilte der Chef der saarländischen Polizei dem Generaldirektor der »Saarländischen Fernseh-AG« gleich darauf telephonisch mit: Die Beamten hätten den Auftrag, das Antennenkabel des Fernseh-Großsenders »Tele-Saar« auf dem Sauberg - 25 Kilometer nordwestlich von Saarbrücken - durchzuschneiden.
Fernseh-Generaldirektor Frederic Billmann alarmierte unverzüglich die Techniker in dem abgelegenen, pompösen Sendepalast, wo man dann allerdings noch ziemlich lange auf das Eintreffen der Kneifzangen-Streitmacht wartete: Das Polizei-Auto war im Schnee steckengeblieben, und der obrigkeitliche Stoßtrupp mußte zu Fuß weitermarschieren.
So kam es, daß die unter Polizeischutz anrückenden Postbeamten das Antennenkabel erst mit einiger Verspätung durchtrennten. Bevor sie wieder abzogen, versiegelten sie noch den Schaltraum des Senders »Tele-Saar«, der gerade erst zehn Tage zuvor seinen Sendebetrieb aufgenommen hatte.
Mit dieser Amtshandlung verlor die »Saarländische Fernseh-AG« eine Kraftprobe in dem Streit, der um den Fortbestand dieser einzigen privaten Sende-Gesellschaft auf deutschem Boden ausgefochten wird. Das Haupt-Objekt in dieser Auseinandersetzung ist allerdings nicht der Fernsehsender »Tele-Saar«, sondern der Rundfunksender »Europa Nr. 1«, der gleichfalls von der »Saarländischen Fernseh-AG« betrieben wird und funkrechtlich als Kuriosum gilt: Er steht in der Nähe von Saarbrücken auf deutschem Boden, strahlt französisch-sprachige Werbeprogramme nach Frankreich hinein und kassiert dafür von französischen Unternehmen täglich schätzungsweise 100 000 Mark, obwohl er nach den bundesdeutschen Rundfunkgesetzen schon längst den Betrieb hätte einstellen müssen. Denn in der Bundesrepublik Deutschland sind private Gesellschaften nicht berechtigt, Rundfunksendungen zu verbreiten.
Daß der Sender »Europa Nr. 1« vor sechs Jahren als privatwirtschaftlicher Betrieb aufgebaut werden konnte, ist der Initiative eines ehemaligen Uhrenhändlers namens Charles Michelson zuzuschreiben. Ihm gelang es im Jahre 1952, den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten Johannes ("Joho") Hoffmann zu dem absonderlichsten Vertrag zu überreden, der je zwischen einer Regierung und einem privaten Rundfunkunternehmer abgeschlossen worden ist.
Michelson hatte im Rundfunk-Geschäft Erfahrung: Er hatte bereits Jahre zuvor die monegassische Gesellschaft »Images et Son« gegründet; sie betrieb in der Spielbankstadt Monte Carlo einen Rundfunksender und eine Fernsehstation, die ihre Programme durch Werbesendungen finanzierten. Radio Monte Carlo nutzte die Situation, die dadurch entstanden war, daß französische Sender keine Werbeprogramme verbreiten dürfen: Wie die Privat-Sender Radio Luxembourg und Radio Andorra, die gleichfalls nicht auf französischem Boden stehen, strahlte auch Radio Monte Carlo seine Werbesprüche weit nach Frankreich hinein.
Ministerpräsident Hoffmann, der schon lange mit der Idee geliebäugelt hatte, an der Saar einen eigenen Fernseh-Betrieb aufzubauen, sah in Michelson einen akzeptablen Partner. Der staatenlose Rundfunk -Manager versprach der Saar-Regierung, er werde in Saarbrücken den »ersten europäischen Fernseh-Sender« errichten und gratis betreiben, wenn die Saar-Regierung als Gegenleistung das Recht einräume, auf saarländischem Boden auch einen Rundfunksender aufzustellen.
Hoffmann war von diesem Koppelgeschäft so angetan, daß er alle Verträge unterschrieb, die Michelson ihm präsentierte. Durch diese Abmachungen entstand eine Lage, aus der heute die französische Regierung, das Bundespostministerium und die jetzige Landesregierung Saar noch vergeblich einen Ausweg suchen, denn
- die Saar-Regierung übertrug Michelsons »Saarländischer Fernseh-AG« das Recht, Fernseh-Sender und einen Rundfunksender auf fünfzig Jahre zu betreiben;
- die »Saarländische Fernseh-AG« erklärte sich bereit, 50 Prozent des Reinerlöses an die offizielle saarländische Rundfunk-Anstalt abzuführen (ein großer Teil dieser Summe sollte allerdings dazu benutzt werden, die von der »Fernseh-AG« zu errichtenden Fernseh -Anlagen zu bezahlen);
- die offizielle saarländische Rundfunk-Anstalt verpflichtete sich für den Fall, daß die Michelson-Gesellschaft »durch Einwirkungen von dritter Stelle« gezwungen werde, den Funkbetrieb einzustellen, die gesamte technische Anlage des Werbe-Unternehmens gegen Barzahlung zu übernehmen und darüber hinaus für jedes an der vereinbarten Vertragszeit fehlende Jahr eine Entschädigung in Höhe von fünf Prozent des investierten Kapitals zu zahlen. Dieser Passus bedeutet, daß der saarländische Rundfunk bei einer vorzeitigen Einstellung des Werbeprogramms Millionensummen zahlen müßte - bei einer Beendigung der Sendungen im Jahre 1958 beispielsweise 60 bis 70 Millionen Mark.
