SPIEGEL Gespräch »Früher legten sich zu viele auf die faule Haut«
SPIEGEL: Herr Gao, die Liberalisierung der Wirtschaft hat China einen enormen Aufschwung beschert, aber auch Inflation, schrumpfende Devisenreserven, sinkende Getreideproduktion, Korruption, Wirtschaftsverbrechen und ein riesiges Haushaltsdefizit. Ist der Reformkurs gescheitert?
GAO: Das kann man so nicht sagen, die negativen Erscheinungen sind kein Beweis für Scheitern oder Krise. Wenn wir beurteilen wollen, ob die Reform erfolgreich ist oder nicht, gut oder schlecht, müssen wir uns anschauen, wie sich die Wirtschaft, die Staatseinnahmen und der Lebensstandard entwickeln.
SPIEGEL: Und was sehen Sie da?
GAO: Das Bruttosozialprodukt und die Staatseinnahmen haben sich seit Beginn der Reformen verdoppelt. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen stieg von 134 Jüan auf 424 Jüan (212 Mark). So gesehen ist unser Kurs überaus erfolgreich gewesen.
SPIEGEL: Die von der Kollektivierung befreiten Bauern vernachlässigen die Getreideproduktion ...
GAO: Früher wurde in der Landwirtschaft nach den Planvorgaben produziert. Jetzt schließen Staat und Bauer einen Vertrag. Was der Landwirt nach Erfüllung des Vertrags an Überschuß behält, kann er direkt auf den Markt bringen. Die gestärkte Eigeninitiative der Bauern hat die landwirtschaftliche Produktion insgesamt in die Höhe getrieben.
SPIEGEL: Bei Obst und Gemüse aber die Produktion von Getreide, des Grundnahrungsmittels, liegt unter dem Ertrag von 1984.
GAO: Es gibt Probleme mit den Preisen. Weil die Erlöse nicht so hoch sind wie bei anderen Erzeugnissen, wird weniger Getreide angebaut.
SPIEGEL: Beunruhigt Sie das nicht?
GAO: Der Preis für Getreide muß erhöht werden. Der Staat hilft den Getreideproduzenten schon jetzt mit landwirtschaftlichem Gerät, mit Dieselkraftstoff und chemischem Dünger - er bietet verbilligte Produktionsmittel gegen Getreide.
SPIEGEL: Warum schreiben Sie die Produktionsziffern nicht einfach wie früher vor?
GAO: Betrachten wir doch die Sache realistisch. Wenn wir zu starr verwalten, haben die Bauern keinen Leistungsanreiz, die gesamte Produktion sinkt, und das Volk hat das Nachsehen.
SPIEGEL: Ein Prozent der Landwirte erzielt Traumeinkommen von 10000 Jüan pro Jahr. Mehr als 100 Millionen Bauern müssen mit 200 Jüan (100 Mark) im Jahr auskommen. Zerfällt China wieder in eine Klassengesellschaft?
GAO: Solche Unterschiede sind nicht verwunderlich. Aber der Staat vernachlässigt diese Frage nicht, sondern steuert dagegen. Wir nennen das »die Armen reich machen«. Rückständige Gegenden werden durch finanzielle Hilfen gefördert. Wir geben diesen Regionen Hilfe zur Selbsthilfe. Statt auf Transfusionen zu warten, sollen sie selbst Blutkörperchen produzieren.
SPIEGEL: Die Einkommensunterschiede können Sie damit nicht beseitigen.
GAO: Unsere Politik besteht darin, daß einige zuerst reich werden, wir am Ende aber alle gemeinsam wohlhabend sein werden. Alle zusammen auf einmal - das geht nicht. Das ist Gleichmacherei, dann geht es keinem gut.
SPIEGEL: Bis es soweit ist, schüren die Unterschiede doch Neid und Unzufriedenheit.
GAO: Wohlstand aus Arbeit ist gut, aber wir müssen die Steuern stärker _(Mit Redakteuren Roman Leick und ) _(Stefan Simons. )
als Regulativ einsetzen. Wir sind da bislang nicht mitgekommen. Viele Steuern sind nicht bezahlt worden. Und spekulative Geschäftemacherei gehört verboten.
