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CHILE Freundliche Einstellung

Das Regime Pinochet zeigt sich um ein humaneres Image besorgt -- die Regierung ließ einen Teil der politischen Häftlinge frei.
aus DER SPIEGEL 48/1976

General Augusto Pinochet Ugarte, Diktator von Chile, gestattete sich eine, wie er sagte, »großherzige Geste":

Vergangene Woche gab er rund 300 chilenischen Bürgern, von denen einige schon seit dem Sturz der Volksfrontregierung des Sozialisten Allende vor drei Jahren ohne Anklageerhebung in Haft gesessen hatten, die Freiheit zurück; nur 18 der unter Ausnahmerecht ohne Anklageerhebung Festgenommenen bleiben auf weiteres in Haft. Eine Geste, so Pinochet, »die keinen anderen Zweck hat, als die freundliche Einstellung der Regierung zu zeigen«.

Helmut Frenz, wegen seines Einsatzes für die Verfolgten des Pinochet-Regimes voriges Jahr aus Chile ausgewiesener evangelisch-lutherischer Bischof, denkt anders darüber: »Dies ist zwar ein positiver Schritt«, erklärte Frenz dem SPIEGEL, »aber im übrigen nichts als Augenwischerei. Hinter den 300 Entlassenen stehen 3000, die nach wie vor in Haft sind« -- weil das Regime sie für politische Gegner hält.

Dazu zählen, nach Erhebungen des von den Kirchen aller Konfessionen getragenen chilenischen »Solidaritätsvikariats«, dem Frenz angehört,

* 700 Gefangene, die wegen »Gefährdung der nationalen Sicherheit« bereits von Militärgerichten verurteilt wurden und die für das Regime als »Kriminelle« gelten;

* 450 Inhaftierte, die wegen »Gefährdung der nationalen Sicherheit« angeklagt, aber noch nicht verurteilt wurden, und

* mindestens 1800 Menschen, die -- durch eidesstattliche Zeugenaussagen nachweisbar -- von Beamten des Geheimdienstes Dina verhaftet wurden, deren Festnahme die Regierung jedoch leugnet.

Selbst jene Häftlinge, die vorige Woche freigelassen wurden, können jederzeit wieder eingesperrt werden. Denn der seit dem Machtantritt der Militärs herrschende Ausnahmezustand, Handhabe des Regimes für willkürliche Festnahmen ohne Angabe von Gründen, wurde nicht etwa aufgehoben, sondern unlängst durch den »Acta Constitucional No. 4« in der zukünftigen Verfassung verankert -- für alle Situationen »latenter Subversion«.

So zeigt die Amnestie der vergangenen Woche denn wohl weniger die »freundliche Einstellung« der Regierung als vielmehr ihr wachsendes Selbstgefühl. Die Putschisten haben ihre Macht gefestigt, die Diktatur richtet sich auf Dauer ein und kann sich nach drei Jahren Herrschaft den Luxus bescheidener Gnade erlauben -- ganz wie Pinochets Vorbild, der verstorbene spanische Generalissimus Francisco Franco; auch der hatte im dritten Jahr seiner Macht als Staatschef, 1942, erstmals eine beschränkte Amnestie für Polit-Häftlinge erlassen.

Nicht nur in diesem Punkt eifert offenbar Pinochet dem bis zu seinem Tod im vorigen Jahr dienstältesten Diktator Westeuropas nach. Der Chilene -- der vom Caudillo noch kurz vor dessen Tod mit dem höchsten spanischen Militärorden in Friedenszeiten ausgezeichnet wurde -- übernimmt mehr und mehr auch ideologische und politische Strukturen des Franquismus. »In unterschiedlicher Klarheit und Schärfe«, befand die katholische chilenische Zeitschrift »Mensaje«, »finden sich verschiedene Anzeichen für (die Übernahme) dieses historischen Modells.«

Augenfälligstes Indiz: Wie einst Franco hat auch Pinochet seine Junta-Kollegen an die Wand gedrängt und sich zum Caudillo hochstilisiert.

Schon im Juni 1974 per Dekret zum »Obersten Chef der Nation« und im Dezember des gleichen Jahres zum Präsidenten aufgerückt, verfügt er heute über seinen eigenen Geheimdienst. Aus 19 von ihm persönlich ernannten Notabeln schuf er sich einen Staatsrat, der -- ähnlich wie Francos Rat des Königreichs den Herrscher beim Regieren berät, ohne freilich de facto die geringste Einspruchs- oder Kontrollmöglichkeit zu haben.

Wie in den Hoch-Zeiten des spanischen Faschismus gelten auch in Chile »Zucht und Ordnung«, »Familie und Tradition« als oberste Werte, der 11. September wird -- wie in Spanien der 18. Juli (Beginn des Bürgerkriegs) -- als Aufbruch zum Kreuzzug der »nationalen Befreiung« gefeiert.

Gleich dem Bürgerkriegs-Sieger Franco will auch Pinochet eine »organische Demokratie« errichten, das heißt, einen integristischen Ständestaat. »Zukünftige Parlamentswahlen«, so der Verfassungsrechtler und Präsidentenberater Jaime Guzmán, »sollen so gestaltet werden, daß nur die Besten gewinnen können. Wir wollen eine selektive Demokratie.«

Um das Elitedenken unters Volk zu bringen, rief Pinochet inzwischen -- nach dem Muster der aus der spanischen Falange hervorgegangenen » Bewegung« -- ein »Movimiento« ins Leben, eine Massenorganisation, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfassen soll: Das Movimiento hat auch eine »Frauenfront« sowie ein »Frente Juvenil«, deren Mitglieder vor allem zum Fähnchenschwenken bei Präsidenten-Auftritten abkommandiert werden.

Doch trotz der zielstrebigen Machtorganisation fehlen der Massenbewegung die Massen -- die sind einstweilen damit beschäftigt, die Gewaltkur, die Pinochet verordnet hat, zu überleben:

Denn zwar gelang es den Militärs, die Inflationsrate auf rund 200 Prozent herunterzudrücken (1975: 380 Prozent), doch nur um den Preis extremer Arbeitslosigkeit (offiziell: rund 17 Prozent, inoffiziell und unter Einrechnung der zahllosen Unterbeschäftigten ist sie wohl doppelt so hoch).

So katastrophal wirkte sich die »Sanierungspolitik« der Militärs aus, daß in einzelnen Gegenden des Landes selbst nach offiziellen Angaben bis zu 40 Prozent der Kinder unter sechs Jahren klinisch unterernährt sind -- und das, obwohl die USA in diesem Jahr mehr als 80 Prozent der Nahrungsmit-

* Bei ihrer Entlassung aus dem Lager Treu Alamos.

tel-Hilfe, die für Lateinamerika bestimmt ist, nach Chile vergeben haben.

Die Vergabe solcher Hilfen an Länder wie Chile, hatte der gewählte US-Präsident Carter verlangt, »müsse durch die Haltung dieser Länder gegenüber den Menschenrechten bestimmt und beeinflußt werden«. »Es ist nicht wahr«, erklärte Pinochet nach dem Gnadenakt für die 300 Häftlinge, »daß ich mich von Herrn Carter habe beeinflussen lassen.«

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