Fünf Minuten nach zwölf
Am 5. Mai brachte UP-Korrespondent Webb den Parlamentarischen Rat auf Touren. Er kabelte aus Robertsons Deblockade-Konferenz in Berlin westalliierte Bereitschaft, den westdeutschen Staat auf Eis zu legen (vgl. Panorama des letzten SPIEGEL). Erst nach der Pariser Konferenz sollte er aufgetaut werden, falls es dann noch nötig sei.
Bei den Bonner Provisorialräten wirkte diese Nachricht wie Rhizinus. Es brachte sie im Laufschritt an die Plenartische. Die schnelle Gangart war nicht vorgesehen.
Zwei Tage Hauptausschuß sollten den Kompromiß-Entwurf plenarreif machen. Nach arbeitsfreiem Wochenende war Plenum angesetzt. Reihenfolge: Bundessitz, Ueberleitungsausschuß, Wahlrecht, Schlußapotheose, Grundgesetz: drei bis vier Tage lang.
Während der Hauptausschuß ahnungslos DP-Seebohms 31 Anträge durch die Abstimmungsmühle drehte, recherchierten Adenauers Attaché Blankenhorn und der Generalsekretär des Parlamentarischen Rates, Kai Köster, die UP-Meldung.
Wahr oder nicht wahr, Warnschuß oder Retraite: Bonn reagierte mit Torschlußpanik.
Nachtarbeit für den Hauptausschuß, bei der es ziemlich durcheinanderging. Abstimmung mit leichtem Dämmerschlaf. Höpker-Aschoff stimmte versehentlich für die Abschaffung der Todesstrafe. Er war auch hinterher noch dagegen.
Adenauer amputierte Helene Wessel. Er schnitt ihr die Antragsbegründungen und Protesterklärungen zum Elternrecht weg, über das ebenso klanglos abgestimmt wurde, wie über eine xbeliebige Bagatellsache. Am Morgen danach blieb nur noch das Polizeiwesen abzustimmen. Der Antrag Zinn war so kompliziert, daß ihn niemand recht verstand, weder die Abstimmer noch die Zuhörer. Er wurde angenommen.
Dann räumte der Hauptausschuß den Saal und das Nachmittagsplenum zog ein. Vorher wurde der Fahrplan interfraktionell umgeschmissen. Neue Reihenfolge: Ueberleitungsausschuß, Grundgesetz, Wahlrecht, Bundessitz.
Ausschußvorsitzender Professor von Mangoldt durfte 40 Maschinenseiten Manuskript über Grundrechte nicht mehr verlesen. Aus Zeit- und Lustmangel. DP-Seebohm meinte: »Wer soll sich das Zeug denn jetzt noch anhören?« Der Meinung war auch Max Reimann ("Wen interessiert denn der Quatsch jetzt noch?").
Als die CSU mit Reichsbahn-Sonderzug aus München zurückkam, rechneten die Wandelgänger 14 Nein-Stimmen zum Schluß der Abstimmung aus. Die CSU enttäuschte. Zwei Stimmen für das Grundgesetz: die Franken Schlöhr und Mayr. Franken-Mayr spielte schon immer schwarzes Schaf. Vor längerer Zeit hatte er durch seine Stimmenthaltung im Finanzausschuß die Länderfinanzverwaltung erstmalig zu Fall gebracht.
Auch den anderen CSU-Verneinern war es nicht wohl bei ihrer Antwort. Ihr Sprecher Josef Schwalber hatte Tränen in den Augen, als er die CSU-Ablehnung verkündete. Und Pfeiffers Stimme war leise und brüchig bei seinem Nein.
Der historische Treppenwitz von Bonn ist das Veto aus dem Zentrum. Das stand wie ein Turm für das »Elternrecht«, nachdem die CDU bereits umgefallen war. Trotz Kardinalsbrief und Pützchen-Konferenz. Im Pützchen hatte Prälat Böhler (CDU) das Zentrum ausgeschmiert, weil es nicht fest genug für das Elternrecht stehe.
Die Erklärungen zur Abstimmung waren so zahlreich und so lang, daß Adenauer nur mit Mühe die Schlußabstimmung vor 24 Uhr hinbiegen konnte, damit das Grundgesetz das Datum des Kapitulations-Jahrestages 8. Mai trage.
Das brach wiederum DP-Heile das Genick. Er hatte sich eine schöne Rede zurechtgelegt, die den Parlamentarischen Rat ermahnte, »nicht länger auf dem verderblichen Weg des Zentralismus voranzuschreiten«, der Deutschland ins Unglück führe. Als er seine Rede fünf Minuten nach 12 sprach, war sie nicht mehr aktuell. Konrad Adenauer fragte indigniert: »Warum erzählen Sie uns das jetzt noch, fünf Minuten nach der Abstimmung?« Wilhelm Heile antwortete: »Ich habe acht Monate lang geschwiegen ... zu dem Unglück in Bonn.«