SPIEGEL: Gibt es denn eine Obergrenze für privaten Verdienst?
GAO: Für Bauern, die durch Getreide oder Gemüseanbau ihr Geld verdienen: nein. Je mehr, desto besser. Bekämpfen müssen wir die illegalen Einnahmen, die nicht aus der landwirtschaftlichen Produktion stammen. Wenn manche Händler durch illegale Geschäfte Riesenprofite erwirtschaften, dann müssen wir das stoppen.
SPIEGEL: Es gibt inzwischen Fabriken in Privatbesitz, Unternehmen, die an Private vermietet werden, es gibt Aktien. Sollen die Staatsunternehmen in China allmählich verschwinden?
GAO: Sie müssen unterscheiden zwischen Besitzverhältnissen und der Struktur des Managements. Es gibt Unternehmen in Staats-, Genossenschafts- und Privatbesitz. Die Staatsunternehmen stehen noch immer an erster Stelle. Im vergangenen Jahr haben sie 70 Prozent des Industrieproduktionswertes erwirtschaftet, die Genossenschaften 28, die Privaten und anderen nur 2 Prozent.
SPIEGEL: Ist es denn vorstellbar, daß sich dieses Verhältnis mal ins Gegenteil verkehrt?
GAO: Staats- und Genossenschaftsbetriebe werden die absolute Vorherrschaft behalten. Daran darf nicht gerüttelt werden.
SPIEGEL: Und wo liegt die Grenze für die Privatfirmen?
GAO: Das ist schwer zu sagen, ihr Anteil wird sich aber noch erhöhen.
SPIEGEL: Gibt es dafür ein Planziel?
GAO: Nein. An der Führungsrolle der Staatsunternehmen wird sich jedenfalls nichts ändern.
SPIEGEL: Aber führen können die Staatsbetriebe doch nur, wenn sie auch wirtschaftlich an erster Stelle stehen. In Wirklichkeit schlossen voriges Jahr 36000 Betriebe mit Verlust ab. Warum wirtschaften die Staatsunternehmen so miserabel?
GAO: Die Genossenschaften haben ihren neugewonnenen Spielraum genutzt. Sie sind autonomer und flexibler, deswegen haben sie sich schneller entwickelt. Die Staatsunternehmen dagegen sind immer noch tot. Nun gut, sie sind schon etwas lebendiger als früher, aber noch lange nicht genug. Deshalb ist es eine der Hauptaufgaben in der jetzigen Phase der Reform, den Enthusiasmus der Belegschaften dieser Betriebe zu stärken.
SPIEGEL: Und wie soll das geschehen?
GAO: Das Management muß mehr Freiraum bekommen, am besten durch Stärkung des Verantwortungssystems: Nach der Erfüllung eines vertraglich vorgegebenen Ziels kann der Betrieb einen Großteil seiner Gewinne in eigener Regie verwalten. Diese Methode kommt bei den Unternehmen an, der Erfolg ist nicht übel.
SPIEGEL: Dafür brauchen Sie aber fähige Manager und einsatzfreudige Arbeiter. Mit Parolen allein ist es nicht getan. Was passiert denn mit denen, die nicht spuren? Bisher konnte ja kein Arbeiter gefeuert werden.
GAO: Doch, wer gegen Bestimmungen verstößt, kann entlassen werden. Wer faulenzt, bekommt keine oder geringere Zuschläge. Auf diese Art und Weise wird die Motivation der Arbeiter gestärkt.
SPIEGEL: Das allein dürfte kaum genügen, um die angehäuften Verluste bei den veralteten Staatsbetrieben abzubauen.
GAO: Betriebe, die in den roten Zahlen stecken, bekommen einen vertraglich festgesetzten Zuschuß vom Staat. Kann die Firma die Verluste senken, darf sie die nicht verbrauchten Subventionen als Belohnung behalten. So wird ein Anreiz geschaffen, die Verluste abzubauen.
SPIEGEL: Das ist die Theorie. Tatsächlich stieg im vergangenen Jahr die Zahl der maroden Staatsbetriebe um über zehn Prozent auf fast 9000.
