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UMWELT Freier Markt

Viele hunderttausend Tonnen Chemieabfalle -- etliche davon giftig oder krebserregend -- lagern in weitgehend unkontrollierten Mülldeponien: Die Amerikaner stehen vor einer schleichenden Umweltkatastrophe.
aus DER SPIEGEL 23/1979

Weder das Nitroglyzerin noch die leicht radioaktiven Chemikalien seien für die Bürger von Elizabeth gefährlich, beruhigte Wes Denham, Sprecher der Umweltschutz-Behörde des US-Bundesstaates New Jersey, die Einwohner.

Laut Denham enthielten die rund 45 000 im Lagerhaus an der South Front Street von einer Firma deponierten Fässer zwar zum Teil giftige und gefährliche Substanzen; auch sei nicht auszuschließen, daß manches rostige Faß längst undicht geworden sei. Dennoch bestehe kein Grund zur Aufregung: An dem Fund der mit Chemie-Abfällen aller Art und Gefährlichkeit gefüllten Fässer sei »durchaus nichts Außergewöhnliches«.

Denham hat wohl recht. Beinahe Woche für Woche kommt in Amerika ein neuer Umweltskandal ans Licht, zum Teil durch Detonation leichtfertig gelagerter explosiver Chemikalien. Außer dem Atomschock von Harrisburg und der Benzinknappheit in Kalifornien sieht sich Amerika in diesen Tagen auch noch der großen Chemiemüll-Gefährdung ausgesetzt.

Aus Hunderten legalen und illegaler Deponien sickern giftige, krebserregende oder auch nur Übelkeit erzeugende Substanzen in die Erde, ins Grundwasser, in Flüsse, Seen und am Ende gelegentlich sogar in die Wasserleitungen.

Ganz in der Nähe des New Yorker »Giants«-Stadions, in dem Franz Beckenbauer und die Cosmos-Kicker ihre Heimspiele austragen, fanden sich in Pfützen und Rinnsalen Spuren von Quecksilber. Das hochgiftige Metall stammte aus einer nahen Chemikalienfabrik, die schon Jahre vor dieser Entdeckung pleitegegangen war.

In Charles City, einer knapp 10 000 Einwohner zählenden Siedlung im ländlichen Iowa, war es eine Fabrik für Tierarzneimittel, die Schaden anrichtete. »Es ist ein Who"s Who der amerikanischen Gifte«, lautete die Analyse des Beamten Charles Miller von der Umweltbehörde Iowas, der das Gelände untersuchte.

Von außen sieht die Deponie durchaus harmlos aus. Sie ist mit Mutterboden zugedeckt, nur die gelben »Durchgang verboten«-Schilder machen auf ihre Eigenheiten aufmerksam.

Unter der Oberfläche aber fließen Arsen, Benzolphenol und einige andere als giftig eingestufte Stoffe in das Grundwasser und später in den Cedar River. Flußabwärts liegt das Cedar-Valley-Wasserwerk, das die Gegend mit Trinkwasser versorgt. Miller: »Wenn dieses Zeug in das Wasserwerk gerät und sich ausbreitet, wird Love Canal wie ein Picknick aussehen.«

Der zugeschüttete Love-Kanal, eine von dem englischen Ingenieur William Love Ende des letzten Jahrhunderts geplante, aber nicht zu Ende gebaute Wasserstraße unweit der Niagara-Fälle, war Schauplatz einer ersten, vom amerikanischen Publikum mit ungläubigem Staunen registrierten Chemieabfall-Affäre (SPIEGEL 3/1979).

Vorigen Sommer wurden die Einwohner der Siedlung evakuiert, die in unmittelbarer Nähe des seit Jahrzehnten mit Chemikalien aller Art gefüllten Love-Kanal wohnten: Die Zahl der frühkindlichen Mißbildungen, der Leberleiden und Atembeschwerden lag weit höher als im nationalen Durchschnitt. Nach übereinstimmender Ansicht der Experten waren erhebliche Mengen giftiger Chemikalien in das Grundwasser geflossen.

Die Konzentration der giftigen oder ätzenden Stoffe war gelegentlich so hoch, daß Katzen, die an einer Pfütze geschlabbert hatten, binnen weniger Tage eingingen.

Unter US-Experten ist inzwischen nicht mehr strittig, daß die Gefahren der Chemielager auch nach dem Unfall im Atomkraftwerk von Three Mile Island durchaus den Risiken der Kernkraft vergleichbar sind. So ermittelte die New Yorker Firma Fred Hart Associates im Auftrag der Washingtoner Environmental Protection Agency, daß

* gut 30 000 Müllhalden potentiell gesundheits- oder umweltgefährdend sind, knapp 1000 davon enthalten erhebliche Mengen giftiger Stoffe;

* rund 75 Prozent der Halden unterhalb der Erdoberfläche in besonders feuchten, für die Wasserversorgung wichtigen Regionen liegen;

* die Giftlager allenfalls mit dem gigantischen Aufwand von 25 bis 50 Milliarden Dollar (knapp 48 bis 95 Milliarden Mark) abgebaut und die Abfälle zukunftssicher gelagert werden können.

Präsident Carters Plan, die Industrie zu einer Risiko-Abgabe von etwa einer halben Milliarde Dollar jährlich zu bewegen, scheint da recht bescheiden. Und auch die Versuche, die Chemiefirmen und Müllablagerer zu empfindlichen Strafen xerurteilen zu lassen, haben bisher nicht viel gebracht: Etliche der kleinen Firmen, die den Dreck der großen übernommen haben, sind pleite oder verschwunden. Die Chemiekonzerne wollen mit der Vergangenheit nicht belästigt werden, und der Staat selbst hat viele Chemie-Deponien angelegt.

Im Rausch der Wachstumsjahre, in der Hochzeit des American Way of Life, als das Land beinahe unendlich schien, wurde ohne Rücksicht auf Umweltschäden weggeschmissen. Ohne nennenswerte Behinderung durch Behörden oder Gerichte türmten Müllunternehmer im Bundesstaat Kentucky Hunderte von Metallfässern in einem Tal südlich der Stadt Louisville, die meisten randvoll mit giftigen Chemikalien, etliche binnen weniger Jahre durchgerostet.

Dieses »Valley of the Drums« wurde nicht selten vom Hochwasser des nahen Ohio-Flusses überspült. Aber alle Versuche der Behörden, den Müllablagerern das giftige Handwerk zu legen, scheiterten. zum Teil wegen mangelnder Rechtsgrundlage.

Ein etwas härteres Los könnte den Managern und dem Besitzer der Chemiefabrik Hooker Chemicals and Plastic Corporation bevorstehen Sie hat-

* Am Love-Kanal in Niagara-Falls: Plakat-Aufschrift: »Wir haben Besseres zu tun, als rumzusitzen und vergiftet zu werden!«

ten es selbst für amerikanische Verhältnisse übertrieben. Der zum Firmenreich des Ölmillionärs, Osthändlers und Breschnew-Bekannten Armand Hammer gehörende Chemiekonzern wird beschuldigt,

* in seiner Fabrik in Montagne, Michigan, täglich 4,5 Millionen Liter verseuchten Wassers in das Grundwasser und den Michigan-See abgelassen und

* in Kalifornien schwefelhaltige und Sterilität verursachende Pestizide nicht ordentlich abgelagert zu haben.

Allmählich regen sich in Amerika nach all diesen Skandalen nun doch Zweifel an manchen Eigenheiten der Industriegesellschaften im allgemeinen und der Vereinigten Staaten im besonderen.

Bei einem Kongreß-Hearing über den Love-Kanal sagte John H. Chafee, republikanischer Senator aus Rhode Island: »Hier haben wir etwas dem freien Markt überlassen, und das ist dabei herausgekommen!«

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