Bald nachdem das Abkommen unterzeichnet war, wuchsen auf dem Sauberg bei Saarlouis - 800 Meter von der französischen Grenze entfernt - die modernsten Sende-Anlagen Europas: eine Sendehalle, deren futuristische Glaskonstruktion modernen Kirchenarchitekten als Vorbild dienen könnte, und zwei Antennenmasten von je 300 Meter Höhe. Schon im Dezember 1953 strahlte die »Fernseh-AG« die ersten (französisch-sprachigen) Werbefernseh-Sendungen für das Saarland aus. Ende Dezember 1954 begann auch die Rundfunkstation »Europa I« (in französischer Sprache) zu senden.
Aber schon nach kurzer Zeit protestierten skandinavische Staaten gegen die Tätigkeit des »Europa«-Senders. Michelson ließ nämlich seine französischen Werbe-Sendungen auf einer Frequenz ausstrahlen, die ihm keine Wellenkonferenz der Welt zugesprochen hatte. Mit seiner riesigen Sendestärke (500 Kilowatt) störte der Werbesender den finnischen Fischerei-Funk sowie die Sender Oslo und Kalundborg.
Wenige Wochen nach dieser Protest-Aktion wurde Manager Michelson durch ein Dekret des französischen Innenministers als »lastiger Ausländer« nach Korsika abgeschoben. Er durfte die Insel zwar schon bald wieder verlassen, zog sich aber aus dem Funk -Geschäft und der Firma »Images et Son« zurück. Die Aktienmehrheit von »Images et Son«, der Muttergesellschaft der saarländischen Rundfunkfirma, ging in den Besitz des französischen Autokarosserie-Fabrikanten und Millionärs Sylvian Floirat über.
Als Frankreich und die Bundesrepublik im Jahre 1956 über die Rückkehr der Saar nach Deutschland verhandelten, mußte auch eine endgültige Entscheidung über das Schicksal des Senders »Europa I« gefällt werden. Die Staatssekretäre Faure und Hallstein kamen überein, daß die französische und die deutsche Regierung den Sender gemeinsam für 3,4 Milliarden Francs (34 Millionen Mark) erwerben sollten. Man wollte ihn noch mindestens drei Jahre weiterbetreiben, um das investierte Kapital wieder herauszuwirtschaften. Dann sollte der Sender stillgelegt werden.
Dieser gemeinsame Plan scheiterte jedoch wenige Tage vor der politischen Rückgliederung der Saar in die Bundesrepublik, als das französische Parlament der Regierung den 1.7-Milliarden-Kredit verweigerte, mit dem Frankreichs Anteil an dem Sender bezahlt werden sollte. Die deutsche Bundespost benachrichtigte daraufhin die Verwaltung des Senders »Europa I«, daß vom 1. Januar 1957 die Funkhoheit des Bundes auch für das Saarland gelte und daß die Bundespost sich »alle Maßnahmen vorbehalte«.
Zu jener Zeit hatte sich der Reklame-Sender bereits ein Stammpublikum von zehn bis fünzehn Millionen Hörern erobert - was zweifellos auf die Anziehungskraft der recht hemdsärmelig gemachten Sendungen zurückging. Nur bei den Werbedurchsagen richten die »Europa-I-»-Sprecher sich nach vorbereiteten Zeitplänen, alle anderen Sendungen werden improvisiert, und kein Hörer wundert sich, wenn »Europa I« plötzlich nach der Durchsage »Der Plattenteller ist kaputt ... Moment, liebe Freunde ...« auf ein paar Minuten verstummt.
Die große Stammhörerschaft ermöglichte es der »Europa-I«-Gesellschaft, den Werbekunden einen Preis von 100 Mark je Sendesekunde abzufordern - also sechsmal soviel, wie deutsche Rundfunk-Anstalten durchschnittlich für die Werbesekunde verlangen. Deshalb fanden sich auch nach dem Scheitern der offiziellen deutsch-französischen Pläne alsbald Privatunternehmen bereit, den Sender zu übernehmen.
