Zur Ausgabe
Artikel 20 / 84

SCHULEN Fünfer gerade

Hat es Sinn, gegen das Sitzenbleiben in der Schule zu prozessieren? Das Bundesverwaltungsgericht stellte jetzt neue Leitsätze für die Versetzung auf.
aus DER SPIEGEL 37/1978

Drei lausige Fünfen im Zeugnis eines Grundschülers aus Berlin-Charlottenburg, durch Beschluß der Lehrerkonferenz vom 22. Juni 1972 umgesetzt in ein »nicht versetzt«, machten letzte Woche Schulgeschichte.

Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin, von dem Jungen nach dem Marsch durch die Instanzen angerufen, nahm den Fall mit den Fünfern zum Anlaß für ein Grundsatzurteil übers Sitzenbleiben: Es wird Kultusbürokraten und Politiker der Bundesländer noch auf Jahre beschäftigen.

Mehrarbeit bringen vor allem zwei »Leitsätze« der obersten

Verwaltungsrichter. Künftig nämlich ist die Versetzung eines Schülers, da sie dessen Grundrecht »auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit« berührt,

* »in ihren Grundzügen durch Gesetz oder aufgrund gesetzlicher Ermächtigungen durch Rechtsverordnung zu regeln« und nicht, wie bislang noch in einigen Ländern, durch interne Verwaltungserlasse von Schulbehörden;

* schon im Gesetz detailliert zu beschreiben; dort sollen, von den Länderparlamenten sanktioniert, die für eine Versetzung Verantwortlichen und auch die »Grundsätze« genannt werden, nach denen »die Eignung des Schülers für eine erfolgreiche Mitarbeit in der nächsthöheren Klasse festzustellen ist«.

Was nun höchstrichterlich für geboten erklärt wurde, hatten auch Kollegen unterer Instanzen in den vergangenen Jahren schon ein paar Mal angemahnt. Hin und wieder annullierten Verwaltungsgerichte Nichtversetzungen, wenn Eltern von Sitzenbleibern auf die fehlende Gesetzesgrundlage im Schulrecht pochten. Doch diese Chance machten die Berliner jetzt mit einem dritten Leitsatz zunichte -- und wiesen damit zugleich auch die Klage des Charlottenburgers ab.

»Zur Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit und Funktionsfähigkeit der Schule«, schrieben sie ins Urteil, »muß für eine Übergangszeit die Fortgeltung einer als Verwaltungsvorschrift erlassenen Versetzungsordnung hingenommen werden, um dem Normgeber Gelegenheit zur rechtsmäßigen Regelung zu gehen.«

Ob die Normgeber die -- unbestimmte -- Frist auch zur inhaltlichen Verbesserung der alten Versetzungsregeln nutzen, steht dahin. Notwendig wär?s im interesse der zur Zeit rund 400 000 bundesdeutschen Sitzenbleiber -- vier Prozent aller Schüler.

Denn was da über Versetzen oder Nichtversetzen teilweise noch in den alten Verwaltungserlassen, teilweise schon in neuen Schulgesetzen steht, ist kompliziert genug schon für ein einzelnes Bundesland und füllt etwa in einem neuen Hamburger Gesetzentwurf 40 DIN-A4-Seiten. Sperriger noch wird der Stoff dadurch, daß jedes Land auf seinem eigenen Versetzungsrecht beharrt.

In dem einen Bundesland etwa können drei Mangelhaft durch andere Fächer ausgeglichen werden, in anderen Ländern nur zwei Fünfen. In Bayern kann ein Schüler seine Miesen nur in »geeigneten Fällen« und nach Konferenzbeschluß der Lehrer ausgleichen, in Rheinland-Pfalz hat er einen Rechtsanspruch auf rein rechnerischen Ausgleich. In Hamburg wird jede normale Versetzung eines anderen Bundeslandes anerkannt, in Niedersachsen nicht. Dort nämlich darf ein Schüler -- anders als in anderen Bundesländern -- nur dann in die reformierte Oberstufe eines Gymnasiums aufrücken, wenn er mindestens in einem Hauptfach ein »befriedigend« hat.

Ob die verworrenen Regeln für Sitzenbleiben -- die in der Praxis von den Lehrern per Notengebung unterlaufen werden können -- Schülern aufs Ganze gesehen mehr nutzen oder schaden, ist unentschieden. Pädagogen und Eltern präsentieren seit Jahren ernst zu nehmende Gründe für beide Möglichkeiten.

