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KIRCHTÜRME Fromme Front

aus DER SPIEGEL 42/1966

Im Wahlkreis des gottesfürchtigen Bonner Bundestagspräsidenten und Oberkonsistorialrats Eugen Gerstenmaier hadert ein Kleinstadt-Republikaner mit Thron und Altar. Streitpunkt: die Freiheit der kommunalen Kirchturmpolitik.

Dieses Rechtsgut sieht Hans König, 30, neugewählter Bürgermeister im nordwürttembergischen Gaildorf, durch ein Gesetz aus dem vorigen Jahrhundert bedroht, das ein anderer König verordnet hatte.

»Nach Anhörung Unseres Staatsministeriums und unter Zustimmung Unserer getreuen Stände« hatte »Karl, von

Gottes Gnaden König von Württemberg« Anno 1887 seinen bürgerlichen Stadt- und Landgemeinden auferlegt, die Instandhaltung, Erneuerung und Erweiterung »der Kirchthürme, Kirchenuhren und Kirchenglocken« in jenem »Maaße« mitzufinanzieren, wie sie derlei kirchliche Einrichtungen für kommunale Zwecke in »Benützung« haben.

Damals, so der Stuttgarter Kommunalverbands-Jurist Dr. Rienhardt, »war der Kirchturm ein lebenswichtiges Instrument. Als noch nicht jeder eine Uhr besaß, erfuhren die Bauern auf dem Feld nur durchs Stundenläuten des Kirchturms, wann es Mittag war«.

Die Finanz-Allianz zwischen weltlichen und kirchlichen Gemeinden überdauerte Monarchie, Erste Republik und Drittes Reich. Generationen schwäbischer Bürgermeister und Gemeinderäte zahlten ohne Anstand.

Sie spendierten selbst dann noch Benützungsbeiträge, als auf den Kirchtürmen längst kein Nachtwächter mehr patrouillierte, statt Kirchenglocken Luftschutzsirenen oder Fernmeldesysteme den Feueralarm besorgten und jedermann - wenn schon nicht im Besitz eines Zeitmessers - die Uhrzeit bequem aus dem Radio- oder Fernsehgerät erfahren konnte.

So rät der »Württembergische Gemeindetag«, ein Interessenverband von 1900 schwäbischen Orten, auch jetzt noch Stadtvätern und Kommunal-Parlamentariern, »um des lieben Friedens mit der Kirche willen« (Oberverwaltungsrat Eugen Eisele) für Turm und Ticktack in die Kasse zu greifen.

Die Landeshauptstadt Stuttgart ließ sich den lieben Frieden in den letzten fünf Jahren nahezu 100 000 Mark kosten, Reutlingen etwa 6000 Mark, und auch das kleine Gaildorf (4700 Einwohner) steuerte seit der Währungsreform fast 42 000 Mark für Instandsetzung und Unterhalt des evangelischen Stadtkirchenturms bei.

Als dann aber im Mai dieses Jahres der Gaildorfer Dekan Gebhard Kirn dem Rathaus abermals eine saftige Turm-Rechnung präsentierte und für eine gründliche Renovierung 100 000 Mark aus der Stadtkasse begehrte, ging der neue Bürgermeister König mitsamt seiner Rathausgarde in Opposition: Erstens sei ein Gaildorfer Vertrag aus dem Jahre 1890, in dem sich Stadt und Kirche im Zuge der Königs-Order von 1887 auf Teilung der Turm-Kosten geeinigt hatten, völlig überholt, und zweitens sei gar kein Geld da.

Der Orts-König beschied den Kirchenmann: »Damals waren dieses Gesetz und dieser Vertrag völlig in Ordnung. Aber im siebten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts 'benützt' die Stadt Gaildorf weder den katholischen noch den evangelischen Kirchturm.«

Verstört alarmierte der Dekan seine Kirchenoberen. Sie bestehen auf der Vertragserfüllung. Im Angesicht dieser frommen Front glaubt der Bürgermeister weder an die Unterstützung schwäbischer Kollegen ("Die warten nur, bis ich mir die Finger verbrenne") noch an eine Änderung des 1887er Gesetzes ("Dazu wird sich wohl keine Landtagsfraktion bereit finden wollen").

Gaildorfs Königs letzte Hoffnung: von der Kirche wegen Nichtzahlung der Turm-Tausender verklagt zu werden und so einen Musterprozeß ausfechten zu können. Dabei will er dann nachweisen, daß die Vertragsgrundlagen von dazumal entfallen sind, seit es eine halbwegs formierte Gesellschaft mit Armbanduhren, Funk-Zeitansagen und Alarmsirenen gibt.

Der Bürgermeister: »Ich habe nicht das geringste gegen die Kirche. Doch ich sehe nicht ein, daß ich aufgrund eines alten Zopfes 100 000 Mark bezahlen soll.«

Und überhaupt: »Die meisten Kirchturmuhren spinnen ja sowieso.«

Bürgermeister König*

»Die Stadt benützt den Kirchturm nicht«

* Vor der evangelischen Stadtkirche in Gaildorf.

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