»FREUND, HÖRST DU DEN DUMPFEN SCHREI?«
2. Fortsetzung
1. JANUAR 1954
Als Cogny am 29. Dezember nach Dien-Bien-Phu flog, mußte er eine Stunde über dem Becken kreisen, bevor die Maschine durch die Wolken stoßen und landen konnte: Der Luftweg ist also schon zeitweise abgeschnitten.
Dennoch gelingt es den Piloten, heute die letzte Infanterie-Einheit in die Festung einzufliegen; das 5. Bataillon des 7. Algerischen Schützenregiments. Mit ihm soll endlich der Stützpunkt Gabrielle besetzt werden, der in vier Kilometer Entfernung in der Startschneise auf den Hängen eines bewaldeten Höhenrückens liegt.
Gabrielle kann nur auf Unterstützung durch die Artillerie des Verteidigungszentrums rechnen. Die Leute von Gabrielle und ihr Kommandeur brauchen also nicht nur MG und Granatwerfer, wenn sie durchhalten wollen, sondern auch eine eiserne Standhaftigkeit, weil sie sich dort sehr verlassen vorkommen werden; sie haben nicht mal die Annehmlichkeiten der Hauptstellung: den von den Generatoren der Pioniere gelieferten elektrischen Strom, Fallschirmnachschub frei Haus und das beruhigende Gefühl der großen Zahl.
Zur gleichen Zeit schreibt Navarre nach Paris. Er meldet das Anrollen von Fla-Geschützen und - so vermutet er - schwerer Artillerie und gepanzerter Motorfahrzeuge beim Gegner. In seiner Sicht ist die Schlacht gewonnen, wenn es der Luftwaffe gelingt, dieses Material vor Eintreffen in Dien-Bien-Phu zu zerschlagen; vermag der Feind die Waffen in Stellung zu bringen, kann Navarre den Erfolg nicht mehr garantieren.
3. JANUAR 1954
Für Navarre ist noch nichts verloren, wenn er angesichts der Gefahren jetzt reagiert. Auch Giap ist nicht in der Lage, weitere Divisionen auszuheben und auszubilden, um sie in diesem Feldzug einzusetzen. In Dien-Bien-Phu wird der Augenblick kommen, da die Regenfälle große Operationen unmöglich machen. Wenn die Festung so lange durchhält, muß Giap seine Divisionen in ihre Sommerlager schicken, damit sie ihre Wunden lecken können; in diesem Augenblick könnte die Besatzung der Festung sich aus dem Staube machen.
Aber Navarre bleibt bei seinem großartigen Plan.
Am späten Vormittag klart das Wetter in Hanoi auf. Cogny startet nach Dien-Bien-Phu, wo er mit Castries zu Mittag ißt. Um 13.05 Uhr trifft Navarre mit Generalkommissar Dejean ein.
Der Herr Generalkommissar und der Oberkommandierende schreiten die Front eines Zuges des 5. Vietnam-Fallschirmjägerbataillons ab. Navarre trägt über seiner Feldbluse einen funkelnagelneuen Waffenrock. Er steht ihm schlecht; er verdeckt seinen Bauch nicht (den er auch noch herausstreckt, anstatt ihn einzuziehen).
Nach dem Besuch telegraphiert Generalkommissar Dejean an seinen Minister in Paris: »Unser Oberkommando ist der Ansicht, daß die Schlacht, wenn der Gegner sie liefern sollte, sehr hart wird, aber Erfolgsaussichten bietet. Die Armee von General Giap hat bisher noch nie vor einer so schweren Aufgabe gestanden.«
Damit wird zum erstenmal in einem amtlichen Dokument - und zwar ohne die beleidigenden Anführungszeichen - Giap der Generalsrang zuerkannt.
15. JANUAR 1954
Cogny ist wieder in die Festung geflogen und hat die Stellungen im Norden und Süden des Beckens inspiziert. Bei der Rückkehr nach Hanoi erklärt er dem Korrespondenten von United Press: »Ich sehne den Kampf in Dien-Bien-Phu herbei. Die Artillerie der Vietminh kann uns zwar eine Zeitlang zu schaffen machen, aber wir werden sie zum Schweigen bringen. Ich werde alles tun, damit Giap ins Gras beißt und ihm ein für allemal die Lust vergeht, den großen Strategen zu spielen.«
Oberst de Castries läßt - mit dem Einverständnis des Oberkommandos - Flugblätter über den feindlichen Stellungen und über den Straßen abwerfen oder sendet auf den Wellenlängen des gegnerischen Sprechfunks, um die Vietminh zu reizen: »Warum wartet ihr denn so lange mit dem Angriff, ihr Feiglinge? Wir stehen zum Empfang bereit.« Oder: »Wir sind fertig. Wenn ihr so stark seid, kommt doch her!«
Nach Aussage eines eingefangenen Vietminh-Soldaten hat der Abwurf der Flugblätter bei den Volksarmisten große Begeisterung ausgelöst, und Giap soll ausgerufen haben: »Sie bleiben. Diesmal habe ich sie fest!«
Zwei Nachtfahrten von Dien-Bien -Phu entfernt dreht ein Mann in einer Waldhütte seinen Tropenhelm um und sagt, indem er seine magere Hand in die Höhlung legt: »Das sind die Franzosen ...« Dann fährt er nachdenklich mit einem Finger über den Rand und setzt hinzu: »Und das sind wir ...«
Genosse Präsident Ho Tschi-minh alias Ngujen Tot Thanh alias Ngujen Ai Quoc - dessen Vater, Mandarin einer Provinz von Annam, seines Amtes enthoben wurde, weil er sich weigerte, Französisch zu lernen - umreißt die Lage.
Dieser Mann mit der gewaltigen Stirn und dem langen dünnen Bart hat kein Alter, so wie sein Körper kein überflüssiges Fleisch hat.
Er hat als Boy auf Schiffen, als Tellerwäscher in Pariser Luxusrestaurants, als Schneeschipper in London gearbeitet. Später ist sein Leben zwischen Gefängnis, Untergrundarbeit und politischer Agitation eine Schule gewesen, in der er gelernt hat, daß alle Mittel von einem großen Zweck gerechtfertigt werden: der Unabhängigkeit Indochinas.