Sitzenbleiben, behaupten die einen, sei als Lernanreiz, sei zur Selbsterkenntnis mancher Schüler notwendig und erweise sich nicht selten als heilsamer Schock. »Schüler müssen lernen«, sagt der dreifache Vater und Leitende Regierungsdirektor Udo Franck, Chef der Rechtsabteilung in der Hamburger Schulbehörde, »sich auch ihrem Versagen im Urteil anderer zu stellen. Und wo sollen sie das lernen, wenn nicht in der Schule?«

Sitzenbleiben, argumentieren die andern. bewirke meist das Gegenteil des pädagogisch Wünschenswerten. Es stemple Schüler zu Versagern und breche ihr Selbstbewußtsein. beseitige hingegen nicht die eigentlichen Ursachen des Dilemmas. »Das Sitzenbleiben gleicht dem K.o.-Schlag nach einem langen Kampf«, urteilt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Willy Starck, der »die Sitzenbleiber-Katastrophe« in einer ausführlichen Dokumentation behandelte. Starck: »Es bedarf ungewöhnlicher Erfolgserlebnisse und sachkundiger Hilfe, um diese Niederlage wettzumachen.«

Hilfe jedoch fehlt allzuoft. Eindrucksvoller Beweis dafür, so sagen die Gegner des Sitzenbleibens, sind die derzeit rund 500 Schüler-Selbstmorde jährlich. Häufig war das »nicht versetzt« der Anlaß dazu -- zum Sprung aus dem Badezimmerfenster oder unter die Räder einer Lokomotive, zum Griff nach dem tödlichen Pflanzenschutzmittel oder zur Pistole.

Solche Bilanz bewirkte denn auch, daß Lehrer das Sitzenbleiben an vielen Schulen behutsamer als früher verordnen. Der Anteil der Nichtversetzten an der Gesamtschülerzahl ging in den Bundesländern kontinuierlich zurück. in Baden-Württemberg beispielsweise an Gymnasien von zehn Prozent (1972) auf 6,1 Prozent (1977), an Realschulen von 8,2 (1973) auf 4,9 Prozent im vergangenen Jahr.

in Bayern gibt es cia Versetztwerden »auf Probe« für ein halbes Jahr, etwa dann, wenn die mangelhafte Leistung offensichtlich durch Krankheit verursacht wurde; nicht nur in Berlin können Nichtversetzte das Stolpern durch eine Nachprüfung in den Sommerferien auffangen. Und in mehreren Bundesländern gibt es mittlerweile ähnliche Generalklauseln wie in Hessen, wo seit einem Jahr gutwillige Lehrerkollegien die Fünfer gerade sein lassen können,

»wenn die Versetzungskonferenz zu der Auffassung gelangt, daß der Schüler im Unterricht der nächsthöheren Klasse erfolgreich mitarbeiten wird oder dort besser gefördert werden kann«,

* »oder wenn sonstige pädagogische Gründe die Versetzung rechtfertigen«.

Auch der Trend, bestimmte Klassen-Übergänge grundsätzlich vom Sitzenbleiben auszunehmen, nimmt zu. Zwischen 5. und 6. Klassen. in der sogenannten Beobachtungs- oder Orientierungsstufe, gibt es ebenso wie zwischen der 12. und 13. Klasse der Kolleg- oder Studienstufe kein Hängenbleiben mehr; in Rheinland-Pfalz findet Sitzenbleiben zwischen 1. und 2. Schuljahr nicht mehr statt, in Berlin nicht mehr während der gesamten Grundschulzeit.

Glatt abgeschafft wurde das Sitzenbleiben in den integrierten Gesamtschulen. Dort bleiben die Schüler stets innerhalb ihrer Jahrgangsklasse und werden bei Schwächen in einzelnen Fächern jeweils nur einem Parallelkurs mit geringeren Anforderungen zugeteilt -- und bei Leistungssteigerung wieder hochgestuft. In eine niedrigere Jahrgangsklasse können Gesamtschüler nur in Ausnahmefällen zurückversetzt werden, etwa wegen langer Krankheit oder auf Wunsch der Eltern.

Auch in der Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts schimmert Unbehagen an der Praxis des Sitzenbleibens auf. »Die Nichtversetzung hat nicht nur eine Verzögerung der Schulausbildung ... zur Folge«, gaben die Richter zu bedenken, »sie kann auch ... die Berufsmöglichkeiten beeinträchtigen. Diesem Gesichtspunkt kommt gerade heute angesichts der Arbeitslosigkeit vieler Jugendlicher und des Mangels an Ausbildungsstellen besondere Bedeutung zu.«

Für solch Übergeordnetes bleibt im Alltag der Verwaltungsgerichte allerdings selten Raum. Die Gerichte werden in Versetzungsfragen zuständig, wenn zuvor ein Widerspruchsverfahren bei der Schulbehörde negativ verlaufen ist -- wie derzeit in rund 700 von insgesamt 1000 Verfahren je Jahr.

