FRIEDRICH PAULUS, 23. IX. 1890 - 1. II. 1957
Am 2. Februar des Jahres 1943, um 12 Uhr 35, ging bei der Heeresgruppe »Don« ein Funkspruch ein. Er lautete: »Wolkenhöhe fünftausend Meter, Sicht zwölf Kilometer, klarer Himmel, vereinzelt kleine Wölkchen, Temperatur einunddreißig Grad Minus, über Stalingrad Nebel und roter Dunst. Wetterstelle meldet sich ab. Gruß an die Heimat.«
Vereinzelte kleine Wölkchen, o Wunder des deutschen Soldaten. An irgendeiner Stelle bei Stalingrad war irgendeine Wetterstation auf dem Posten gewesen, noch immer, und gab befehlsgemäß ihre Meldung: Roter Dunst über Stalingrad. Zwei Tage zuvor hatte der Oberbefehlshaber der 6. Armee, Paulus, in Stalingrad kapituliert.
Am selben Tage war er zum Feldmarschall befördert worden. Im Morgengrauen trat sein Stabschef an die Kellertür, hinter der Paulus auf einer Pritsche schlief, in einem Kaufhaus im Zentrum der Stadt, dem Hauptquartier der Armee. »Guten Morgen, Herr Feldmarschall. Ich erlaube mir, als erster gehorsamst zur Beförderung zu gratulieren.« Kleine Pause, dann fuhr der Stabschef. fort: »Außerdem habe ich zu melden, daß die Russen da sind. Zwei Offiziere wünschen Herrn Feldmarschall zu sprechen.«
Nein, es war im Hauptquartier des Marschalls nichts mit dem »Kampf bis zur letzten Patrone«, den Paulus seiner Armee verordnet hatte. Der »Völkische Beobachter« unterstrich es rot, als Schlagzeile auf seinem Titelblatt: »General und Grenadier Schulter an Schulter in Stalingrad.« Aber Paulus kapitulierte auch nicht bedingungslos, das wiederum nicht. Sein Stabschef übermittelte den sowjetischen Offizieren den Wunsch des Marschalls: »Der Oberbefehlshaber möchte nicht zu Fuß durch die Stadt gehen.« Ein Wagen fuhr ihn aus der Stadt hinaus, hinaus aus der Geschichte.
Wie war er nur hineingekommen? Das Schlüsselwort der deutschen Soldaten ist alleweil ein Befehl: Stalingrad werde genommen, hatte Hitler bei der Eröffnung des vierten Kriegswinterhilfswerkes versprochen - »worauf sie sich verlassen können«. Das Donnerwort galt seinen Feinden. Paulus nahm Stalingrad. »Man soll doch abwarten, ob das ein strategischer Fehler war«, wetterte Hitler im November 1942 vor seinen Parteigenossen im Münchner Löwenbräukeller. Es war nicht nötig, sich lange zu gedulden - zwei Monate später wußte er es: Es war ein Fehler. Paulus muß es schon lange gewußt haben. Aber zweihunderttausend Soldaten bezahlten dieses Abwarten mit ihrem Leben oder mit ihrer Freiheit.
Winterhilfswerk, Löwenbräukeller - wer will noch mehr Erinnerungen? Ein paar Tage nach der Katastrophe meldete sich der Reichsminister Goebbels zu Wort und modelte Stalingrad für seine Sonnabend-Conférence zurecht. Der »Sprecher des Großdeutschen Rundfunks« nahm das Manuskript zur Hand und las es ins Mikrophon: »Es ging uns auch im Kriege zu gut . . . Jetzt sehen wir plötzlich eine der Schattenseiten des Krieges vor uns auftauchen.«
Erst jetzt? Jedenfalls von da an für immer, Hitler hatte es ja versprochen: »Ich höre grundsätzlich immer erst fünf Minuten nach zwölf auf« - deutsche Männer und Frauen, nicht alle haben Konzentrationslager besichtigt, aber das immerhin haben wir alle gehört. Auch der Feldmarschall Paulus hat sich an diesen Zeitplan gehalten, hat bis fünf Minuten nach zwölf gewartet - und hätte, vielleicht, um drei Viertel zwölf mit seiner Armee nach Südwesten durchbrechen können. Ein Befehl Hitlers hat es verhindert. Sein Vorgesetzter, der Feldmarschall von Manstein freilich, der weder zum Entsatz noch zu einem Befehl des Ungehorsams Kräfte hatte, bescheinigt ihm die »lastende Verantwortung«.
Die Eroberung Stalingrads hatte Propagandawert gehabt, der Name des Besiegten behielt ihn, und die Sowjets wollten ihn für ihr »Nationalkomitee Freies Deutschland«. Aber noch galt bei Paulus der andere Oberste Befehlshaber, der aus dem Löwenbräukeller. Paulus lehnte ab: »Der Kriegsgefangene, der sein Volk
und die Wehrmacht gegen seinen Führer aufruft, trägt Zersetzung in die eigenen Reihen und schwächt sein Volk in schwerer Zeit.«
Knapp ein Jahr später, nun ein Saulus, stieß er zum Nationalkomitee, in dem Pieck und Ulbricht schon saßen. Jahre später schafften ihn die Sowjets nach Nürnberg - nicht als Angeklagten, sondern als Zeugen. Seine Aussage zerstörte die These vom deutschen »Verteidigungsangriff« - als ehemaliger stellvertretender Generalstabschef des Heeres kannte er die Vorbereitungen. Dann wurde er nach Moskau zurückgebracht und blieb dort auf Jahre. Die Sowjets behielten den Mann, genauer: sie behielten den Namen. Durch die Zeitungen des Westens wehte die Legende, er führe ein 500 000-Mann-Heer.
Ende 1953 ließen die Sowjets den Erloschenen nach Deutschland zurück, und ein paar Monde später wendete er sich denn auch »ohne Umschweife gegen den rechten Flügel der CDU, gegen den Bundeskanzler Adenauer und Herrn Blank. Es ist ein Kreis, der den letzten Krieg zum überwiegenden Teil offenkundig ohne Schaden . . . überstanden hat«.
Gibt es Kreise in Deutschland, denen das gelungen war? Die Feldmarschälle in spe hatten doch gründlich gearbeitet, exemplarisch in und um Stalingrad.
Die Kriegsgeschichte kennt heute kaum noch den oder die Sieger dieser fürchterlichsten Menschenschlacht. Sie kennt den Namen Paulus.