Der eingefleischte Junggeselle, der jetzt die Rolle des bonbonverteilenden Onkels und des meditierenden Weisen spielt, ist ein unerbittlicher, unbestechlicher Revolutionär, der stets die gleiche Uniform ohne Rangabzeichen trägt.
Mit einer Sprache, die in den Ohren seines Volkes wie eine Fahne knattert, treibt er die Nation, der er Leben und Ehre wiedergeben will, zu den Waffen. Dabei hat er - wie so viele - eine Zeitlang von einer Zusammenarbeit geträumt mit dem, was er von Frankreich kennengelernt hat.
Das französische Oberkommando hat erfahren, daß ein Ministerrat der Vietminh in Thai Ngujen stattfinden soll. Aber die Gemeinde Thai Ngujen umfaßt eine ganze Anzahl von Dörfern und Weilern. In welcher Strohhütte werden die Mitglieder des Zentralkomitees zusammenkommen? Um alle unter Bombenteppichen zu begraben, um Ho Tschi-minh und Vo Ngujen Giap nicht zu verfehlen, müßte man Hunderte von B 26 in mehreren Wellen einsetzen. Aber so viele Maschinen sind nicht einsatzbereit. Und so findet überhaupt kein Luftangriff statt.
Mit der Luftwaffe ist Navarre ohnehin unzufrieden, weil sie die Vietminh -Divisionen nicht am raschen Vorrücken hindern konnte. Doch Giaps Lkw fahren nur nachts. Bei Tagesanbruch werden sie in Urwaldtunnel abgestellt, wo unter dem dichten Laubdach Werkstätten, Kantinen und Schlafsäle eingerichtet sind. Kein Rauch steigt auf; denn der Koch Hoang Cam, später als Nationalheld gefeiert, hat den rauchlosen Herd erfunden.
19. JANUAR 1954
Trotz der niedrigen Wolken, die über den Tälern und über der Delta-Ebene liegen, greift die Luftwaffe Straßen und Nachschublager an. Bis heute sind allein auf den Punkt »Mercure« einhundertsiebenundzwanzig Tonnen Bomben abgeworfen worden. Aber spätestens achtundvierzig Stunden nach jeder Unterbrechung der Straßen rollen die Lkw des Gegners wieder.
Von den Stäben des Expeditionskorps wird die Nachricht aufgefangen, daß die Vietminh dem Transport von 10,5-cm -Granaten und 8,1-cm-Granatwerfern Vorrang einräumen.
20. JANUAR 1954
Heute erfährt der Stab, was dieser Nachschubbefehl bedeutet: Der Angriff der Roten auf Dien-Bien-Phu soll in der Nacht vom 25. zum 26. Januar erfolgen. Fieberhafte Begeisterung erfaßt die Operations-Generalstäbler in Hanoi und Saigon, und Navarre nimmt die Nachricht befriedigt entgegen.
In Dien-Bien-Phu arbeitet Oberstleutnant Langlais, Kommandeur der zwei als Reserve abgestellten Fallschirmjägerbataillone, Gegenangriffe aus, mit denen unter Umständen verlorenes Gelände zurückzugewinnen wäre. Es gibt so viele Möglichkeiten, daß er sich zunächst mit der wahrscheinlichsten beschäftigt: Wiedereroberung der entferntesten Stützpunkte, Beatrice und Gabrielle.
23. JANUAR 1954
Cogny hat Navarre seine Studie zum Unternehmen »Xenophon« geschickt: Räumung der Festung im Katastrophenfall. Während der folgenden Monate geruht Navarre nicht einmal, seine Schlußfolgerung mitzuteilen.
Nach Ansicht von Cogny ist der feindliche Belagerungsring so stark, daß erhebliche Kräfte eingesetzt werden müßten, um eine Bresche zu schlagen. Zum erstenmal benutzt er das Wort »Katastrophe« und umreißt damit eine Wirklichkeit, die keinen Raum mehr läßt für Generalstabskonzeptionen.
Cogny besteht darauf, daß die 13 500 Mann, die sich derzeit in der Festung befinden, nicht durch einen Ausbruchsversuch zum Tode verurteilt werden, sondern daß Dien-Bien-Phu gehalten werden muß.
Für den zu erwartenden Angriff skizziert Navarre indessen in einer geheimen Instruktion zwei Möglichkeiten:
Entweder wirft sich der Gegner mit allen zur Verfügung stehenden Kräften gegen die Festung oder er begnügt sich damit, die Garnison zu binden und einen Teil seiner Truppen anderweitig einzusetzen.
Ganz offensichtlich klaffen die Auffassungen der beiden Generäle von neuem weit auseinander:
Navarre und seine Mitarbeiter zeichnen weiter eindrucksvolle Pfeile in die Generalstabskarten ein, obwohl die Spähtrupps alle Mühe haben, über die Befestigungen hinaus vorzudringen.
Coghy dagegen hat Gegner und Gelände richtig einzuschätzen gelernt. Die Anweisung, die er Oberst de Castries gibt und die er in der Folge als Grundlage der Verteidigung betrachtet, enthält keine Phantastereien:
Er ist gestern noch einmal nach Dien-Bien-Phu geflogen. Er zählt die zur Verfügung stehenden Kräfte auf, umreißt genau die Aufgabe des »befestigten Lagers«, gibt zu verstehen, daß der Erfolg nicht von vornherein sicher ist, und macht deutlich, daß es darum gehen wird, immer wieder verlorenes Gelände zurückzuerobern.
25. JANUAR. 1954
Seit einer Woche ist Marc Jacquet in Indochina. Heute läßt er sich von General Cogny vortragen, welche Bedrohung sich über Dien-Bien-Phu zusammenzieht. Navarre wohnt der Besprechung bei.
Der Regierungsvertreter, an sich schon besorgt, wird unruhig. Er fragt Navarre, ob er absolut sicher sei, den Sieg zu erringen.
Der Oberkommandierende gibt scharf und trocken seine Antwort. Er zählt die Argumente' auf, die seinem Plan zugrunde liegen, weist auf seine Verpflichtung hin, Laos zu verteidigen, erinnert an die Notwendigkeiten, die ihn zur Besetzung von Dien-Bien-Phu veranlaßt haben, und beschließt seine Auskunft mit der eindrucksvollen Darstellung der Kräfte in der Festung, die einem Gegner gegenüberstehen, der in seinem Vormarsch nach Laos aufgehalten worden sei.
In den Gräben von Dien-Bien-Phu warten die Männer auf den Angriff der Roten. Die jungen Männer, die sich da langweilen, träumen von schäumenden Biergläsern auf einer Café-Terrasse, von Duschen und Frauen, und schlagen die Zeit mit Pennälerstreichen tot.
Das gefilterte Wasser des Nam Youm und der finstere Krätzer, den die Intendantur unter dem Namen »Vinogel« als Wein abwerfen läßt, machen sie trübselig. Immer wieder schmuggeln Leute mit Galgenhumor in den Särgen Bierflaschen ein.
Die hübsche Sekretärin von Castries, die Transportbegleiterinnen, die Journalistin Brigitte Friang - deren rot verschmierte Zigarettenstummel wie Reliquien gesammelt werden - und die kupferfarbenen Gesichter der Mädchen aus dem Militärbordell Lai Chau bringen sie auf alle möglichen Gedanken.
Das Lazarett der Festung war seiner Aufgabe bisher gewachsen, weil Kranke, Verwundete und Tote ausgeflogen werden. In einem einzigen Monat wurden 207 Verwundete, 75 Unfallverletzte und 354 Kranke nach Hanoi gebracht. Das
Luftlandelazarett hat nur 42 Betten, im Wiederbelebungsraum stehen nur sieben. Der Leichenkeller wird neben dem Lazarett ausgehoben.
In seinem mit Sandsäcken und Matten tapezierten Unterstand sitzt Oberst de Castries und horcht in die Nacht. In der linken Hand verglimmt eine Zigarette, die in einer Hautfalte am Ansatz von Daumen und Zeigefinger Steckt.
Wenn die Vietminh heute nacht angreifen, kann Castries vielleicht endlich abschätzen, was ihm dieses Abenteuer einbringen mag: Ruhm oder Schande. Er kann bestenfalls auf zwei silberne Generalssterne rechnen, die er ohnehin bekommen hätte, und auf einen höheren Rang in der Ehrenlegion.
Er klingelt nach seiner Sekretärin, Faule Bourgeade, diesem haselnußäugigen Mädchen von achtundzwanzig Jahren, das er im Süden des Deltas aufgegabelt hat, wo es seit fünf Jahren mit einem Mut diente, um den viele Männer es beneiden könnten.
Wie Brigitte Friang gehört auch Faule zu jenen Frauen, die erstaunlicherweise immer wieder bei der Armee anzutreffen sind, wo es ihnen gefällt, weil sie in Europa Erlebnisse gehabt haben, die sie vergessen möchten; sie fühlen sich unter diesen Männern, die ihre Haut riskieren, wohler als unter Spießern.
Dieses Mädchen nimmt Castries im Jeep mit, wenn er die Stützpunkte inspiziert; Faule notiert seine Bemerkungen auf ihrem Stenoblock und hinterläßt eine Wolke von Träumen und von Dior-Parfüm, dem einzigen Luxus, den sie sich leistet.
Paule Bourgeade tritt ein in ihren Militärstiefeln die der Situation Pfeffer geben. Sie lächelt. Sie ist schön, etwas fremdartig - und verdreht zweifellos vielen Fremdenlegionären und Fallschirmjägern den Kopf. »Ein Bridge«, sagt Castries. »Versuchen Sie Interessenten aufzutreiben.«
26. JANUAR 1954
Der Angriff der Vietminh hat nicht stattgefunden. War die Geheimdienstmeldung falsch?
Um 13.50 Uhr landet Marc Jacquet in Begleitung von Maurice Dejean, General Blanc, Navarre und Cogny in Dien-Bien-Phu.
Castries lädt Jacquet in den von ihm gesteuerten Jeep und fährt an der Spitze des gewohnten Geleitzuges, dessen Fahrzeuge wegen des Staubes weite Abstände halten. Sie besichtigen zunächst Beatrice - wo die Vollbärte der Pioniere den Besuchern sogleich einen nachhaltigen Eindruck vermitteln - sodann werden die Besucher in den Gefechtsstand von Piroth, dem Artilleristen, geführt. Piroth hat in Italien einen Arm verloren und trägt den leeren Ärmel im Gürtel. Breite Nase, tiefliegende Augen, schmale Lippen und eine Narbe auf der Wange verleihen ihm das Aussehen eines Catchers.
Piroth kann seine Rohre in jede Himmelsrichtung feuern lassen, und seine 15,5-cm-Steilfeuerbatterie wird die feindlichen Geschütze hinter den Bergen zerstören. Sein massiges Vollmondgesicht wirkt beruhigend. Der Erfolg steht und fällt mit seinen wuchtigen und prompten Gegenschlägen, mit seiner Umsicht, seiner Härte.
Marc Jacquet, Luftwaffenhauptmann d.R., denkt an die beiden Landebahnen und macht sich Sorgen. Wenn es dem Feind gelingen sollte, sie unter Beschuß zu nehmen und sei es nur mit Granatwerfern könnte es brenzlig werden. Vierundzwanzig 10,5-cm-Geschütze, eine 15,5-cm-Batterie und sechzehn schwere Granatwerfer - das erscheint ihm nicht sonderlich viel.