»Wer ein Widerspruchsverfahren verloren hat«, weiß die Regierungsdirektorin Martina Wedekind, beim Darmstädter Regierungspräsidenten für diese Prozedur zuständig, »sollte sich den Gang zum Richter genau überlegen.«

Dies nicht nur, weil sich der Weg durch die Instanzen häufig jahrelang hinzieht, sondern auch, weil die Gewinnchancen für Sitzenbleiber erfahrungsgemäß gering sind. Die Schulbehörden, in der Regel nicht auf Rechtsstreit erpicht, geben in den Widerspruchsverfahren dann fast immer nach, »wenn es etwas fraglich ist, wer in einem Prozeß recht bekommen würde« (Martina Wedekind).

Etwa 300 von 700 Abgeblitzten probieren es bundesweit dennoch, 75 Prozent der Prozessierenden verlieren dabei erneut. Sie scheitern zumeist, weil sie die Prüfungsmöglichkeiten der Richter überschätzen.

Da zählen etwa vor dem badenwürttembergischen Verwaltungsgerichtshof nicht die schwer greifbaren Schwierigkeiten in den Familienverhältnissen eines Wieslocher Oberschülers, der sich dadurch in einzelnen Fächern benachteiligt fühlte. Da gilt vor Gericht nicht, daß ein Kasseler Lehrer seinem Schüler die Versetzung versprac;h auch nicht die Meinung eines Erdinger Elternpaares, ihr Kind werde in der Schule nicht richtig verstanden. Eine Schülerin aus dem hessischen Korbach kam nicht damit durch, an ihrem Sitzenbleiben sei der Lateinlehrer schuld: Er habe sie eingeschüchtert. Es sei eine Frage des Lehrstils, antworteten die Richter, ob ein Fachlehrer Schüler hart oder nachsichtig anfasse.

Typisch der Fall einer 17jährigen Schülerin, die beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht gegen ihre Nichtversetzung wegen zweier »mangelhaft« (Deutsch und Englisch) prozessierte. Das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, die Schülerin habe ihren Lehrern weder »Beurteilungsfehler« noch »Verfahrensfehler«, weder »falsche Tatsachen«, »sachfremde Erwägungen« noch »eine Verkennung allgemeingültiger Bewertungsgrundsätze« nachweisen können.

Anders das Urteil desselben Gerichts und derselben drei Richter auf die Klage eines Schiilers, der wegen einer »Sechs« in Englisch sitzenblieb. Die Beweisaufnahme ergab. daß die Lehrerin »die Leistungen des Klägers im ersten Schulhalbjahr überhaupt nicht berücksichtigt« und damit gegen die Versetzungsbestimmungen verstoßen habe, Außerdem war von der Lehrerin als »ungenügend« bewertet worden, daß der Schüler ein Referat nicht erarbeitet hatte -- was nach den Schulbestimmungen nur bei Verweigerung einer Pflichtleistung hätte geschehen dürfen.

So verschieden die Themen der einschlägigen Urteile in Sachen Versetzung auch sind -- nur die nachweisbaren Fakten führen zum Erfolg, und daran mangelt es den meisten Klägern. »Viele setzen da auf das Falsche, sie erhoffen sich«, formuliert der Hamburger Schulrechtler Franck, »was zwar Thema von Diskussionen und Protesten, aber nicht Thema dieser Prozesse sein kann: daß Richter mit dem subjektiven pädagogischen Ermessen der Lehrer nach der subjektiven Meinung der Schüler ins Gericht gehen.« Der Münchner Verwaltungsrichter Günter Blößner, seit acht Jahren mit Schulrecht befaßt, pflichtet aus Erfahrung bei. »Der pädagogische Bewertungsspielraum ist für uns kaum nachprüfbar.«

Eine Schneise für prozeßwillige Schüler und Eltern könnte sich allerdings just in jenes Gesetzes-Dickicht schlagen lassen, das nach dem jüngsten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in den Bundesländern wohl wachsen wird.

Ausdrücklich ließen die Berliner Richter in ihrer Urteilsbegründung offen, ob die bislang in acht Ländern vorhandenen Schulgesetze »den. Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips genügen« -- oder womöglich immer noch anfechtbar sind.

Zur Ausgabe
Artikel 20 / 84
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren