Dioxin Fuchs versiegelt
Auf der Bühne der Marsberger Schützenhalle gaben sich die Experten letzten Dienstag betont volksnah. Geduldig erklärten die aus Bonn und Düsseldorf zur Bürgerversammlung im Sauerland angereisten Ministerialbeamten chemische Prozesse, vermieden Fremdwörter und relativierten Meßergebnisse. Anderntags resümierte die Frankfurter Rundschau: »Dioxin-Schlacke weniger gefährlich.«
Das klang nach Entwarnung für den Marsberger Bürgermeister Reinhard Schandelle. Von dem Sauerland-Städtchen aus war in der Nachkriegszeit ein gifthaltiges Sandgemisch, Markenname »Kieselrot«, auf einigen tausend deutschen Sport- und Tennisplätzen verteilt worden. Seit ihrer Entdeckung im April dieses Jahres versetzt die gefährliche Schlacke, ein Abfallprodukt aus der Kupferproduktion, immer mehr Kommunen in Angst und Schrecken.
Die rund 1000 in der Schützenhalle versammelten Marsberger jedoch mußten nach den Fachvorträgen der Experten nachgerade meinen, daß die Belastung mit dem chemischen Ultragift bei ihnen nicht allzu besorgniserregend sei.
Lediglich einige »erhöhte Bodenwerte« hatte Regierungsdirektor Wilhelm König vom Düsseldorfer Umweltministerium bekanntgegeben. Ansonsten berichtete der Bodenschützer nebenbei, man habe einen Bergstollen bei der ehemaligen Kupferhütte dichtgemacht. König: »Der Fuchs ist versiegelt.«
Mit dem im Volksmund »Fuchs« genannten Stollen war ein unterirdischer Schacht gemeint, der sich, 200 Meter lang, am Rande eines Wohngebietes dicht unter der Oberfläche des Marsberger Wulsenberges, an dessen Fuß die Kupferfabrik liegt, zur Bergspitze hinaufzieht. Die beiläufige Erwähnung dieses Stollens sollte den Experten unliebsame Fragen ersparen. Denn im »Fuchs« schlummert ein rekordverdächtiges Giftlager.
Nach den Messungen der Wissenschaftler weist die tonnenweise in dem Schacht abgelagerte Staubmasse einen Anteil von 2,4 Millionen Nanogramm (Milliardstelgramm) Dioxin je Kilogramm auf. Das entspricht 2,4 Milligramm Dioxin in jedem Staubkilo - nahezu die reinste Form, in der das Supergift je gefunden wurde.
Der Staub im Stollen ist zwar kein Original-Kieselrot. Es handelt sich vielmehr um Flugasche, die sich aus der Abluft der Kupferhütte in dem Schacht festgesetzt hatte. Doch die extrem hohen Giftwerte in dem Material sind der Beleg für das hochtoxische Potential des roten Spielplatzsandes: Die Asche ist ein Konzentrat der Giftstoffe, die auch dem Kieselrot anhaften.
Mittels eines ausgeklügelten Röstverfahrens unter Beigabe spezieller Salze war in der Marsberger Metallhütte »Hermann Göring« bis 1945 kriegswichtiges Kupfer aus den zu feinem Sand vermahlenen Erzfunden herausgelöst worden. Die dabei entstandene hochgiftige Flugasche wanderte in den Abluftschacht oder blieb an dem roten Sandgemisch kleben, das, später durch die Baustoffirma Möllmann vermarktet, bundesweit alsbald zum beliebtesten Belag für Sport- und Spielplätze avancierte.
Den Umweltministern aus Bund und Ländern, die seit Wochen über den brisanten Fund im »Fuchs« informiert sind, ist denn auch, anders als vielen Kommunalpolitikern, längst klar, daß landauf, landab die belasteten Plätze ausgebaggert werden müssen. Die notwendige »Langzeitsicherung« des Giftsandes erfordert allerdings, bekennt der Düsseldorfer Ministerialdirigent Reinhard Störmer, »Technologien, die es derzeit noch nicht gibt«.
Hessen etwa beginnt deshalb, kostenträchtig und auf Jahre angelegt, mit der Einrichtung von sicheren »Zwischenlagern« für die Dioxinerde. Andere Bundesländer werden folgen. Sie wollen das Kieselrotdioxin auf lange Sicht »aus der Biosphäre entfernen« (Störmer), um weitere »Anreicherungen« zu vermeiden. Das Gift zerstört nämlich schon in kleinen Dosen das Immunsystem des Menschen, im Tierversuch hat es sich als krebserregend erwiesen.
Die Konsequenz der Umweltminister ist verständlich. Denn inzwischen geht das zuständige Düsseldorfer Landesressort davon aus, daß rund eine Million Tonnen des roten Giftsandes bis in die siebziger Jahre hinein als Sportplatzbelag vermarktet wurden.
Bislang haben die Behörden nur auf öffentlichen Plätzen nach dem roten Stoff gesucht. Eine »Referenzliste« der Marsberger Vermarktungsfirma über Lieferungen an Privatleute liest sich jedoch wie ein Gotha des Adels und der Industrie. So gelangte Kieselrot auch in den Düsseldorfer Park der Industriellensippe Henkel ("Persil"), der rote Sand ziert das Schloß Anholt der Fürsten Salm zu Salm in Isselburg ebenso wie das »Haus Brabecke« der Freiherren von Fürstenberg in Schnakenberg.
Noch streiten die Wissenschaftler, auf welchem »Belastungspfad« Kieselrot eine größere Gefahr für die Menschen bedeutet. Der Chemiker Michael Braungart vom Hamburger Umweltinstitut etwa betrachtet die Dioxin-Ausgasungen des roten Sandes als »missing link« - als bislang fehlendes Glied in der Erklärungskette für unverhältnismäßig hohe Dioxingehalte in der Atemluft bestimmter Ballungsgebiete, etwa in Hamburg. Sein Kollege Key Herrklotz vom Taunussteiner Fresenius-Institut hält hingegen die direkt von dem Stoff ausgehenden »Staub- und Schwebstoffe« für das größere Risiko.
Etlichen Instituten immerhin haben die Kieselrot-Funde seit Mitte April schon Wissenslücken geschlossen. Über ein Jahr lang hatten beispielsweise die Luftanalytiker der Hessischen Landesanstalt für Umwelt gerätselt, warum sich nach den Sturmkatastrophen im Frühjahr 1990 selbst in Reinluftgebieten drastisch erhöhte Dioxinanteile fanden.
Inzwischen kennen sie den Grund: Kieselrot, vom Winde verweht.