»Herr Oberst«, sagt er im Weggehen zu Piroth, »ich weiß, daß in Hanoi Hunderte von Geschützen unbenutzt herumstehen. Sie sollten die Gelegenheit, daß ich heute hier bin, benutzen, um ein paar Rohre als Nachschlag anzufordern.«
»Wieso?« ruft Piroth entrüstet aus. »Sehen Sie sich doch meine Feuerpläne an. Geschütze habe ich mehr als genug!«
27. JANUAR 1954
Auch in dieser Nacht sind die Vietminh nicht gekommen. Sie haben Ihre Gründe:
»Angreifen, um zu siegen«, lautet die Parole der Volksarmee. Das Zentralkomitee hat sich diesem Grundsatz der revolutionären Kriegführung gebeugt und ihn wie folgt abgewandelt: Nur angreifen, wenn der Sieg sicher ist - sonst lieber gar nicht angreifen.
Der für die Nacht vom 25. auf den 26. Januar vorgesehene Angriff wurde abgesagt, weil Giap allzu große Verluste und somit ein zu großes Risiko einplanen mußte: Seine Batterien waren noch nicht in günstigster Stellung.
31. JANUAR 1954
»Die Vietminh in das Becken herunterlocken« - das ist der Wunschtraum von Oberst de Castries und seinem Stab. »Wenn sie herunterkommen, kriegen wir sie zu fassen. Und dann haben wir endlich, was uns immer gefehlt hat: ein konzentriertes Ziel zum Draufschlagen.«
Doch die 308. Division, die jetzt zum größten Erstaunen der Strategen in Richtung Laos abzieht, könnte in ihrem Marsch nur von Truppen behindert werden, die ihr auf dem eingeschlagenen Weg entgegentreten. Wie und mit welchen Mitteln sollte man sie verfolgen?
Navarre läßt in aller Eile vor Luang Prabang, wo sich der greise, gelähmte König ins Bett legt, Stacheldraht ziehen und Panzer auffahren; und während sich das Angriffsunternehmen »Atlante« festläuft, schlägt Giap zurück, indem er auf den Hochebenen von Mittel-Annam eine Offensive beginnt.
3. FEBRUAR 1954
Um zwölf Uhr mittags werden von den ersten Hängen im Nordosten 7,5-cm-Salven auf die Maschinen gefeuert, die auf dem Flugfeld stehen. Eine einzige Batterie verfeuert in dreißig Minuten 103 Granaten aus amerikanischen, bereiften 7,5-cm-Geschützen, die den Vietminh bei Hoa Binh in die Hände gefallen sind.
Bei der zweiten Salve antwortet Piroths Artillerie, deren Feuer von einem Beobachter auf Eliane gelenkt wird; aber die Einschläge liegen auf Scheinzielen, wo zwei Mann mit Sprengkörpern Abschüsse simuliert haben.
Insgesamt werden 1650 Granaten verfeuert. Jagdflugzeuge und zweimotorige B 26 werfen 158 Bomben - erst auf die falschen, dann auf die richtigen Stellungen. Die Flugzeugraketen verletzen drei Mann schwer und einige weitere leicht; eine Feldküche wird beschädigt.
Die Panzer rücken aus und nehmen das, was sie für das Mündungsfeuer der Geschütze gehalten haben, unter Beschuß.
Im Gefechtsstand von Castries ist man der Ansicht, daß alles zerstört ist. Doch am Nachmittag tanzen die Volksarmisten zu Flöten und Ziehharmonika in den vom Gegner nicht einzusehenden tief eingeschnittenen Bachbetten - und sie singen: »Onkel Ho wird tausend Jahre alt!«
4. FEBRUAR 1954
7.30 Uhr erreicht das 57. Vietminh-Regiment nach einem dritten Nachtmarsch seine neue Bereitstellung auf einem Hügel im Norden, fünf Kilometer in der Luftlinie von den Fremdlingen entfernt.
Als die Sichel des zunehmenden Mondes hinter den Bergen im Westen verschwunden ist, marschiert das Regiment zu den 10,5-cm-Geschützen, die es in die von den Pionieren in Tag- und Nachtarbeit gegrabenen Kasematten hinaufzuziehen gilt.
Und Jahre später wird man sich im Tal die Legende erzählen von dem Soldaten, der sich - als alle Seile gerissen waren - als Hemmschuh vor die Räder der Kanone gelegt hatte, die zurückzurollen drohte.
Überall erklingt das Lied »Ho keo phao«, das in wenigen Wochen die Runde gemacht hat: Die Schlucht ist tief,
aber keine so tief wie unser Haß. Wir ziehen, ziehen die Kanone,
und das Schlachtfeld wird zum Friedhof unserer Feinde.
Abends entzündet Hauptmann Hien unter einer Nylonzeltbahn eine kleine Lampe, die er sich aus einer allen Hustenpastillen-Dose gebastelt hat, mit petroleumgetränkter Baumwolle als Docht und einem Fahrradventil als Brenner.
Unter dem 4. Februar 1954 trägt er in seiner kritzeligen Handschrift, die er später kaum mehr entziffern kann, in die winzigen Hefte, die das Regimentstagebuch bilden, die Worte ein: »Kälte und Hunger machen uns zu schaffen, aber bald werden wir den Feind vernichten.«
5. FEBRUAR 1954
Wer vermag jetzt noch daran zu glauben, daß die Vietminh jemals angreifen werden? Der Abzug der 308. Division scheint es vollends zu beweisen: Giap wagt es nicht.
Der einzige, der klar sieht und die List durchschaut, ist Cogny. In einer Instruktion für Castries hat er am 3. Februar darauf hingewiesen, daß der Gegner die Absicht haben könnte, die Gegend in Richtung Luang Prabang zu beunruhigen und dann die 308. Division nach Dien-Bien-Phu zurückzuführen.
