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Artikel 35 / 75

»FREUND, HÖRST DU DEN DUMPFEN SCHREI?«

aus DER SPIEGEL 49/1964

4. Fortsetzung

25. MÄRZ 1954

Der Kommandant der belagerten Festung plant einen Handstreich gegen besonders lästige Geschütz-Stellungen der Vietminh. Oberst de Castries

- für die »New York Times« an diesem

Tage (fünfspaltig) »Held von Indochina, Aristokrat und schneidiger Krieger« - befiehlt Major Bigeard zu sich.

Der forsche Eisenbahnersohn ist dem ebenso zynischen wie arroganten und eleganten Adligen - dem viele Männer in der Festung bereits den Respekt versagen - noch immer treu ergeben. Unter Beschuß springt er in den Fluß, um zu baden - denn bei ihm wird frisch rasiert und gut gewaschen gestorben. Dann eilt er zu Castries.

»Mein guter Bruno«, eröffnet ihm der Kommandant, »du mußt hingehen und mir die Fla im Westen wegschaffen.« »Gut. Wann?«

»Morgen. Hol dir, was du brauchst.« Bigeard reißt die Hacken zusammen: »Ich brauche nur Ihr Einverständnis für schwere Verluste bei den besten Leuten.« »Wir werden sehen«, meint Castries.

26. MÄRZ 1954

Um zwei Uhr früh trommelt Bigeard seine Offiziere zusammen und erläutert ihnen das Unternehmen. Noch während der Nacht kehren die Offiziere zu ihren Einheiten zurück, versetzen sie in Alarmbereitschaft und gehen mit ihnen in die Ausgangsstellungen.

Bei Tagesanbruch nehmen drei 10,5 -Zentimeter-Batterien, zwei 15,5-Zentimeter-Geschütze und drei schwere Granatwerferbatterien die feindlichen Ziele unter Feuer, während Bigeards Fallschirmjäger hinter Panzern zum Angriff vorgehen.

Um 6.25 Uhr gibt es die erste Feindberührung. Ein Zugführer vom 6. Kolonialfallschirmjägerbataillon, Oberleutnant Le Vigoureux, springt in die Stellung eines schweren Fla-MG, brüllt in sein Sprechfunkgerät: »Ziel erreicht« - und fällt mit einer Kugel in der Stirn.

Um 6.30 Uhr greift die Luftwaffe mit Bomben und Bordwaffen an.

Nacheinander werden die Zwei-Zentimeter-Schnellfeuerkanonen und die 12,7-Millimeter-MG der Vietminh erobert, die Bedienungsmannschaften niedergemacht und die Geschützstellungen mit Brandhandgranaten zerstört. Um 15 Uhr kommt der Befehl zum Rückzug.

Fünf Zwei-Zentimeter-Schnellfeuerkanonen und zwölf 12,7-Millimeter-MG wurden vernichtet. Die Fallschirmjäger haben zwei Bazookas, vierzehn MG und hundert Gewehre erbeutet. Der Preis sind zwanzig Tote und fünfundsechzig Verwundete. Den Gegner hat Bigeards Angriff dreihundertfünfzig Mann gekostet.

29. MÄRZ 1954

Dominique 1 und 2, Eliane 1 und 2 sowie Huguette 7 sind von feindlichen Schützengräben fast umschlossen. Die Vietminh arbeiten sich unterirdisch heran. Sie ziehen die Pfähle der Drahtverhaue heraus und rollen mit Erde gefüllte Mattensäcke vor sich her. als Schutz gegen hochgehende Minen.

Wenn der Angriff losbricht, werden Eliane und Huguette halten. Aber wie wird es Dominique ergehen, wo Algerier eingesetzt sind? Wie soll Langlais sie dazu bringen, für Frankreich ihr Leben zu riskieren, wenn Frankreich ihnen die vollen Bürgerrechte vorenthält?

In Paris tritt der engere Kriegsrat zusammen, um die militärischen und politischen Aspekte des Unternehmens zu untersuchen. Die direkte Intervention von amerikanischen schweren Bombern und ihren Begleitjägern würde wahrscheinlich Vergeltungsangriffe der chinesischen Luftwaffe auf die Basen des Expeditionskorps zur Folge haben.

Oberst Raymond Brohon als persönlicher Referent von General Ely wird beauftragt, sich zum Oberkommandierenden zu begeben, um eine Antwort auf diese Fragte einzuholen. Weder bei dieser noch bei den folgenden Sitzungen des engeren Kriegsrats wird Protokoll geführt. Von der Korrespondenz über die erwogene amerikanische Intervention ist nichts erhalten geblieben - nur einige versehentlich aufbewahrte Antworttelegramme auf verschwundene Dokumente der Gegenseite wurden abgeheftet.

Weil es nicht darum geht, mehrere hundert Tonnen Bomben auf die gut ausgebauten Stellungen der Vietminh abzuwerfen, sondern um A-Bomben, die die Angreifer auszulöschen hätten, ist wohl tatsächlich mit einer heftigen Reaktion Chinas zu rechnen.

Darüber ist Dulles sich auch im klaren, als er vor dem »Oversea Press Club« eine Rede hält, mit der er die öffentliche Meinung in Amerika auf große Gefahren vorbereitet. »Aber die Gefahren sind weniger groß«, so meint er, »als die, auf die wir uns in wenigen Jahren gefaßt machen müßten, wenn wir nicht jetzt unsere ganze Entschlossenheit zeigen würden.«

Nachdem General Navarre in Hanoi noch dem Affentheater der Vereidigung von vietnamesischen Offizieren auf Bao Dai beigewohnt hat, kehrt er nach Saigon zurück und schreibt einen langen Brief an General Cogny. Oben links setzt er den Vermerk: »Persönlich. Streng geheim.«

Das Schreiben soll Cogny zerschmettern. Man gewinnt den Eindruck, daß Navarre die Niederlage kommen sieht und nicht allein der Verlierer sein will. Und wenn er nur einen Mann mitreißt, soll dieser Mann jedenfalls Cogny sein.

So schreibt er: »Rechnen Sie nicht auf irgendwelche Verstärkungen von mir.« 30. MÄRZ 1954

Während des ganzen Tages sind Wolkenbrüche über Dien-Bien-Phu niedergegangen. Alles versinkt im Schlamm.

Als um 18.45 Uhr der Massenangriff der 312. und der 316. Vietminh-Division in sechs Stoßrichtungen beginnt, meldet Botella nach kurzer Zeit über Sprechfunk: »Die Marokkaner von Eliane fliehen auf mich zu.«

Wenig später muß Bigeard schon Langlais rufen: »Die Besatzung von Dominique 2 haut geschlossen ab. Ich sehe die Algerier in völliger Auflösung den Hang zum Fluß hinunterlaufen.« Dominique 1 antwortet nicht mehr. Die überrollten Marokkaner leisten keinen Widerstand, und allein die Vietminh-Kompanie Dang Vo macht siebenundvierzig Gefangene.

Fünf von Langlais eingesetzte Kompanien erobern Eliane 2 zurück. Als sich die Fremdenlegionäre in ihre Ausgangsstellungen für den Angriff begaben, hörte Bigeard, wie sie deutsche Soldatenlieder sangen.

Sieben auf der Provinzstraße 41 eingesetzte Panzer unter Hauptmann Hervouet mähen die Vietminh nieder, die zwischen Dominique und Eliane zum Zentrum durchzustoßen versuchen.

Doch im Abschnitt von Dominique 3, am Ostufer eines toten Flußarms, gerät die von Oberleutnant Brunbrouck befehligte 4. Batterie des 4. Kolonial-Artillerie-Regiments in den Bereich der feindlichen Infanteriewaffen und ist in Gefahr, eingeschlossen zu werden:

Die Telegramme, die sich auf dem Schreibtisch von General Navarre in Saigon ansammeln, lassen den neuen Rückschlag erkennen.

Auf die dringende Bitte von Langlais fordert Cogny bei Navarre zusätzliches Material an: Er braucht 118 Dakotas, um täglich 295 Tonnen abwerfen zu können. Denn die Luftwaffe hat jetzt mit 175 Tonnen ihre Leistungsgrenze erreicht. »Der Ausgang der Schlacht hängt weitgehend davon ab«, erläutert Cogny.

Zum Chef seiner Führungsabteilung - der ihn fragt, welche Antwort er geben soll - sagt Navarre: »Das werden wir heute abend in Hanoi entscheiden.«

31. MÄRZ 1954

Um 1.15 Uhr früh trifft Navarre in Hanoi ein, während die Dakotas über der Festung neue Einheiten absetzen. Oberst Bastiani empfängt den Oberkommandierenden auf dem Flugplatz und entschuldigt seinen Chef: Cogny hat sich vor Ermüdung hinlegen müssen.

Navarre arbeitet neue Instruktionen aus: Die Kampfmoral der Besatzung soll gestützt werden durch die Vorstellung, daß sie die Ehre Frankreichs und Vietnams verteidigt und die Hauptmacht des Gegners bindet. Das Zentrum der Verteidigung und Isabelle seien »um jeden Preis zu halten«. Wesentliche Verstärkungen würden nur noch gewährt, sofern »der Sieg mit Sicherheit zu erwarten« sei.

In Dien-Bien-Phu liegen an diesem Morgen neben gefallenen Fremdenlegionären und Fallschirmjägern Hunderte von toten Vietminh auf den Hängen der Kuppen und in den verminten Gräben zwischen Straße und Fluß.

Oberstleutnant Langlais ist heiser geworden. Die ganze Nacht hindurch hat er seine Bataillonskommandeure über Sprechfunk gerufen. Jetzt, am frühen Morgen, schickt er noch einmal Hervouet mit seinen Panzern los:

»Setz dich auf deine Büffel, galoppier auf die Straße nach Him Lam und walz mir alles weg, was sich da noch 'rumtreibt.«

Die Nachtgefechte haben tausendfünfhundert Mann gekostet, und auch Hervouets Vorstoß bringt nichts ein als fünfzig Verwundete, fünfzehn Vermißte und Schäden an drei Panzern.

Langlais verlangt von Hanoi dringend eine neue Fallschirmjäger-Kampfgruppe. Als er den Hörer des Sprechfunkgeräts aus der Hand legt, bricht er erschöpft zusammen.

Geschützfeuer weckt ihn gegen Mittag. Er fragt nach den Verstärkungen. Kopfschütteln antwortet ihm. Da verliert er die Beherrschung: »Verflucht noch mal, worauf warten die denn in Hanoi?«

In Hanoi zeigen Navarre und Cogny heute zum erstenmal offen ihre Feindschaft. Die Meldungen aus der Festung konfrontieren die Stäbe einer tragischen Wirklichkeit. Die Katastrophe schreit nach Verantwortlichen.

Navarre trifft die nahe Niederlage in seinem Stolz, Cogny ins Herz. Navarre ist bei den Männern kaum bekannt; wenn er geht, hat er nur einen Pokereinsatz verloren. Cogny dagegen kann den Männern nicht mehr ins Gesicht sehen, die ihm die Verantwortung für eine Niederlage aufbürden werden, von der er überzeugt ist, daß Navarre sie verschuldet hat.