Der erste der Interessenten - ein Schweizer Uhrenfabrikant - schied aus, als ruchbar wurde, daß seine Gelder aus Geschäften mit Rotchina stammten. Ein zweiter, der französische Aperitif-Fabrikant Riccard, wurde mit den Unterhändlern einig und deponierte als Kaufpreis für »Images et Son«-Aktien dreißig Millionen Schweizer Franken auf einer Bank.
Im September einigte sich der Aperitif -Hersteller auch mit der Saarbrücker Landesregierung. Es wurde vereinbart, daß die Saar-Regierung beim Bundespostministerium die Erteilung einer Lizenz für den Sender »Europa I« auf »möglichst zehn Jahre« fordern solle. Die Hälfte der »Europa-I«-Aktien sollte an eine deutsche Kapitalgruppe abgetreten werden; auch den Vorsitz im Aufsichtsrat wollte man einem Deutschen überlassen.
Außerdem erklärte sich der Aperitif -Fabrikant Riccard bereit, auf jenen Michelsonschen Vertragspassus zu verzichten, der dem Saarfunk bei vorzeitiger Einstellung der Werbesendungen eine ungeheure Entschädigungszahlung aufgebürdet hätte.
Das Geschäft platzte jedoch, als das Bundespostministerium der Saar-Regierung unverhohlen eröffnete, daß der Sender spätestens am 31. Dezember 1960 stillgelegt werden müsse. Die Leiter von »Europa I« argwöhnen, das Bundespostministerium habe den frühen Termin allein aus konferenztaktischen Gründen genannt: Offensichtlich scheuten sich die Herren des ,Bundespostministeriums davor, auf der für 1961 vorgesehenen internationalen Wellenkonferenz als Schirmherren des »Piratensenders« gebrandmarkt zu werden. Die Bundesrepublik will jedenfalls auf dieser Wellenkonferenz eine Frequenz für den seit langem geplanten bundesdeutschen Langwellensender beantragen. Gäbe es aber 1961 noch den privaten Werbesender auf deutschem Boden, der noch dazu auf einer gestohlenen Welle sendet, würde diese Tatsache die Position der deutschen Verhandlungsdelegation von vornherein unterminieren.
Auch die Bemühungen des Saarbrücker Holzkaufmanns, Hoteliers und Schatzmeisters der Saar-CDU, Dr. Hansjörg Kohlbecher, deutsche Finanzgruppen für den Ankauf von Aktienpaketen zu interessieren, scheiterten endgültig Mitte des vergangenen Monats: Westdeutsche Schwerindustrielle, die in das Werbefunk-Geschäft einsteigen wollten, zogen sich eilends zurück, als sie erfuhren, daß die französische Firma für das Objekt »Europa I« wegen der ungewissen Zukunft des Senders keine Rentabilitätsrechnung aufzustellen vermag.
Obwohl das Schicksal der privaten Werbefunk-Gesellschaft Mitte Januar noch immer ungeklärt war, glaubte Generaldirektor Billmann, den Anspruch seiner Funk-Firma auf eine weitere Sendefrequenz demonstrieren zu müssen. Er ließ einen weiteren Fernseh-Sender auf einer Wellenlänge in Betrieb setzen, auf der seit Anfang 1957 gelegentlich auch ein kleiner Fernseh-Sender des offiziellen Saar-Rundfunks arbeitet. Generaldirektor Billmann ließ diesen »Großsender« auf dem Sauberg auch dann noch weiterfunken, als der Bundespostminister die »Fernseh-AG« per Fernschreiben aufforderte, den Sender unverzüglich stillzulegen, da er auf einer nicht genehmigten Welle arbeite.
Zur ersten offenen Kampfhandlung kam es schließlich nach weiteren zehn Tagen, als Postminister Stücklen das saarländische Innenministerium bat, den störenden privaten Fernseh-Sender polizeilich zu schließen. Die Werbefunker von der »Fernseh -AG« argwöhnen, Stücklen wolle damit verhindern, daß sich im bundesdeutschen Äther ein privater Werbefernseh-Sender etabliert und mithin ein Präzedenzfall für die Frage geschaffen wird, die in Bonn noch immer nicht entschieden worden ist: Ob in der Bundesrepublik auch private Gesellschaften ein (Werbe-)Fernseh-Programm ausstrahlen dürfen.
Der offizielle Saarfunk ist derweil bestrebt, sich gütlich mit den »Freibeutern« zu einigen. Der Intendant von Radio Saarbrücken baut nämlich darauf, daß die Privat-Sendegesellschaft bald die vertraglich vereinbarten Abgaben an das Saarbrücker Funkhaus entrichten wird. Nur mit den Geldern der Privatgesellschaft könnte der mit finanziellen Schwierigkeiten kämpfende Saarfunk als autonome Rundfunkanstalt bestehen.
Privater Sender »Europa I - Tele-Saar": Werbefunk auf gestohlenen Wellen
Werbefunk-Direktor Billmann
Privates Fernsehen auf deutschem Boden