Heute schreibt Navarre an Cogny, daß er die Ausarbeitung des Unternehmens »Xenophon« nur aus äußerster Vorsicht befohlen hat. Seiner Meinung nach ist für »Xenophon« kein Grund mehr gegeben, weil sich Giap einen Angriff auf Dien-Bien-Phu nicht mehr zutraut. Doch Cogny soll recht behalten. Später gefragt, warum er die 308. nach Laos in Marsch gesetzt habe, gab Giap zur Antwort: »Als Ablenkungsmanöver und um die Einheiten, die in der Gegend waren, aus dem Wege zu schaffen. Genauer gesagt: um die wenigen beweglichen Bataillone, die das Expeditionskorps in die Berge geschickt hatte, zu vernichten, um unsere Angriffsvorbereitungen zu tarnen und um mit den Pathet-Lao-Einheiten Verbindung aufzunehmen, damit General Navarre keine Rückzugsmöglichkeit in Richtung Laos blieb.«
6. FEBRUAR 1954
In Paris tritt der Nationale Verteidigungsrat zusammen. Rene Pleven weist darauf hin, daß die Lage in Laos kritisch ist und daß Navarre ihm die Frage stellen könnte: Bleibt die Verteidigung von Laos eines der Ziele der Regierungspolitik?
Nach Ansicht von Marschall Juin ist das Schicksal des Expeditionskorps wichtiger als das von Laos, und der Rat schließt sich ihm einstimmig an.
Rene Pleven soll morgen nach Indochina fliegen. Der Verteidigungsrat läßt ihm außer für Verhandlungen mit dem
Gegner volle Entscheidungsfreiheit 'für militärische Maßnahmen, falls der Zeitdruck ihm eine Konsultation der Regierung nicht gestatten sollte. Pleven erhält plötzlich Vollmachten, die vor ihm nur wenige Politiker hatten,
7. FEBRUAR 1954
Von Saigon kommend, landet Staatssekretär de Chevigné vom Verteidigungsministerium in Dien-Bien-Phu.
Er hat schon von den Fliegern gehört, daß sie das Becken »Nachttopf« getauft haben, und als er jetzt neben Castries in den Jeep springt, wo General Cogny schon auf dem Rücksitz Platz genommen hat, bestätigt sich der unerfreuliche Eindruck:
Dien-Bien-Phu ist tatsächlich ein Nachttopf, auf dessen Boden die Besatzung kauert, während der Rand von den Vietminh gehalten wird.
De Chevigne bleibt zwei Tage in Dien-Bien-Phu, um sich ein Bild von der Lage zu machen, bevor Rene Pleven kommt. Stundenlang ist er mit den Obersten und den Bataillonskommandeuren unterwegs.
Castries hat ihm zu Ehren einen von Artillerie und Luftwaffe unterstützten Ausbruch von zwei Elitebataillonen inszeniert, der nicht weiter als einen Kilometer über das eigentliche Becken hinausgelangt ist.
9. FEBRUAR 1954
Gestern abend wurde den Soldaten des roten 57. Regiments zum erstenmal das Becken von Dien-Bien-Phu gezeigt. Hauptmann Hien war vor allem von den Lichtern beeindruckt, die auf dem Flugplatz zu sehen waren, und von der Rollbahnbefeuerung mit Benzinfackeln, deren Flammen vom Wind immer wieder hell angefacht wurden.
So viele Schritte haben sie nun vor diese Festung geführt, wo die versammelten Feinde sie herausfordern. Und sie denken an die von Regiment zu Regiment weitergegebenen Worte, mit denen de Castries sie in seinen Flugblättern als Feiglinge verhöhnt hat.
Alle Männer des 57. Regiments haben still dagestanden vor dem gähnenden schwarzen Loch. Dahinunter werden sie sich stürzen müssen, um alle Beleidigungen und alles Unrecht abzuwaschen und die rote Fahne mit dem goldenen Stern aufzupflanzen, die ihnen endlich ein Vaterland geben soll.
16. FEBRUAR 1954
Überall in der Festung wird abends Volleyball gespielt oder gebadet. Hauptmann Capeyron, der mit einer Kompanie vom 1. Bataillon des 13. Regiments Claudine 5 hält, hat allmählich das Gefühl, daß überhaupt nichts mehr passieren wird.
In Hanoi bittet Rene Pleven für heute abend Cogny zu einem Gespräch unter vier Augen in die Maisonde France, um seine Vorstellungen über einen möglichen Ausweg aus dem Konflikt kennenzulernen.
18. FEBRUAR 1954
Gestern ist in Dien-Bien-Phu Oberstabsarzt Paul Grauwin eingetroffen, ein sehr geschickter Chirurg. Dieser flämische Koloß ist berühmt für seine Körperkräfte, von denen er ebenso reichlich Gebrauch macht wie von seiner Herzensgüte.
Und Generalstabsarzt Jeansotte, der Navarre auf einem Inspektionsflug nach Dien-Bien-Phu begleitet hat, sagt zu ihm: »Wenn es hier richtig losgeht, altes Haus, werden Sie unter Bedingungen wie 1914 arbeiten.«
Heute haben zwei schlechte Nachrichten den Oberkommandierenden erreicht. Die Abhörstellen haben einen Befehl aufgefangen, der für die Vietminh-Transporteinheiten eine Erhöhung der nach Dien-Bien-Phu zu schaffenden Tagestonnage von fünfzig auf siebzig anordnet - und bei einem Gefangenen ist der Bauplan einer Geschützkasematte gefunden worden.
Aus Berlin kommt eine Pressemeldung über eine für Mai in Genf vorgesehene internationale Konferenz über Asienprobleme. Aber es kann sich im Ernst niemand einbilden, daß sich nun alles wie durch ein Wunder ändern wird, daß die bloße Ankündigung einer Konferenz die Würfel noch stoppen könnte.
Dem amerikanischen Senator Mike Mansfield - der die Frage gestellt hat, ob, die Vereinigten Staaten Flotten- und Luftwaffeneinheiten nach Indochina entsenden würden, falls die Franzosen dort einem stärkeren Druck ausgesetzt sein sollten - erwidert US-Verteidigungsminister Wilson: »Im Augenblick besteht keine Veranlassung, die Hilfe der Vereinigten Staaten über das bereits gewährte Maß hinaus zu erhöhen.« Und Präsident Eisenhower selber hat erklärt »Niemand ist mehr gegen ein Eingreifen als ich. Es wäre tragisch für uns, in einen offenen Krieg in Indochina verwickelt zu werden.«
Flugzeuge, Waffen, zivile Flugzeugbesatzungen und Mechaniker - das ist alles, was Amerika schicken kann, um Frankreich zu unterstützen. Die Vietminh erhalten aus China nicht ein Zehntel dieser Hilfslieferungen: Sie bekommen vor allem keine Panzer. Sie gehen zu Fuß, und auf den Straßen und Pfaden müssen Tausende von Fahrrädern die Last der Träger, die sie schieben, verzehnfachen helfen.