Navarre glaubt nach wie vor an »Atlante« als Rettungsmöglichkeit für Dien-Bien-Phu, während Cogny »Atlante« als ein Faß ohne Boden betrachtet, in dem auch seine eigenen Reserven noch verschwinden werden.

Cogny schlägt einen Vorstoß aus dem Delta oder aus Laos vor.

»Aus dem Delta kommt nicht in Frage«, erklärt Navarte, »aus Laos, das können Sie mal prüfen lassen und mir dann vortragen.«

In der Festung sind Eliane 1 und Dominique 1 und 2 verlorengegangen. Mit Dominique 2 müssen die Verteidiger auf eine entscheidende Bastion verzichten: Seit dem Verlust von Beatrice hat sie den Zugang aus Nordosten gesperrt. Die Vietminh können von nun an ungehindert in das Becken strömen, den Nam Youm überschreiten, Frontalangriffe gegen die Stützpunkte führen, die das Zentrum decken, und das letzte. Hindernis, den Felskegel von Eliane 4, in die Zange nehmen. Dominique 2 beherrscht das ganze Becken. Das Herz der Festung ist nur zwölfhundert Meter davon entfernt.

»Wollen Sie sich lieber zurückziehen?« wendet sich Langlais an Bigeard.

»Solange noch ein Mann am Leben ist«, erwidert Bigeard, »gebe ich Eliane 4 nicht auf!« Denn: »Sonst ist Dien-Bien-Phu erledigt.«

In Washington richten die Senatoren und die Mitglieder des Kongresses zur gleichen Zeit peinliche Fragen an Admiral Radford:

»Kann die amerikanische Luftwaffe Dien-Bien-Phu retten?«

»Dafür ist es zu spät.«

»Könnte ein Eingreifen der Luftwaffe den Einsatz aller Waffengattungen der amerikanischen Armee, einschließlich der Infanterie, nach sich ziehen?«

»Das ist möglich.«

»Sind die Stabschefs der Ansicht, daß der Kongreß dem Präsidenten eine Dringlichkeitsvollmacht erteilen sollte?«

»Die Stabschefs haben diese Frage nicht geprüft.«

Die Leaders empfehlen daraufhin ein gemeinsames Vorgehen, und John Foster Dulles stimmt ihnen zu. Aber auf den Vorschlag, einen Parlamentsbeschluß zu beantragen, der dem Präsidenten freie Hand für den Einsatz der Luftwaffe geben würde, antworten alle Leaders - denen man von A-Bomben noch nicht mal etwas zu sagen gewagt hat - mit einem eindeutigen Nein.

In den Laufgräben zum Lazarett von Dien-Bien-Phu liegen Algerier und Marokkaner im Schlamm und flehen Grauwin an, sie als Sanitäter einzusetzen. »Da oben sind zu viele Tote«, stammelt einer. »Warum denn das Ganze? Unsere Frauen und unsere Kinder brauchen uns doch noch.«

Grauwin schickt sie mit ein paar freundlichen Worten zu ihren Einheiten zurück. Einheiten? Die meisten ihrer Offiziere sind gefallen oder verwundet. Und in die Löcher an der Uferböschung haben sich die letzten überlebenden Thais verkrochen. Sie kommen nur noch nachts hervor, um Lebensmittel zu organisieren.

Als Grauwin über die Schwerverwundeten zum Operationstisch zurücksteigt, hört er das Schluchzen einer Frau: Geneviève de Galard lehnt an der Wand und weint. Seit drei Tagen ist diese Transport-Begleitschwester - die man den »Engel von Dien-Bien-Phu« nennt - mit der Besatzung ihrer zerstörten Maschine in der Festung. Unermüdlich hat sie geholfen und gelächelt. Nun ist sie am Ende.

Die Lazarette quellen über von Verwundeten und Sterbenden.

1. APRIL 1954

Cogny schickt Navarre eine Aufstellung, in der er auf die Möglichkeit hinweist, ein Fallschirmjäger-Unternehmen von Laos aus zu starten und zu versorgen, sofern in Laos achtzehn Dakotas und genügend Fallschirme bereitgestellt würden.

An Oberst de Castries gibt er sodann eine abgemilderte Version der Instruktion von General Navarre durch ("Die Besatzung verteidigt die Ehre Frankreichs und Vietnams") - und Castries und Langlais wissen nun also, daß sie von Hanoi nicht mehr viel erwarten dürfen.

Ely-Referent Oberst Brohon ist heute in Saigon eingetroffen. Er besteigt mit Generalkommissar Dejean dessen Maschine und fliegt nach Hanoi. Eine Viertelstunde nach der Landung treffen in der Maisonde France als Gäste von Maurice Dejean die Generäle Navarre, Bodet und Cogny zum Abendessen ein. Nach der Mahlzeit findet eine Geheimbesprechung statt.

Oberst Brohon berichtet von dem Vorschlag des Admirals Radford und übermittelt die vom engeren Kriegsrat gestellten Fragen. Er verweist auf die Gefahren, die mit dem Einsatz von A-Bomben verbunden wären, weil sie nicht nur auf die rückwärtigen Verbindungen, sondern auch im Becken möglichst nah am Zentrum der Verteidigung abgeworfen werden müßten.

So begrenzt die unmittelbare Zerstörungskraft auch sein mag: Die heiße Detonationswelle könnte angesichts der Geländebedingungen im Becken für die Besatzung eine ernsthafte Gefahr darstellen. Außerdem würde es äußerster Treffgenauigkeit bedürfen; die Aufschlagstellen müßten klar durch unverwechselbare farbige Markierungsbomben gekennzeichnet werden.

