METALLER-STREIK Freibrief für Willkür
Otto Brenner blieb eisern: »Es wird weiter gestreikt, auch während der Schlichtung.«
Im württembergischen Arbeitskampf, bei dem durch Streik und Aussperrung insgesamt 610 Betriebe mit 470 000 Beschäftigten stillgelegt sind, beschlossen die Tarifparteien am Dienstag vergangener Woche die »besondere Schlichtung«. Zum Vermittler wählten die Gewerkschafter, die elf Prozent mehr Lohn forderten, und die Unternehmer, die 4,5 Prozent angeboten hatten, den Präsidenten des Bundessozialgerichts Georg Wannagat, 55.
Während Wannagat versuchte, die Gegner zu einem Lohn-Pakt zu bewegen, verteilten Gewerkschaftler Flugblätter: »Die Arbeitgeber sind stur -- Einigung nicht in Sicht.« Und: »Sie zielen gegen alle abhängig Beschäftigten, nicht nur in diesem Tarifgebiet, sondern auch in der ganzen Bundesrepublik.«
Der Arbeitskampf der IG Metall weitet sich aus. Die Hamburger Metaller haben bereits in der Frankfurter Zentrale eine Streikurabstimmung beantragt. Bezirksleiter Heinz Scholz: »Stuttgart setzt für uns keine Signale -- wir haben ganz andere Forderungen, dafür werden wir notfalls kämpfen.«
Mittlerweile lähmt der zunächst auf Nordbaden/Nordwürttemberg begrenzte Arbeitskampf die Automobilfabriken im ganzen Bundesgebiet. Die Ford-Werke in Köln kündigten an, ihre Fließbänder könnten voraussichtlich nur noch bis Freitag dieser Woche laufen. Die Öffentlichkeitsarbeiter des Volkswagenwerks tickerten an Agenturen und Zeitungen: »Die VW-Werke werden ihre Produktion noch am Montag, 6. Dezember, fortsetzen können. Danach wird die Produktion voraussichtlich zum Erliegen kommen.
Willi Bleicher, IG-Metall-Bezirksleiter in Stuttgart, behauptet: »Die Unternehmer tun alles, um uns die Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben. In der Tat können die Arbeitgeber darauf vertrauen, daß die Folgen von Arbeitskämpfen« Feierschichten und Einkommenseinbußen bei Unbeteiligten ausschließlich der Gewerkschaft angelastet werden. Seit vergangener Woche können die Arbeitnehmer, die von derartigen Sekundärfolgen betroffen sind, auf Arbeitslosenunterstützung rechnen.
Vor acht Jahren, nach Streik und Aussperrung in Württemberg, erläuterten die Arbeitgeber-Verbände einmal das Kalkül: Der Öffentlichkeit solle immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, »Streik bedeutet in der Regel Aussperrung. Und: »Schuld hat immer, wer anfängt.«
Diesmal hatten die Lohnkampf-Strategen der Arbeitgeber den Ablauf der Runde und die Schuldverteilung besonders sorgfältig programmiert. Selbst der Sozialdemokrat Wannagat war schon im voraus als Schlichter eingeplant. Freute sich ein Vertrauter des Arbeitgeber-Bosses Hanns Martin Schleyer: »Das hat alles hervorragend geklappt.«
Die Gewerkschaften behaupten heute, auch Ankündigungen der Industrie, wegen Nachschubmangels müßten ganze Werke stillgelegt werden, dienten lediglich dem taktischen Ziel, »moralischen Druck auszuüben« (Bleichers Vize Franz Steinkühler). Deshalb will die iG Metall etwa gegen die Betriebsleitung der Hanomag-Henschel AG klagen, die 890 ihrer Hamburger Arbeitnehmer seit Anfang letzter Woche nicht mehr beschäftigt. Auch von rund 1000 Berliner Daimler-Benz-Arbeitern, die ebenfalls feiern müssen, ließen sich die Funktionäre Prozeßvollmachten geben, um die Rückvergütung des Lohnausfalls erzwingen zu können. Begründung: Ein Produktionsstopp sei wirtschaftlich nicht gerechtfertigt. Er komme einer »illegalen Aussperrung« gleich.
DGB-Vorsitzender Heinz Oskar Vetter kündigte an: »Nach diesem Arbeitskampf muß auch die Rechtmäßigkeit der bisher legalen Aussperrung -- Betriebsstillegungen in bestreikten Tarifgebieten -- neu definiert werden.«
Das Bundesarbeitsgericht hatte 1955 den Arbeitgebern »Waffengleichheit« zugestanden und geurteilt, die Aussperrung sei als Kampfmittel gegen Streiks »sozialadäquat«. Diese Lohnrunde, so Vetter, habe jedoch erwiesen, daß den Unternehmern mit dem Urteil ein »Freibrief für Willkür erteilt wurde«.
Tatsächlich hielten es die Arbeitgeber für sozial angemessen, einen Ausstand von 110 000 Metallern mit einer Aussperrung der dreifachen Zahl zu beantworten. Streikführer Bleicher: »Um uns zu treffen, werden Familienväter, Lehrlinge, Kriegsversehrte und Schwangere um ihren Lohn gebracht.« Die nicht Organisierten unter den Ausgesperrten sind auf Sozialhilfeunterstützung angewiesen.
Die Gewerkschaftler sind heute schon sicher, daß sie aus dieser Lohnrunde Lehren ziehen müssen, um die Folgen von Arbeitskämpfen für Unbeteiligte zu mildern. »Neben dem klassischen Streik«, so meinte DGB-Vetter, »werden sich neue Kampfformen entwickeln, die nicht mehr so einfach durch Aussperrung unterlaufen werden können.«