GAO: Dafür gibt es zwei Gründe. Es gibt Betriebe, die durchaus gut gemanagt werden, aber trotzdem Verlust machen, weil der Staat die Preise auf niedrigem Niveau eingefroren hat. Da ist die Politik schuld. Und dann gibt es Betriebe, in denen Management und Verwaltung nichts taugen.
SPIEGEL: Müßten die nicht eigentlich Bankrott erklären?
GAO: Wir haben im Dezember vergangenen Jahres ein Bankrottgesetz vorgelegt. Ich habe mich damals deutlich dafür ausgesprochen.
SPIEGEL: Wie viele Betriebe sind denn wirklich pleite gegangen?
GAO: Nicht einmal zehn. Aber es geht auch gar nicht um die Bankrotterklärung. Das Gesetz soll zusätzlichen Druck schaffen: Wenn du nicht vernünftig arbeitest, droht die Pleite. Früher legten sich zu viele auf die faule Haut. Nachdem wir einigen Firmen mit der »gelben Karte« des Bankrotts gedroht haben, geben sie sich Mühe und haben sich gerappelt. Zum Bankrott kommt es dann gar nicht.
SPIEGEL: Schlechte Produktivität, bürokratische Hürden, mangelnde Qualität - darüber klagen auch die ausländischen Investoren.
GAO: Das Investitionsklima wird ständig verbessert, wir haben gerade im vergangenen Jahr wieder günstigere Bedingungen geschaffen. Aber wir sind ein Entwicklungsland, da braucht alles seine Zeit.
SPIEGEL: 1986 gingen die ausländischen Neuinvestitionen gegenüber 1985 um fast die Hälfte auf 3,3 Milliarden Dollar zurück. Ihre angeblichen Verbesserungen haben nichts gebracht.
GAO: Manche unserer ausländischen Geschäftsleute und Freunde verstehen
unsere Politik nicht. Sie fürchten, daß der Kampf gegen die »bürgerliche Liberalisierung« ihre Interessen beeinträchtigt. Das ist ein Mißverständnis, es bleibt bei der Reform- und Öffnungspolitik.
SPIEGEL: Liegt da nicht ein grundsätzlicher Interessengegensatz vor: Die Ausländer, zum Beispiel VW in Schanghai, wollen auf den riesigen chinesischen Markt, die Volksrepublik will leistungsstarke Unternehmen mit modernen Produkten vornehmlich für den Export?
GAO: Der Widerspruch kann gelöst werden. Natürlich wollen die Ausländer bei uns verkaufen. Aber wir können nicht nur importieren, wir müssen auch unsere Exporterlöse steigern. Wenn unsere Handelsbilanz ausgeglichen ist, können wir den heimischen Markt weiter öffnen.
SPIEGEL: Vor elf Jahren erschien in China ein Buch mit dem Titel: »Warum China keine Inflation kennt«. Die Zeit ist vorbei, die Reformpolitik hat der Volksrepublik auch diese kapitalistische Krankheit gebracht. Seit 1985 stiegen die Preise für Lebensmittel um mehr als 25 Prozent. Das schafft Unzufriedenheit.
GAO: Die Inflation ist ein in der ganzen Welt verbreitetes Problem. Früher gab es weder Inflation noch Auslandsschulden und Inlandsanleihen. An diesen Zustand hatten sich die Leute gewöhnt. Aber die Modernisierung geht nicht ohne Reform des Preissystems. Dabei gibt es Preiserhöhungen und Preissenkungen. Vor kurzem erst wurden Armbanduhren billiger. Aber insgesamt steigen die Preise natürlich. Einige Produkte sind auf ein unvertretbar niedriges Niveau heruntersubventioniert, zum Beispiel Wohnungen: Die Baukosten für einen Quadratmeter betragen 250 Jüan, vermietet wird er für ein paar Pfennige. Da kommt nicht mal das Geld für die nötigen Reparaturen zusammen.
SPIEGEL: Auch die staatlich festgesetzten Preise für Grundnahrungsmittel sind zu niedrig.
GAO: Gewiß. Wenn ein Bauer nicht genug für seinen Reis bekommt, baut er ihn nicht mehr an. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder erhöht man den Preis oder die Subventionen für die Produzenten. Wenn die Preise steigen, sind die Menschen unzufrieden. Steigen die Subventionen, wird die Last für den Staat größer. Das ist ein Widerspruch.
SPIEGEL: Und wie lösen Sie ihn?
GAO: Die Preise müssen sich bewegen, aber nicht zu viel und nicht zu schnell. Es muß ein allmählicher Anpassungsprozeß sein.
SPIEGEL: Weil Sie sonst Unruhen befürchten wie jene, die etwa nach Preiserhöhungen in Polen ausbrachen?
GAO: China ist ziemlich stabil. Natürlich waren die Leute unzufrieden, aber der Staat hat die städtischen Verbraucher mit einem Zuschuß unterstützt.
SPIEGEL: Das reichte bei weitem nicht, um die Preissteigerungen auszugleichen.
GAO: Ja, das haben die Leute auch gesagt. Aber sehen Sie: Die Gurken und Tomaten, die es jetzt zu kaufen gibt, sind zwar teurer als früher, aber sie kommen ja auch aus dem Gewächshaus. Früher waren Tomaten und Gurken billiger, aber im Juni gab es noch keine. Jetzt können die Leute auswählen.
SPIEGEL: Am Ärger über die steigenden Preise ändert das nichts. Und Zuschüsse kann China auch nicht weiter streuen, insgesamt geht jetzt schon fast ein Drittel des Staatshaushalts für Subventionen drauf.
GAO: Der allmähliche Abbau der Subventionen ist das Ziel unserer Reformen.
SPIEGEL: Das ist wohl dringend nötig, denn im Budget klafft ein Riesenloch.
GAO: Das Defizit ist - gemessen an den früheren Zeiten, als es gar keins gab - natürlich eine große Veränderung. Entscheidend ist aber, wie das geliehene Kapital eingesetzt wird. Wenn wir es zur Entwicklung der Wirtschaft verwenden, dann sind in meinen Augen ein bißchen Schulden nicht schlimm.
SPIEGEL: Es ist ja schon mehr als nur ein bißchen. Die finanziellen Belastungen könnten sich in diesem Jahr auf 30
Milliarden Jüan addieren. Drohen China langfristig nicht lateinamerikanische Verhältnisse?
GAO: Nein, solche Schuldenberge werden wir nicht anhäufen. Wir werden uns genau überlegen, wieviel wir im Ausland leihen dürfen.
SPIEGEL: Kritiker der Reformpolitik in der Partei verweisen auf die negativen sozialen Nebenwirkungen der Liberalisierung: Korruption in Partei und Regierung, dazu eine steigende Zahl von Wirtschaftsverbrechen - im vergangenen Jahr über 81500 Fälle eine Zunahme von 54 Prozent. Diskreditiert das nicht den gesamten Öffnungskurs?
GAO: Kriminalität und Öffnungspolitik stehen nicht in einem direkten kausalen Zusammenhang. Auch ohne Öffnung kann es Wirtschaftsverbrechen geben. Aber es gibt natürlich einige schlechte Einflüsse aus dem Ausland.
SPIEGEL: Viele Altgenossen in der Partei sind sehr wohl der Meinung, diese Auswüchse seien eine direkte Folge der Reform und Öffnungspolitik.
GAO: Aber so kann man das nicht sehen. Die Reform ist natürlich noch nicht perfekt. Da kann es solche Vorfälle geben. Nur ist es falsch zu sagen, daß wegen der Reform die Kriminalität zugenommen hat.
SPIEGEL: Der Ministerpräsident und amtierende Parteichef Zhao Ziyang sagte kürzlich, den Reformen drohe von zwei Seiten Gefahr: einerseits durch die »bourgeoise Liberalisierung«, also durch jene, die sich eine »völlige Verwestlichung« herbeiwünschen; andererseits durch die »Versteinerung«. Damit meint er wohl jene konservativen Dogmatiker, die den Sozialismus in Gefahr wähnen und eine Restauration des Kapitalismus befürchten.
GAO: Zhao sprach von zwei Punkten: der Gültigkeit der »Vier Prinzipien« _(Festhalten an der demokratischen ) _(Volksdiktatur am sozialistischen Weg; an ) _(der Führung der Partei. am ) _(Marxismus-Leninismus und den ) _(Mao-Tse-tung-Ideen«. )
und der Öffnungspolitik. Diese beiden Dinge gehören untrennbar zusammen. Wir nennen das ein Verhältnis von Lippen und Zähnen. Der sozialistische Weg ohne die Entwicklung der Produktivkräfte führt uns nur zur Armut. Solch ein Sozialismus hat keine Anziehungskraft. Dann ist auch der Aufbau der »Vier Prinzipien« nur ein leeres Wort. In der Geschichte unserer Partei haben wir lange unter linken Einflüssen gelitten, mehr als unter rechten, sie waren schädlich und nicht immer leicht zu korrigieren. Rechte Einflüsse waren leichter zu beseitigen.
SPIEGEL: Und welcher Einfluß ist heute am gefährlichsten? Die »bourgeoise Liberalisierung« von rechts oder die »Verknöcherung« von links?
GAO: Rechts, links, das ist eine Definitionsfrage. Aber man kann sagen, daß der Kampf gegen die »bourgeoise Liberalisierung« den Einfluß von dieser Seite gestoppt hat - auch wenn dieser Kampf weitergehen muß. Worum wir uns vor allem kümmern müssen, ist die Fortsetzung von Öffnung und Reformen.
SPIEGEL: Das hört sich so an, als ob die »Versteinerung« - also der linke Einfluß - gegenwärtig doch das größere Hindernis wäre?
GAO: Beide Fragen lassen sich nicht voneinander trennen. Reform und Öffnung dürfen nicht durch die »Versteinerung« gestoppt werden. Heute betreiben wir eine Warenwirtschaft, früher war es eine Planwirtschaft. Da müssen wir uns auf Versuche und Experimente stützen. Man kann doch nicht sagen, nur weil etwas neu ist: Das ist verkehrt. Oder: Das ist Kapitalismus.
SPIEGEL: Wer in der Partei sagt denn so etwas?
GAO: Ich spreche über die Wirtschaft. Viele Menschen sind noch dem alten sowjetischen Wirtschaftsmodell verhaftet. Die Neuerungen sind ein Prozeß. Die Leute müssen sich darauf erst einstellen. Uns fehlt es auch an Erfahrungen. Daß es da verschiedene Ansichten gibt, ist nicht verwunderlich. Das ist Demokratie.
SPIEGEL: Welche Fraktion wird sich denn durchsetzen, die Reformer oder die Konservativen?
GAO: Wir unterteilen nicht in Reformer und Konservative. Alle wollen die Reformen. Ohne sie gibt es keinen Ausweg. Nicht nur bei uns auch in der Sowjet-Union, die jahrzehntelang einen traditionellen Wirtschaftskurs verfolgt hat, betreibt man Reformen. Das ist ein Trend, der nicht zu stoppen ist.
SPIEGEL: Gorbatschow hat begriffen, daß er Wirtschaftsreformen ohne politische Erneuerung nicht haben kann. Braucht nicht auch China mehr Demokratie?
GAO: Das hat Teng schon früher gesagt, daß die wirtschaftlichen Reformen, wenn sie an einen bestimmten Punkt gekommen sind, ohne Reform der politischen Strukturen nicht erfolgreich sein können. Wenn wir gegen die »bourgeoise Liberalisierung« kämpfen - und diese Definition verstehen viele im Ausland nicht -, dann meinen wir damit nicht Kampf gegen die Demokratisierung, sondern Kampf gegen jene, welche die Führung der Partei und den Sozialismus ablehnen. Die politischen Reformen müssen die Fragen der Kontrolle und der Machtverteilung lösen, sie müssen zur Überwindung der Bürokratie führen.
SPIEGEL: Dann wird die Partei aber an Einfluß verlieren.
GAO: Die Partei hat sich bislang zu sehr um administrative Dinge gekümmert. Jetzt sind Regierung und Partei getrennt: Früher hat der Parteisekretär im Betrieb das Sagen gehabt. Heute liegt die Produktionsverantwortung beim Fabrikdirektor.
SPIEGEL: Für die Partei ist das ein Machtverlust.
GAO: Nein, denn die Macht gehört eigentlich dem Fabrikdirektor. Die Partei hat sich so sehr in die Betriebsverwaltung eingemischt, daß sie die eigene Arbeit vernachlässigte. Heute sind die Aufgaben von Betriebschef und KP-Sekretär klar geteilt.
SPIEGEL: Was bleibt dem Sekretär denn noch?
GAO: Die ideologische Arbeit, die Erziehung der Parteigenossen, Aufklärung darüber, wie man im Betrieb die vorgegebenen Aufgaben erfüllt.
SPIEGEL: Chinas Führer beteuern Besuchern immer wieder, daß der Sturz des KP-Generalsekretärs Hu Yaobang im Januar keinen Einfluß auf die Entwicklung der Reform- und Öffnungspolitik habe. Aber nicht nur Ausländer sind verunsichert, auch in der Partei gibt es Kritik an der Art und Weise, wie mit Hua umgesprungen wurde. Drohen China nicht doch neue Flügelkämpfe?
GAO: Veränderungen an der politischen Spitze gibt es überall. In einigen Ländern passiert das häufiger als bei uns. Umbesetzung ist nicht gleich Instabilität. Im Herbst, auf dem 13. Parteitag, wird ein neuer KP-Generalsekretär gewählt. Thao hat ja gesagt, daß er am liebsten weiter Ministerpräsident bleiben würde.
SPIEGEL: Die ganze Reform - und das ist ihre größte Schwäche - ruht auf den Schultern eines einzigen Mannes, Teng Hsiao-ping. Was passiert, wenn Teng morgen stirbt?
GAO: Tengs Ansehen beruht auf dem langen revolutionären Kampf. Die Praxis hat bewiesen, daß er große Führungsqualitäten hat. Das ist weltweit anerkannt. Aber wir haben eine kollektive Führung. Es gibt auch andere Genossen mit Autorität ...
SPIEGEL: ... es ist aber Tengs Verdienst, nach dem Sturz der Viererbande die Reform- und Öffnungspolitik durchgesetzt zu haben.
GAO: Diese Politik hat sich seit 1979 in der Praxis bewährt, sie ist mittlerweile im System verankert. Unsere Reformpolitik ist das notwendige Ergebnis der historischen Entwicklung, eine objektive Notwendigkeit, sie hängt nicht vom subjektiven Willen eines einzelnen ab. Egal, wer im Führerhaus steht, ob Teng oder jemand anders, Reform und Öffnung müssen weitergehen.
SPIEGEL: Die Wahrheit in den Tatsachen suchen - dieser pragmatische Grundsatz Tengs wird also auch in Zukunft Chinas Politik bestimmen?
GAO: Daran wird sich nichts ändern.
SPIEGEL: Herr Gao, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *KASTEN
Gao Shangquan *
ist seit zwei Jahren Vizedirektor der Staatskommission für Wirtschaftsreform, die der chinesischen Regierung untersteht. Die 1982 gegründete Behörde gilt als »thinktank« des Ministerpräsidenten und amtierenden Partei-Generalsekretärs Zhao Ziyang. Ihre 300 Mitarbeiter haben die Reformpolitik Chinas maßgeblich konzipiert und mitgestaltet. Gao, 58, gehört zum letzten studentischen Jahrgang (1952) der angesehenen amerikanischen St. Johns-Universität in Schanghai. Seine staatliche Laufbahn begann er im Ersten Ministerium für Maschinenbau. Während der Kulturrevolution war Gao, der schon 1956 im Parteiblatt » Volkszeitung« ein bestimmtes Maß von Autonomie für die Betriebe gefordert hatte, in eine Kaderschule der Zentralprovinz Honan verschickt.
Mit Redakteuren Roman Leick und Stefan Simons.Festhalten an der demokratischen Volksdiktatur am sozialistischenWeg; an der Führung der Partei. am Marxismus-Leninismus und denMao-Tse-tung-Ideen«.