ODER-NEISSE-LINIE Fühlung in Bonn
Die jüngsten-Ereignisse in Osteuropa - der Gomulka-Aufstand in Warschau, die blutigen Tage in Budapest - haben in Washington der Debatte über Europas endgültige politische Ordnung Auftrieb gegeben. Unverhofft sieht sich Amerika vor der Chance, die Fahne der Freiheit nach Osten zu tragen und jenes »roll back« (Zurückrollen) des Eisernen Vorhangs friedlich vorzunehmen, das vor sechs bis sieben Jahren einen kriegerischen Klang hatte und von dem man in den letzten Jahren weniger und weniger zu sprechen wagte. Doch zwischen der amerikanischen Politik und der Chance des »roll back« liegt ein schwer zu beseitigender Prellbock: Deutschland.
In der letzten Woche empfahl Amerikas namhaftester Kommentator, Walter Lippmann, man möge Deutschland und Polen dazu bewegen, ihre Grenzstreitigkeiten gütlich zu regeln. Ohne eine deutsch-polnische Einigung über die Oder-Neisse-Linie bleibe, so meinte Lippmann, Polen ein Gefangener der Sowjet-Union. Wenn aber Polen gleichwohl gegen den sowjetrussischen Stachel zu löcken versuche, bleibe den Sowjets immer noch die Möglichkeit, sich ihrerseits mit den Deutschen zu verständigen. Das würde eine neuerliche Teilung Polens bedeuten.
Beide Möglichkeiten - die des Verbleibens Polens im Ostblock wie die eines deutsch-sowjetischen Arrangements über Polen - sind den Amerikanern gleichermaßen zuwider.
Die Tendenz, zwischen Deutschland und Polen eine gütliche Einigung über die Oder-Neisse-Grenze herbeizuführen, ist deshalb der amerikanischen Europa-Politik zwangsläufig als Direktive vorgeschrieben. Nach Lage der Dinge kann diese amerikanische Tendenz zur Stunde nur in den Versuch münden, die Deutschen zur Anerkennung der Oder-Neisse-Linie zu bewegen.
Das war in der Tat auch der Sinn einer Anregung, die einer der einflußreichsten Männer Amerikas, der Bankier und frühere Hochkommissar in Deutschland, McCloy, Anfang dieses Jahres gab. Er schrieb in der Vorrede zu einem Buch: »Die Aufrechterhaltung der sowjetischen Kontrolle über Osteuropa wird durch die Furcht der Polen und Tschechen vor dem Verlust ihrer gegenwärtigen Westgrenzen erleichtert. Die Bundesrepublik sollte darüber nachdenken, ob es nicht wünschenswert ist, im Zuge der Wiedervereinigungspolitik auf die Ansprüche auf einige frühere Gebiete Deutschlands zu verzichten.«
Wie ein Kommentar zur gegenwärtigen Lage klingt es, wenn McCloy an dieser Stelle fortfährt: »Der verständliche Wunsch der Deutschen nach einer Wiedererlangung der Gebiete, die 1945 unter provisorische polnische Verwaltung gestellt wurden, macht es dem polnischen Volk - unabhängig von seiner Einstellung zum kommunistischen Regime in Polen - nahezu unmöglich, aus vollem Herzen eine Zusammenarbeit mit dem Westen zu billigen.«
McCloys Äußerungen wurden Anlaß einer Fühlungnahme zwischen Bonn und Washington, bei der die Amerikaner den bundesrepublikanischen Standpunkt in Sachen Oder-Neisse-Linie abtasteten. Das wenig positive Ergebnis dieser amerikanischen Recherchen schlug sich in der Äußerung eines Unterstaatssekretärs des amerikanischen Verteidigungsministeriums nieder, der sich kürzlich in einer europäischen Hauptstadt aufhielt.
Der hohe amerikanische Beamte erklärte: »Es ist selbstverständlich, daß das wiedererstarkte Westdeutschland sich niemals mit der Oder-Neisse-Linie abfinden wird. Nicht nur wegen der Rolle, die die Millionen Flüchtlinge heute in der Regierung, in der Industrie und im allgemeinen Leben Westdeutschlands überhaupt spielen, sondern aus Gründen der Geschichte schlechthin, die jedem Volk, das nicht der Degeneration anheimgefallen ist, im Blute steckt.«
Gleichzeitig aber deutet manches darauf hin, daß Washington die Debatte mit Bonn nach dem Aufstand von Posen mit neuen und härteren Mitteln wieder aufgenommen hat und sie nach dem Erfolg Gomulkas weiter forcieren will.
Nach Äußerungen amerikanischer Politiker denkt man daran, Bonn mit der Möglichkeit zu konfrontieren, daß die USA und andere Westmächte ihrerseits den Polen (und Tschechen) eine Garantie ihrer Westgrenzen anbieten. Diese Variante der amerikanischen Europa-Politik hätte überdies den Vorteil, daß sie Prag und Warschau vital am Verbleiben der Bundesrepublik in der Nato interessieren würde, denn solange die deutschen Truppen - ohne eigenen Generalstab - dem amerikanischen Oberbefehlshaber in Europa und dem französischen Befehlshaber in Mitteleuropa unterstehen, ist die Gefahr einer selbständigen deutschen Ostpolitik gering.
Wenn sich Bonn unter dem Zwang dieser Drohung doch zur Anerkennung der Oder-Neisse-Linie und der gegenwärtigen tschechoslowakisch-deutschen Grenze entschließen sollte, so glaubt man in Washington, den Deutschen eine baldige Wiedervereinigung in Freiheit zusichern zu können. Walter Lippmann prophezeite dem wiedervereinigten Deutschland einen »angesehenen Platz«.
Bankier McCloy: Die Deutschen sollten verzichten