19. FEBRUAR 1954
Um 11 Uhr starten die Maschinen mit der Gruppe Pleven und der Suite der Stabschefs vom Flugplatz Hanoi. Mittagessen wird an Bord serviert. Die Stimmung ist gut, nicht zuletzt weil General O'Daniel, Chef der amerikanischen Militärmission in Indochina und militärischer Berater von Präsident Eisenhower, soeben in Washington seiner Begeisterung über die aus dem Boden gestampfte Festung Ausdruck verliehen hat.
In Dien-Bien-Phu ist als Ehrenformation für den Minister die 3. Kompanie des 1. Bataillons des 13. Regiments unter Hauptmann Capeyron angetreten.
Der Sonderberichterstatter der »Depeche du Midi« hört, wie Rene Pleven nach der Landung zu Castries sagt: »Es ist Ihnen doch wohl klar, Herr Oberst, daß Frankreichs Augen auf Ihnen ruhen?«
Navarre ist diskret in Saigon geblieben. Mit seiner Abwesenheit gibt er zu verstehen, daß er das Urteil der hohen Herren nicht zu beeinflussen wünscht.
Auf einen leichten Stock gestützt, mit dem Arm zum Feind weisend, steht Castries stolz da und erklärt General Ely (dessen fünf Sterne am Käppi glitzern) und Rene Pleven (der mit seinem bis auf die Ohren gezogenen Strohhut wie ein Krabbenfischer aussieht) den Aufbau der Festung und der Stützpunkte mit ihren romantischen Vornamen. Beatrice, Annemarie, Gabrielle, Eliane erheben sich über den Hügeln und Kuppen, auf denen Fremdenlegionäre, Algerier und Marokkaner in Stellung gegangen sind.
»Herr Oberst«, sagt Pleven zum Befehlshaber des Unterabschnitts Mitte, Jules Gaucher, und macht dabei vorsichtige Schritte, als ginge er auf Eiern, »müssen wir nicht doch leider mit einer Einwirkung der gegnerischen Artillerie rechnen, da die Vietminh, wie ich höre, über Geschütze verfügen?«
Gaucher drückt die Brust 'raus, zieht sein Halstuch fester, runzelt die dicken schwarzen Brauen und steht stramm: »Herr Minister, wir werden uns schlagen wie bei Verdun.«
Es ist strahlendes Wetter, warm wie an einem Frühlingstag. Viele haben Sonnenbrillen aufgesetzt. Es ist weder Ort noch Stunde, um der Besatzung den Mut zu nehmen, die Arbeit der für die Kriegführung Verantwortlichen zu kritisieren oder sich Fragen zu stellen über das, was man sehen oder auch nicht sehen kann. Schweigen ist Gold - weil jedes Wort dem, der es jetzt ausspricht, später Scherereien bringen kann. Nur ein General hat noch überhaupt nichts zum allgemeinen Zufriedenheitsgemurmel beigetragen. General Fay, Stabschef der Luftwaffe, hat bisher ein fast muffiges Schweigen bewahrt.
»Und Sie, Herr General?« fragt Pleven.
»Herr Minister«, sagt Fay freundlich, »es tut mir leid, daß ich der allgemeinen Hochstimmung nicht beipflichten kann. Aber was ich heute gesehen habe, bestärkt mich nur in meiner Ansicht, die ich Ihnen schonungslos vortragen will, weil ich weiß, welche Verantwortung ich hier trage: Ich rate General Navarre, die Zeit, die ihm noch bleibt, und die beiden Flugplätze, solange sie ihm noch zur Verfügung stehen, zu nutzen und alle Einheiten abzutransportieren, die er noch herausbringen kann. Denn hier ist er verloren. Das ist alles.«
Pleven ist sichtlich betroffen. Die Offiziere des Heeres starren ins Leere. Das strenge, schmale Gesicht von General Ely bleibt unbewegt. Cogny zuckt die Achseln. Dann sehen alle zu, daß sie rasch in ihre Jeeps kommen. Die Stimmung ist gedrückt. Castries macht ein bekümmertes Gesicht.
Im Flugzeug beugt sich Pleven zu General Ely hinüber und sagt in vertraulichem Ton: »Großartige Männer! Sie hoffen, daß der Feind angreift. Ich gestehe, daß ich das nicht hoffe.« »Ich auch nicht«, sagt General Ely.
25. FEBRUAR 1954
Die Ankündigung der Genfer Konferenz hat keinen Einfluß auf die Strategie der Vietminh. Was jetzt geschieht, ist längst entschieden. Die Vorbereitungen zur Belagerung von Dien-Bien-Phu haben am 25. November 1953 begonnen, und der Beschluß, den Vernichtungsangriff auf die Besatzung zu wagen, stammt vom 6. Dezember 1953.
Und Navarre wischt Fay eins aus, indem er in Gegenwart von General Ely tönt: »Dien-Bien-Phu ist in voller Kenntnis der Tatsachen gewählt worden. Dort und nirgendwo sonst werden wir den Sieg erringen.«
Ganz gibt Fay nicht auf. Er spricht noch einmal unter vier Augen mit Navarre. »Überleg dir die Sache doch«, sagt er zu ihm. »Ich bin bereit, eine Woche länger zu bleiben und die Räumung auf meine Kappe zu nehmen. Ich schwöre dir, wir holen alles heraus, was irgend möglich ist. Ich bin bereit, alle irgendwie verfügbaren Kräfte einzusetzen, um dir zu helfen.«
Navarre lehnt das Angebot ab. Wieder ist für ihn die Meinung eines Fliegers unmaßgeblich.
Und Rene Pleven macht sich zwei Wunschbilder zu eigen, die ihm für einige Zeit eine komfortable Mehrheit in der Nationalversammlung verschaffen: eine vietnamesische Armee von achthunderttausend zu allem entschlossenen Soldaten und eine geradezu überwältigende amerikanische Waffenhilfe.
28. FEBRUAR 1954
Ohne die erhofften Geheimkontakte aufgenommen zu haben, fliegt die Gruppe Pleven zurück nach Paris, zum Vorfrühling, zu den linden Lüften, den Kinos und Cafes an den Boulevards. Vom Besuch eines mit absoluten Regierungsvollmachten gekommenen Ministers ist nur der Ordensstern eines Großoffiziers der Ehrenlegion auf Navarres Brust geblieben.
In Dien-Bien-Phu muß die Luftwaffe zu viele Tonnen Munition und Stacheldrahtrollen abwerfen, als daß sie einen Teil der Transportkapazität dafür opfern könnte, etwas Abwechslung in die Kommißverpflegung zu bringen. Gemüse und Fruchtsäfte kommen nicht in Frage. Spirituosen sind verboten. Zigaretten werden nicht verkauft.
2. MÄRZ 1954
Rene Pleven ist gestern in Orly gelandet und begibt sich sogleich mit de Chevigné zu Ministerpräsident Laniel, der einen interministeriellen Ausschuß einberufen hat.
Plevens Erklärung für die Presse spiegelt das Vertrauen wider, das alle in den Oberkommandierenden setzen, der nach wie vor davon überzeugt ist, daß der Winter ohne nennenswerten Erfolg für den Gegner zu Ende gehen wird.
Pleven läßt. General Salan, der seit seiner Ablösung vom Indochina-Kommando Generalinspekteur der Nationalverteidigung ist, kommen, gibt ihm seinen Bericht zu lesen und fragt ihn: »Was kann man tun, um Dien-Bien-Phu zu retten?«
Um die gleiche Zeit nimmt Gilles von den Luftlandetruppen des Expeditionskorps Abschied. Ein Myokard-Infarkt macht ihn untauglich für jede größere Anstrengung und zwingt ihn, nach Frankreich zurückzukehren. Papa Gilles macht sich keine Illusion. Er weiß, daß er jetzt nur noch im Generalstab zu gebrauchen ist.
Gilles schreitet die Front ab, grüßt die Fahnen, bleibt vor jedem Offizier und jedem Wimpel stehen und blickt in die Gesichter mit seinem feuchten, unscharfen Auge, das man nie genau von dem anderen, unbeweglich in der Höhle sitzenden, unterscheiden kann.
Die meisten, die hier angetreten sind, haben die Fallschirmjägerwaffe aus Neigung oder Zufall gewählt, und die Kameraden sind ihr Religionsersatz. Sie springen nicht für Seine Majestät Bao Dai vom Himmel, den sie verachten oder gar nicht kennen. Langlais, Bigeard, Brechignac, Botella, Tourret und alle die Hauptleute mit ihrem widerborstigen Charakter und ihrem Galgenhumor, die sich da beim Vorbeigehen von Papa Gilles steif aufrichten, kämpfen nur dafür, daß Frankreich nicht ganz vor die Hunde geht.
Noch hat man ihnen das Foltern nicht beigebracht. Sie respektieren ihren Gegner und beneiden ihn sogar, weil er ihnen dies eine voraushat, daß er in den Tod geht, um seine Fahne anstelle der ihren wehen zu sehen.
Pflicht der Fallschirmjäger ist es, nicht vom Platz zu weichen. Weiter gehen ihre Überlegungen nicht. Was sie von allen anderen unterscheidet, ist dies: Sie bleiben nicht stehen, bevor man ihnen befiehlt, stehenzubleiben.
4. MÄRZ 1954
Heute nachmittag inspiziert Navarre in Dien-Bien-Phu die wichtigsten Stützpunkte. Er fragt die Bataillonskommandeure, und die Antwort ist einhellig: Sie erwarten die Vietminh mit Gelassenheit.
Aber Navarre hat in letzter Minute Bedenken, und da er es mehr und mehr zu bedauern scheint, sich auf die Sache eingelassen zu haben, erklärt er den Ausbau der Festung für zu schwach und schlägt Cogny und Castries die Errichtung eines weiteren Verteidigungszentrums vor, was eine Verstärkung der Besatzung um zwei oder drei Bataillone erforderlich machen würde.
In einem von Castries gesteuerten Jeep fahren die drei langsam durch das Becken, und Navarre propagiert mehrmals seinen Vorschlag: Wenn die Vietminh sehen, daß ein neues Verteidigungszentrum errichtet wird, werden sie ihren Angriff verschieben, um ihre Pläne entsprechend zu ändern; und wenn es gelingt, von Verschiebung zu Verschiebung bis zur Regenzeit zu kommen, findet der Angriff auf Dien-Bien -Phu überhaupt nicht statt.
Navarre und Cogny fliegen zurück, und beide schweigen eisig. Zwischen ihnen steht nicht Haß, sondern etwas Schlimmeres. Navarre und Cogny versuchen einander zu vernichten, ohne daß sie es vor sich selber zugeben.
Bei Navarre, der immer noch glaubt, daß ihm Cogny vorwirft, nur der Schatten von de Lattre de Tassigny zu sein, spürt man deutlich eine tiefsitzende Eifersucht, eine gewisse herablassende Verachtung und die Angst vor einem Verrat. Wenn man Cognys gekränkte Eitelkeit und sein Mißtrauen gegen einen unerfahrenen Chef dazunimmt, so kann man von ihnen wie von einem unglücklichen Ehepaar sagen: Sie passen einfach nicht zueinander.
Also schweigen sich die beiden Generale an, und das nicht nur heute. Sie laden zwar noch einander zum Abendessen ein, wenn gerade ein Minister zu Besuch kommt verkehren jedoch nur noch in
dienstlichen Schreiben oder Telegrammen miteinander, wobei sie haargenau die vorgeschriebenen Formeln der militärischen Korrespondenz einhalten.
10. MÄRZ 1954
Aufgefangene Funksprüche der Vietminh lassen auf einen Reis-Versorgungsplan für neunzigtausend Mann im Bergland, davon siebzigtausend vor Dien-Bien-Phu, schließen. Einer weiteren entzifferten Meldung entnimmt Navarre, daß der Angriff auf die Festung in der Nacht vom 13. auf den 14. März stattfinden wird.
Der französische Generalstab hat inzwischen eine ziemlich genaue Liste dessen ausgearbeitet, was Giap an Menschen und Material zur Verfügung steht: siebenundzwanzig Infanteriebataillone, zwanzig 10,5-cm-, achtzehn 7,5-cm-, sechzehn und demnächst achtzig 3,7-cm-Fla-Geschütze, einhundert 12,7-mm-Fla-Maschinengewehre, dazu eine unbekannte Anzahl von Granatwerfern.
Die Zahl der Granaten ist nur in Form von garantiert vorhandenen Mindestmengen bekannt: 5000 Schuß 7,5 cm, 15 000 Schuß 10,5 cm, 44 000 Schuß 3,7 cm Fla, außerdem 24 000 Schuß Granatwerfermunition, davon 3000 Schuß 12 cm,
Nach sicheren Nachrichten ist mit dem Eintreffen von zweihundert Tonnen Munition für die Zeit vom 8. bis 15. März zu rechnen. Der Verpflegungsnachschub erreicht bereits siebzig Tonnen pro Tag, die Versorgung mit Sanitätsmaterial und Bahren ist durch tägliche Transporte von zwei Tonnen sichergestellt.
11. MÄRZ 1954
Hauptmann Capeyron befindet sich in Hanoi, wo er wegen eines Metallstäubchens im Auge behandelt wird. Seine Kameraden fragen ihn, was er von der Vietminh-Artillerie hält.
»Ein, zwei Kanonen werden sie wohl haben«, erwidert er, »aber die Granaten explodieren meist nicht mal. Das ist Spielkram.«
Und er besteigt das Flugzeug nach Dien-Bien-Phu, wo die beiden Fallschirmjägerbataillone heute die Höhe 555, einen Kilometer östlich von Beatrice, angreifen, auf heftigen Widerstand treffen und sich zurückziehen.
Hauptmann Capeyron ist kaum zu seiner Kompanie auf Claudine 5 gestoßen, als um fünf Uhr nachmittags ein Feuerüberfall auf die Landebahn niedergeht. Beim dritten Schuß wird ein »Packet« -Transportflugzeug, das vor ein paar Tagen mit brennendem Motor niedergehen
mußte und eben repariert worden ist,
voll getroffen. Die Maschine kippt auf die Nase, reckt ihren Doppelrumpf in die Höhe. Beim zwölften Schuß geht sie in Flammen auf.
In den tief angelegten Unterständen der Vietminh, in den Kantinen der Garagen entlang der Provinzstraße 41 und in den Dörfern, wo die Bewohner nur den Abflug der Bomber abwarten, um sich mit Schaufeln, Spitzhacken und Körben auf die zerstörten Straßenabschnitte zu stürzen, wird seit einigen Tagen von den Politkommissaren immer wieder der Aufruf des Oberbefehlshabers der Volksarmee verlesen:
»Führer und Kämpfer, bald beginnt die Schlacht von Dien-Bien-Phu. Die Stunde ist gekommen, da ihr angreifen dürft. Der Sieg in der Schlacht von Dien-Bien-Phu bedeutet die Vernichtung eines sehr großen Teils der besten feindlichen Streitkräfte, die Befreiung des Nordwestens unserer Heimat und die Sicherheit unseres Hinterlandes, von
der die erfolgreiche Durchführung der Bodenreform abhängt. Der Sieg in der Schlacht von Dien-Bien-Phu wird ungeheure Folgen im In- und Ausland haben!«
12. MÄRZ 1954
Während der Nacht schleicht sich ein Stoßtrupp der Vietminh bis zur Landebahn von Dien-Bien-Phu, beschädigt die Piste durch Sprengladungen unter den Lochblechen und hinterläßt überall Flugblätter. Auf ihnen steht in französisch und deutsch:
»Dien-Bien-Phu wird euer Grab.«
IM NÄCHSTEN HEFT:
Der Großangriff beginnt - Die Festung wird zum Friedhof - Zielscheibe Rotes Kreuz - US-Admiral Radford bietet Atombomben an
Deutsche Rechte beim Bechtle Verlag, München und Eßlingen, 1964.
Dien-Bien-Phu-Kommondant Castries: »Bedingungen wie 1914«
Vietminh-Präsident Ho Tschi-minh
»Die Schlucht ist tief...
... aber nicht so tief wie unser Haß": Vietminh-Truppen auf dem Marsch noch Dien-Bien-Phu
Dien-Bien-Phu-Besucher Jacquet
»Ziel zum Draufschlagen«
Französische Artillerie in Dien-Bien-Phu: »Ein paar Rohre als Nachschlag?«
Artillerie-Kommandeur Piroth (r.) *: »Geschütze mehr als genug«
Kuli-Kolonne der Vietminh. »Wir ziehen die Kanone ...
...zum Friedhof unserer Feinde": Französischer Panzer in Dien-Bien-Phu
Dien-Bien-Phu-Eroberer Gilles
»Foltern noch nicht beigebracht«
Dien-Bien-Phu-Verteidiger Gaucher
»Schlagen wie bei Verdun«
Reservetruppen nach der Landung: »Dien-Bien-Phu wird euer Grab«
Dien-Bien-Phu-Strategen Ely, Pleven, Navarre: »Sie kämpfen dafür ...
... daß Frankreich nicht ganz vor die Hunde geht": Dien-Bien-Phu-Verteidiger*
Vietminh-Feuerüberfall auf Landebahn von Dien-Bien-Phu, zerstörte Transportmaschine: »Onkel Ho wird tausend Jahre alt«
* Mit Cogny und Castries in Dien-Bien-Phu.
* Botella, Bigeard, Tourret, Langlais.