2. APRIL 1954

In Hanoi findet im Laufe des Vormittags eine weitere Unterredung in der Maison de France statt: Sechzig B 29 mit hundertfünfzig Jägern der 7. Flotte als Geleitschutz könnten ja erst mal losdonnern, ohne gleich den Blitz herabzucken zu lassen.

Doch als Oberst Brohon mit Maurice Dejean um 14.45 Uhr nach Saigon zurückfliegt, nimmt er, der Bote der Regierung, eine abschlägige Antwort von General Navarre mit: Der General befürchtet Vergeltungsangriffe der chinesischen Luftwaffe auf die Flugstützpunkte des Expeditionskorps.

Zwischen Navarre und Cogny kommt es zwischen 16.10 Uhr und 17.40 Uhr spektakulär zum Bruch, und zwar in Navarres Arbeitszimmer im Erdgeschoß der Villa am Großen See.

»Wir haben uns da lauter unerfreuliche Dinge geschrieben«, sagt Navarre. »Wir sollten jetzt mal in aller Ruhe darüber sprechen.«

Doch Cogny wird laut. Er eröffnet Navarre, daß er nicht mehr freiwillig unter seinem Befehl arbeiten werde.

Navarre ist geradezu erleichtert: Endlich packt Cogny aus! Navarre ist schon lange davon überzeugt, daß Cogny ihn verrät. (In Paris hat Madame Navarre erst kürzlich einen Brief aus ihrer Handtasche gezogen und herumgereicht, in dem ihr Mann schreibt: »Dieses Schwein von Cogny verrät mich tagtäglich ... »)

»Wenn Sie kein Vier-Sterne-General wären«, brüllt Cogny, »würde ich Ihnen eine Ohrfeige geben.«

»Sie wollen diesen Auftritt bitte für sich behalten«, sagt Navarre.

»Das betrachte ich als meine erste Pflicht«, erwidert Cogny, schlägt die Hacken zusammen und geht.

3. APRIL 1954

Navarre läßt Cogny eine Antwort auf dessen Schreiben vom 1. April überbringen; er nimmt Cognys Wunsch zur Kenntnis, der seiner eigenen Vorstellung entspricht: Cognys Anwesenheit soll nicht über das Ende des laufenden Operationszeitraums hinaus verlängert werden.

4. APRIL 1954

Bréchignac, kurz »Breche« genannt, ist der Kommandeur des 2. Bataillons des 1. Fallschirmjägerregiments, das auf Epervier, also auf dem zentralen Stützpunkt zwischen Huguette und Eliane -Dominique, mit dem Hauptgefechtsstand im Süden in Stellung gehen soll. Noch in der Nacht meldet er sich mit zerfetztem Kampfanzug im Gefechtsstand von Langlais.

Zur gleichen Zeit holen die Antennen endlich mal eine hoffnungsvolle Nachricht nach Dien-Bien-Phu herein: Cogny meldet, daß die vom Mutterland geschickten frischen Truppen die Bereitstellung weiterer Einheiten in Bataillonsstärke erlauben werden. Langlais brüllt vor Freude.

Aber wo soll das neue Bataillon abspringen, wenn der vorgeschobene Stützpunkt Huguette 6 am Nordende der Landebahn nicht so lange gehalten werden kann? Ein Windstoß genügt ja, um die Fallschirme in die feindlichen Linien abzutreiben!

Aus der Höhe von 3000 bis 4000 Meter, unterhalb derer die Flugzeuge zu oft abgeschossen werden, fallen die Lasten unkontrolliert über ein weites Gebiet. Die großen doppelrümpfigen »Packeis« die ihre Lasten wie ein Kipp-Lkw herausrutschen lassen - werfen ihre sechs Tonnen oft kilometerweit daneben. Bei gutem Wetter gelingt es pro Tag achtzehn Dakotas, ihre Ladung abzuwerfen. Die Hälfte davon landet bei den Vietminh.

Und in der Sprechfunksendung, die sie fast jeden Abend veranstalten, geben die Vietminh dann höflich durch: »Schönen Dank für die 10,5-Zentimeter-Granaten. Ihr kriegt sie bestimmt wieder.«

NACHT 4./5. APRIL, 5. APRIL 1954

Langlais will sich gerade auf seinem Feldbett ausstrecken, als Vietminh-General Giap um 20 Uhr seine 10,5-Zentimeter-Granaten auf Huguette 6 prasseln läßt.

Um 21 Uhr haben die Vietminh in den vordersten Stellungen Fuß gefaßt. Sie schließen den Stützpunkt ein und riegeln ihn vor allem nach Süden ab. Die Panzer werden mit Bazookas unter Feuer genommen. Langlais alarmiert um 4 Uhr früh Bigeard, der von Eliane 4 aus den Kampf am Sprechfunkgerät verfolgt hat.

In Paris begibt sich Oberst Brohon in die Rue Puvis-de-Chavannes, wo General Ely in einem vornehmen Patrizierhaus wohnt. Er berichtet gerade von seiner Reise und den Argumenten, mit denen Navarre eine amerikanische Intervention abgelehnt hat, als ein Offizier vom Verteidigungsministerium mit einer dringenden Meldung das Gespräch unterbricht:

Navarre ist nach reiflicher Überlegung nun doch mit dem Unternehmen »Vautour« (A-Bombe) einverstanden und wünscht, daß es in sechs bis acht Tagen abrollt.

General Ely läßt sofort eine Sitzung des engeren Kriegsrats in den Matignon -Palast einberufen.

Der engere Kriegsrat hört zunächst Oberst Brohon, der vorträgt, was er über Dien-Bien-Phu weiß und was ihm General Navarre gesagt hat.

Nach eingehender Beratung kommt der engere Kriegsrat zu dem Schluß, daß das Atom-Unternehmen »Vautour« die einzige Rettungsmöglichkeit für Dien-Bien-Phu ist, und zwar unter der Voraussetzung, daß es - wie General Navarre in seinem Telegramm fordert - »sofort und massiv« durchgeführt wird.

Die Zeit drängt. Der Rat beschließt, den US-Botschafter zu hören. Douglas Dillon kommt. In Anwesenheit des Außenministers bittet Ministerpräsident Laniel den Botschafter, die amerikanische Regierung um die Auslösung- von »Vautour« zu ersuchen.

Dillon verspricht, daß er sich sofort mit seiner Regierung in Verbindung setzen werde. Er weist allerdings darauf hin, daß der Präsident der Vereinigten Staaten - im Gegensatz zur ursprünglichen Annahme - unter Umständen doch gezwungen sein könnte, die Zustimmung des Kongresses einzuholen.

Zwei Flugzeugträger der 7. Flotte kreuzen, mit A-Bomben ausgerüstet, im Golf von Tonkin. Während in Paris noch diskutiert wird, überfliegen der Kommandierende Admiral der 7. Flotte und sein Stab das nächtlich-dunkle Becken von Dien-Bien-Phu. Wegen des Motorenlärms der Dakotas - die Leuchtbomben und Napalm werfen - kann Langlais das Donnern der Düsenmaschinen nicht hören, in denen die amerikanischen Offiziere hocken und bereits die Flugstrecke und das Ziel erkunden.

In Washington ist der Himmel über der Kuppel des Capitols eben dunkel geworden, als John Foster Dulles im State Department die verschlüsselten Kabel seines Pariser Botschafters empfängt. Die Situation erscheint ihm nicht mehr ganz so einfach, seit er seine Rede vor dem »Oversea Press Club« gehalten und später die Leaders des Kongresses zusammengerufen hat, um ihnen die Lage in Indochina und die Absichten von Admiral Radford vorzutragen.

Die Abfuhr, die er sich vor einer knappen Woche geholt hat, ist ihm eine Lehre: Er unternimmt nichts.

6. APRIL 1954

In Paris tritt erneut der engere Kriegsrat zusammen und nimmt mit größtem Erstaunen das Telegramm zur Kenntnis, das John Foster Dulles seinem Pariser Botschafter geschickt hat.

Der Berg hat eine Maus geboren: Das einzig mögliche Vorgehen in Indochina soll außer von den drei westlichen Großmächten von Australien, Neuseeland, Siam und den Philippinen gemeinsam getragen werden, so heißt es lediglich.

Die Vorschläge von Admiral Radford

- der bereit gewesen ist, die Kommunisten in Indochina auszurotten, der einen atomaren Kreuzzug gegen China unternehmen und das State Department vor vollendete Tatsachen stellen wollte

- sind an den Bedenken des Kongresses gescheitert.

Präsident Eisenhower ist sofort bereit, die ganze Sache in Form von freundlichen Erklärungen aus der Welt zu schaffen.

Schon jetzt ist ausgeschlossen, daß die Intervention - wenn sie überhaupt zustande kommt - mit A-Bomben durchgeführt wird. Niemand wagt, einen solchen, nicht wiedergutzumachenden Schritt gerade jetzt vor der für den

8. Mai vorgesehenen Genfer Konferenz zu unternehmen.

Doch Navarre weiß: Um Dien-Bien-Phu zu retten, bleiben nur die Atombomben. Die B 29 der US-Air-Force werden von Clark Field auf den Philippinen kommen. Und wenn sie ankommen, wird der Himmel zur Flamme werden, und sie werden zu Staub und Asche verbrennen, diese roten Kämpfer, die mit keiner konventionellen Waffe überwunden werden können.

8. APRIL 1954

Der französische Botschafter in Washington bringt John Foster Dulles die Enttäuschung seiner Regierung zum Ausdruck:

»Da keine unmittelbare und nachdrückliche Hilfe für Dien-Bien-Phu möglich ist«, sagt Monsieur Bonnet, »konnte auch kein Interesse daran bestehen, in aller Eile eine Koalition aufzubauen, die nach der Schlacht ohnehin zustande gekommen wäre.«

»Es ist nicht daran zu denken«, erwidert Dulles, »daß die Vereinigten Staaten, die ja nicht unmittelbar in den Kampf verwickelt sind, ohne eine weitere offene Provokation von sich aus einen solchen kriegerischen Akt unternehmen, zu dem in jedem Falle die vorherige Zustimmung des Kongresses notwendig wäre.«

»Unter diesen Umständen«, so gibt der Franzose zur Antwort, »darf ich Eurer Exzellenz mein Bedauern darüber ausdrücken, daß man diese Möglichkeit erwogen hat und daß diese Hoffnung die heute enttäuscht wird, überhaupt erweckt worden ist.«

10. APRIL 1954

Seit zwei Tagen werden auf Vorschlag von Bigeard die Vietminh planmäßig irregeführt. Im Sprechfunkverkehr ist unentwegt von irgendwelchen großen Einheiten die Rede; und es wird nur von »Bataillon« gesprochen, wenn irgendeine dezimierte Kompanie gemeint ist.

Überall fließt Blut. In feuchter Hitze mischt sich der Gestank von Benzin, verbranntem Fleisch und Leichen. Feuerstöße aus automatischen Waffen peitschen über die Gräben. Granatwerfereinschläge zerreißen die Leiber. Die Überlebenden sind schweißgebadet in ihrer schweren Kampfausrüstung.

Seine Majestät Bao Dai fliegt nach Frankreich, wo er der Welt zeigen will, daß er alle Kräfte seines Landes verkörpert.

Seit der Ankündigung der Genfer Konferenz ist die vietnamesische Armee in Auflösung. Nur junge Leute, die sich nicht drücken konnten, oder Studenten, die auf eine Offiziersstelle und damit auf einen einträglichen Posten rechnen können, lassen sich noch einberufen. Von 94 000 Gestellungsbefehlen - ergangen unter der Androhung von Kriegsgerichtsverfahren - werden knapp 5400 befolgt.

Um die Lücken zu füllen, werden Razzien auf den Reisfeldern und in den Städten durchgeführt. Von Gendarmen bewacht, treten die Rekruten auf Lkw die Fahrt in die Kaserne an.

Sechs Monate nach der Aufstellung der »leichten Infanteriebataillone« ist ein Viertel des Mannschaftsbestandes schon wieder verschwunden. Für wen sollten die Truppen der vietnamesischen Armee auch in den Tod gehen wollen?

Die vietnamesischen Generäle fahren in amerikanischen Wagen und geben Partys. Ihr wütender Antikommunismus erklärt sich aus den handfesten Vorteilen, die ihnen der Kapitalismus bietet: Orden, Mädchen und Piaster.

Aber: Wer außer ihnen und den französischen Hohen Kommissaren glaubt denn überhaupt noch daran, daß ein einziger Mensch für Seine Majestät Bao Dai zu kämpfen bereit ist? Welcher Soldat dieser Armee mag denn in den Krieg ziehen, um die Großgrundbesitzer und Provinzoberhäupter noch reicher zu machen?

11. APRIL 1954

Wenn in Dien-Bien-Phu dreißig Bauchverletzungen anfallen, muß Grauwin zehn heraussuchen und den übrigen zwanzig Soldaten durch Morphiumspritzen das Sterben erleichtern.

Am Spätnachmittag wird Eliane 1 unter Trommelfeuer genommen. Langlais scheucht die Reste des 6. Kolonialfallschirmjägerbataillons in den Granatenhagel. Die Männer, die auf die kahle Kuppe steigen, wissen, was sie erwartet. Aber die Offiziere reißen sie mit nach vorn.

Die ersten Gruppen schießen die dicht hinter ihrer Feuerwalze anstürmenden Vietminh zusammen, und es gelingt ihnen - von Trichter zu Trichter springend -, die Stellung zurückzuerobern.

Als sie von einer Kompanie des 1. Fallschirmjägerbataillons der Fremdenlegion abgelöst werden, ist Oberleutnant de Fromont gefallen, und ganze sieben Mann sind übriggeblieben, aus denen kurz darauf - als sie in ein Minenfeld geraten - drei geworden sind; die laut in die Nacht hinausbrüllen.

12. APRIL 1954

In den frühen Morgenstunden müssen alle verfügbaren Einheiten nach vorn geworfen werden, um die Stellungen zu halten. Die Leichen liegen schon übereinander auf der Kuppe von Eliane 1, wo der Boden immer wieder von der Artillerie aufgewühlt wird und der Schrott der zerstörten Waffen und Ausrüstungsgegenstände sich mit dem roten Lehm vermischt. In den bis zur Hälfte mit Gefallenen ausgefüllten Gräben hält das Bataillon Bréchignac noch immer aus.

Jetzt wissen alle, daß Castries nicht mehr für voll zählt. Er führt nicht mal mehr den Vorsitz der täglichen Lagebesprechungen, bei denen die Taktik festgelegt wird. Das Gewicht der Schlacht ruht auf den Schultern eines Oberstleutnants - Langlais -, der keinerlei Stabsausbildung hat, und Cogny spielt nur noch die Rolle eines Etappenkommandeurs.

14. APRIL 1954

In einem offensichtlich von Langlais inspirierten Funkspruch faßt Castries die Lage in einer prophetisch düsteren Feststellung zusammen: »Das Schicksal von Dien-Bien-Phu wird vor dem 10. Mai entschieden sein.« Und zwar mit dem bitteren Nachsatz: »Ganz gleich, welche Bestimmungen für die Sprungausbildung gelten.« (Denn in Hanoi wird über die ungewöhnliche Methode diskutiert, Freiwillige schon bei ihrem ersten Sprung der Gefahr auszusetzen.)

Langlais und Bigeard zählen die Truppen auf, die ihnen noch verbleiben: An der Westseite 814 Mann, die Reste von drei Bataillonen der Fremdenlegion; im Südwesten ein aus zwei Kompanien bestehendes Marokkaner-Bataillon. Alle übrigen Stellungen werden von den Fallschirmjäger-Bataillonen gehalten, die zusammen ungefähr 2500 Mann stark sind. Der Rest zählt nicht.

Die nicht mal mehr durch Drahtverhaue voneinander getrennten Stellungen sind Massengräber geworden; die Gegner liegen einander auf dreißig Meter gegenüber.

In den Lazaretten und auf den Bataillonsverbandsplätzen führen die Ärzte einen hoffnungslosen Kampf gegen die Maden. Mit Desinfektionsmitteln und ungelöschtem Kalk lassen sich die Unterstände nicht mehr rein halten. Man müßte die Toten tief vergraben, die nähere Umgebung der Stellungen entseuchen und den Schlamm fernhalten können, in dem die Fliegen ihre Eier auf Kot, Urin und Leichenteile abgelegt haben.

Die Ruhmestat von Dien-Bien-Phu, die von den Zeitungen der freien Welt gefeiert wird, besteht in Wirklichkeit darin, daß Männer in blutigsten Dreckloch Asiens »für das Abendland« kämpfen.

Aus den französischen Stellungen brüllen Lautsprecher in vietnamesischer Sprache ihre Redensarten zu den Vietminh hinüber: »O feindliche Brüder, ihr tut uns leid. Bald seid ihr alle tot. Wollt ihr nicht lieber mit uns nach Hanoi fliegen?«

MG und Granatwerfer geben die Antwort.

Vietminh-Hauptmann Hien, Stabschef des 57. Regiments, trägt alles in sein Tagebuch ein. Zweimal steht da der Satz:

»Ihr habt doch die Schnauze voll da drüben. Ergebt euch. Dann wird es euch besser gehen...«

15. APRIL 1954

Seit einiger Zeit ist viel von einer Beförderung Castries die Rede. Ein Held muß General sein; und selbst Präsident Eisenhower hat sein Erstaunen darüber ausgedrückt, daß Dien-Bien-Phu nur von einem Obersten kommandiert wird.

In einer Reihe von Telegrammen fordert Navarre die Generalssterne für Castries als eine Aufmunterung für die ganze Besatzung. Und er bekommt, was er wünscht.

Im Ministerrat stemmt sich Marc Jacquet zwar gegen die Ernennung von Castries zum Brigadegeneral. Und auch Pierre de Chevigné, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, der den Fall der Festung befürchtet, meint: »Der Sieg der Vietminh ist weniger großartig, wenn sie nur einen Obersten gefangennehmen.« Doch andere Mitglieder der Regierung setzen sich dafür ein, daß Castries seine Sterne bekommt.

Das Ereignis des Tages ist die Gegensprechfunk - Unterhaltung zwischen Hanoi und Dien-Bien-Phu, in deren Verlauf Cogny Castries mitteilt, daß Castries zum Brigadegeneral ernannt worden ist, daß Langlais, Lalande und Bigeard außer der Reihe befördert worden sind.

Castries gibt seine Schulterstücke Langlais, der den roten Stoff mit Ausziehtusche schwarz färbt - Langlais reicht seine an Bigeard weiter. Nur die Sterne des neuen Brigadegenerals sind ein Problem. Schließlich spendiert Cogny seine alten, die er vor der Übernahme des Befehls im Tonkin getragen hat.

»Ich schicke Ihnen die Sterne und was zum Begießen«, funkt er.

Alle Containers, die an diesem Tage innerhalb der Stellungen herunterkommen, werden besonders sorgfältig durchsucht - doch nirgends finden sich die Sterne.

Später behauptet der Vietminh-Rundfunk, die Sterne seien mit den Cognac -Flaschen, den Ehrenlegionskreuzen, Militärmedaillen und Kriegskreuzen in die Linien der Belagerer gefallen.

18. APRIL 1954

Die Christenheit, in der Kathedrale von Hanoi ebenso wie in den Kirchen Europas, singt das erste Halleluja. In Dien-Bien-Phu, wo sich die Männer in kleinen Gruppen zur Beichte und zur Kommunion einfinden, kommt dem Militärpfarrer Trinquand der liturgische Freudenruf nur mühsam über die Lippen.

Die Chirurgen operieren seit fünf Uhr früh. Im verfliegenden Nebel geht heftiger Artillerie- und Granatwerferbeschuß auf das Zentrum nieder; von der Decke rieselt Erde auf die Verwundeten und den Altar.

Eine 10,5-Zentimeter-Salve umrahmt Hauptmann Capeyron, der gerade seinem Bataillonskommandeur eine Akte mit Auszeichnungsvorschlägen in den Gefechtsstand bringt. Der ihn begleitende Fremdenlegionär verliert einen Arm; ein zufällig in der Nähe weilender Marokkaner wird getötet.

23. APRIL 1954

Huguette 1 ist heute nacht gefallen. Zwei zum Entsatz geschickte Kompanien bleiben mit schweren Verlusten liegen. Um sieben Uhr befiehlt General de Castries Langlais und Bigeard zu sich. Huguette 1 müsse zurückerobert werden - sonst sei Nachschub durch Fallschirmabwurf nicht mehr möglich.

Bigeard hält den Gegenangriff für gefährlich und sinnlos. Langlais schließt sich seiner Meinung an. Doch General de Castries bleibt bei seiner Forderung: Der Gegenangriff hat stattzufinden!

Vier B 26 und die Artillerie, decken Huguette 1 so heftig ein, daß nur noch ein Dutzend Vietminh übrigbleiben, die von dem Bomben- und Granatenhagel gänzlich verstört sind und sich nicht mehr verteidigen können.

Doch als die Kompanien - mit Verspätung - vorgehen, sind die feindlichen MG-Nester wieder gefechtsbereit und bestreichen die Landebahn, über die der Angriff vorgetragen werden muß.

Um 15 Uhr läßt Castries bei Bigeard anrufen, der seit mehreren Nächten nicht geschlafen und sich eben auf sein Feldbett geworfen hat: »Ich habe den Eindruck, daß der Angriff nicht vorwärtskommt. Schau dir die Sache doch mal an.«

Trotz des Artilleriefeuers erreicht Bigeard im Jeep Huguette 2, wo sich der Befehlsstand für das Unternehmen befindet.

Bigeard klärt die Lage: Die Vietminh sind mit allen Waffen wieder. auf Huguette 1 in Stellung gegangen und mähen jede Gruppe nieder, die sich auf den glatten Billardtisch der Landebahn wagt.

Bigeard setzt die B 26 und die Artillerie ein, um den feindlichen Waffen die Sicht zu nehmen - und befiehlt den sofortigen Rückzug.

Dem stellvertretenden Kompaniechef, Oberleutnant Guérin, werden von einer Granate beide Beine abgerissen. Er schießt sich eine Kugel durch den Kopf.

Vietminh-General Giap hat befohlen, die Gräben möglichst nah an den Gegner vorzutreiben, um die Fallschirmverpflegung der Franzosen wegzuschnappen.

In Paris - wo er seine Reise von Washington nach Genf unterbricht - trifft sich, John Foster Dulles mit Georges Bidault, der ihm erklärt, daß ohne ein sofortiges Anlaufen des Atomwaffen-Unternehmens »Vautour« die Festung verloren sei. Noch ist alles drin, sofern sich die Regierung der Vereinigten Staaten entschließt, die B-29 -Bomber von Manila aus einzusetzen.

Bei dem Essen, das am Abend am Quai d'Orsay gegeben wird, nimmt Dulles seinen Kollegen Anthony Eden zur Seite und informiert ihn über den Plan »Vautour«, dessen Einzelheiten der Stab von General Ely gerade dem englischen Generalstab erläutert.

Eden ist peinlich überrascht und nimmt Dulles das Versprechen ab, ohne

die Zustimmung von Winston Churchill nichts Endgültiges zu entscheiden.

24. APRIL 1954

John Foster Dulles läßt der französischen Regierung einen beschwichtigenden Brief überbringen. Er vertritt die Ansicht, daß auch ein großer Luftangriff das Schicksal von Dien-Bien-Phu nicht mehr ändern kann, versichert aber zugleich, daß der Fall der Festung keinen Einfluß auf die militärische Stellung des Westens in Indochina und auf die Waffenhilfe haben werde, die seine Regierung weiterhin zu leisten bereit sei.

Ministerpräsident Laniel und Außenminister Bidault sehen in dieser Note vor allem den Ausdruck des Bedauerns der amerikanischen Regierung, Frankreich nicht nachdrücklicher helfen zu können, weil die militärische Lage hoffnungslos ist.

Bidault antwortet, daß die tatsächliche düstere Situation sich nach einem eben eingetroffenen Telegramm von General Navarre durchaus noch ändern kann. Auch ein Militärexperte habe nach einer Inspektionsreise die Auffassung vertreten, daß eine einzigartige Chance zur Vernichtung der feindlichen Streitkräfte bestehe, wenn das Unternehmen »Vautour« im Laufe der nächsten Stunden anlaufen könne.

Der, Brief von Bidault ist unaufrichtig: Der »Militärexperte«, von dem er spricht, ist General Ely und der war zwar in Dien-Bien-Phu, doch schon am 19. Februar, und ist beileibe nicht jetzt erst zurückgekehrt.

25. APRIL 1954

Eine außerordentliche Sitzung des britischen Kabinetts geht zu Ende, ohne ein gemeinsames Vorgehen der Alliierten vorzusehen - es sei denn, die Genfer Konferenz scheitert.

Doch plötzlich ändert sich das Bild, als der französische Botschafter von dem neuerlichen und diesmal vom Kongreß wohl zu billigenden Vorhaben Washingtons berichtet: Die amerikanische Regierung hat einen SOS-Ruf Frankreichs erhalten und ist nicht mehr unbedingt gegen eine Intervention. Im Gegenteil: Sie ist noch nie so nahe an der Entscheidung gewesen, und die A-Bomben sollen am 28. April von Flugzeugen der Marineluftwaffe abgeworfen werden, wenn Großbritannien sich dem Vorhaben nicht formell widersetzt.

Eden beruft das Kabinett für 16 Uhr ein, um die englische Haltung festzulegen. Die britischen Stabschefs sind gegen das Unternehmen. So kann Eden nur sein Bedauern ausdrücken, als er den Franzosen die Entscheidung des Kabinetts mitteilt.

Heute nachmittag überbringt Admiral Radford in London Winston Churchill eine persönliche Botschaft von Präsident Eisenhower. Hat Churchill daraufhin wirklich mit Präsident Eisenhower telephoniert und zu ihm gesagt: »Lassen Sie die Finger davon!«? Freilich - es ist ohnehin zu spät: Eden reist bereits nach Genf.

England denkt nicht daran, sich die guten Aussichten zu verderben, die der neue Markt Rotchina seinem Export bietet.

IM NÄCHSTEN HEFT:

Die letzten Tage von Dien-Bien-Phu - Die Vietminh haben Stalinorgeln - Der Marsch in die Gefangenschaft - Dien-Bien-Phu zehn Jahre später

Deutsche Rechte beim Bechtle Verblag, München und Eßlingen, 1964.

Sturmangriff der Vietminh: »O feindliche Brüder, ihr tut uns leid - bald seid ihr alle tot«

Verwundete Franzosen in Dien-Bien-Phu: Einverständnis für schwere Verluste erbeten

Dien-Bien-Phu-Strategen Navarre, Cogny:

»Dieses Schwein verrät mich tagtäglich«

Dien-Bien-Phu-Arzt Grauwin: Morphiumspritzen und das Lächeln eines Engels ...

Krankenschwester Geneviève de Galard ... erleichterten das Sterben

US-Diplomat Dillon

»Der Berg hat eine Maus geboren«

General Ely

»Nur einen Pokereinsatz verloren«

Dien-Bien-Phu-Kommandant Castries

»Ein Held ...

... muß General sein«. Dien-Bien-Phu-Verteidiger

Außenminister Bidault, Dulles

Ein Admiral der 7. Flotte ...

... erkundet das Zielgebiet: US-Flugzeugträger, Begleitschiffe im Golf von Tonkin

Premier Churchill

Eine persönliche Botschaft ...

US-Präsident Eisenhower (1954) ... verhindert den Atomschlag

Gefallene Verteidiger in Dien-Bien-Phu: Aufmunterung für die Besatzung telegraphisch angefordert

Jules Roy
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