Kanada »FÜNFZEHN MANN KONNTEN STRAUSS ENTFÜHREN«
SPIEGEL: Herr Premierminister, zwei politische Entführungen haben das gesunde, saubere Kanada in den Augen der Weltöffentlichkeit zum Land der Gewalttätigkeit und des Terrors werden lassen.
BOURASSA: Man kann nicht behaupten, daß wir zu einem Land des Terrors und der Gewalt geworden sind. Wir erleben zwar eine besondere Tragödie, aber Terror existiert zur Zeit in allen zivilisierten Ländern. Bomben explodieren überall, Richter werden im Gerichtssaal oder auf der Straße ermordet. Für mich ist es ein wenig die Stunde der Wahrheit für die westliche Zivilisation.
SPIEGEL: Aber mußte denn gleich das Kriegsrecht verhängt werden?
BOURASSA: Diese Art von Terrorismus erfordert besondere Maßnahmen. Wenn ein Minister entführt oder jemand aus der Elite des Landes bedroht wird, muß die Polizei alle In Frage kommenden Personen beschützen: Minister, Abgeordnete, die Direktoren großer Gesellschaften, Ärzte und so weiter. Außerdem muß sie die Kidnapper verfolgen und Verdächtige überwachen. Die Polizei tat das fünf Tage lang, dann erklärte sie uns: Wir können nicht mehr, wir arbeiten 20 Stunden am Tag. Deshalb mußten wir die Armee einsetzen.
SPIEGEL: Mit dem Ergebnis, daß Sie die Ermordung Ihres gekidnappten Arbeitsministers Laporte nicht nur nicht verhinderten, sondern möglicherweise beschleunigt haben?
BOURASSA: Ich glaube das nicht, Denn alles spricht dafür, daß wir es mit Leuten zu tun haben, die fanatischer sind, als Kanada und Quebec je vermuten konnten. Laporte ist das Opfer einer neuen Form von Haß, verbunden mit raffinierter Grausamkeit. Da es eine Chance gab, Laporte zu retten, mußten wir so handeln, wie wir gehandelt haben. Wir waren vielleicht nur zwei Straßen von seinem Versteck entfernt, doch wir hatten kein Glück.
SPIEGEL: Die Regierung behauptet, die Terroristen seien nur eine ganz kleine Gruppe. Wenn dies so ist, warum ist es Ihnen dann nicht gelungen, diese Zellen auszuheben, bevor ein Minister entführt wurde?
BOURASSA: Weil sich die Polizei erst auf diese neue Form von Terror einstellen muß. Besonders gefährlich ist, daß das, was bei uns In Quebec passierte, leicht in jedem anderen Land nachgeahmt werden kann. Um in Deutschland Herrn Strauß zu entführen, würden 15 Mann reichen ...
SPIEGEL: ... vielleicht sogar weniger ...
BOURASSA: ... und die Entführung von Herrn Strauß würde Deutschland in Angst stürzen. Ebenso wäre es in England oder Frankreich. Aber Ich bin überzeugt, daß es so einfach nicht weitergehen kann. Denn 200 Menschen können ihren Willen nicht 20 Millionen aufzwingen.
SPIEGEL: Ist der Einsatz der noch so legalen Staatsmacht überhaupt eine geeignete Maßnahme, Geiseln aus der Hand von Terroristen zu retten?
BOURASSA: Einverstanden. Doch was hätte die Regierung machen sollen?
SPIEGEL: Sie hätte den Machtapparat vorsichtiger einsetzen können.
BOURASSA: Und was hätte das Volk gesagt, wenn noch ein Mensch entführt worden wäre? Das Volk hätte dann gefragt: Worauf wartet die Regierung noch? Wartet sie, bis 15 Personen entführt worden sind, ehe sie handelt? Angesichts der sich abzeichnenden Demonstrationen an den Universitäten und in Arbeiterkreisen blieb mir keine Wahl.
SPIEGEL: Sie sind also der Ansicht, daß die Bevölkerung von Quebec die Soldaten in den Straßen gern sieht?
BOURASSA: Aber gewiß doch. Ich habe den Eindruck, daß dies die populärste Entscheidung war, die ich seit meinem Amtsantritt als Premierminister getroffen habe. Ich traf Leute, die aus Dankbarkeit weinten und mir die Hand schüttelten.
SPIEGEL: Sind die Terroristen nach Ihrer Analyse eher frankokanadisch, separatistisch oder anarchistisch?
BOURASSA: Ich glaube, es sind linke Extremisten, Leute, die auf Kuba oder in Algerien ausgebildet wurden, Leute, die die soziale Revolution wollen. Es gibt keine Möglichkeit, diese Leute zu befriedigen.
SPIEGEL: Die Opposition aber wirft Ihnen vor, Sie wollten das gar nicht, sondern Sie benutzten die Entfüh-
* Mit Helmut Sorge und Dieter Wild.
rungen, um gegen unbequeme politische Gegner vorzugehen, vor allem gegen die Separatisten.
BOURASSA: Die politische Opposition, all jene, die sich die Zerstörung Kanadas zum Ziel gesetzt haben, genießen volle Meinungsfreiheit. Bei den letzten Wahlen haben die Separatisten eine ungeheure Propaganda verbreitet: über den Rundfunk, in Autobussen, in großen Zeitungen. Die Meinungsfreiheit in Quebec geht so weit, daß die führenden Persönlichkeiten des Landes als Hunde bezeichnet werden konnten. Ist es in Deutschland erlaubt, den Präsidenten oder Regierungschef einen Hund zu nennen?
SPIEGEL: Nein, ungestraft wohl nicht. Aber bei Ihnen sitzen jetzt auch Gewerkschaftsführer und Politiker ohne Gerichtsurteil im Gefängnis. Angeblich sollen unter den 350 Inhaftierten auch zahlreiche Leute sein, die mit den Extremisten nicht einmal sympathisieren.
BOURASSA: Sie werden wieder freigelassen, wenn sie unschuldig sind. 300 Verhaftete, das bedeutet noch nicht den Weltuntergang.
SPIEGEL: Haben Sie eigentlich damit gerechnet, daß die Entführer den Minister Laporte auch ermorden würden, oder haben Sie die Drohung nicht ernst genug genommen?
BOURASSA: Ich möchte sagen: Wir hatten den Eindruck, daß die Entführer sehr viel Wert auf die Sympathien der Öffentlichkeit legen und deshalb ihre Geiseln weder foltern noch töten würden. Andererseits sind das aber offensichtlich Leute, die nicht logisch denken wie wir. Deshalb mußten wir uns auf alles gefaßt machen. Die Regierung hat dementsprechend auch alles getan, um Laporte zu retten. Sie hat mit den Entführern verhandelt, aber sie konnte deren Bedingungen nicht annehmen. Wenn wir die 23 Gefangenen freigelassen hätten, darunter einige Totschläger, hätten wir die Terroristen zu Helden gemacht und alle -- jene eingeladen, die noch zögerten, gleichfalls Terrorist zu werden.
SPIEGEL: Sie haben es also vorgezogen, die Geiseln zu opfern?
BOURASSA: Wie können Sie sagen »Geiseln geopfert«? Wir waren bereit, bestimmte Konzessionen zu machen, beispielsweise bedingte Freilassung und ein freies Geleit für die Entführer. Wenn wir alle Bedingungen der Entführer angenommen hätten, wäre in drei Wochen alles von neuem losgegangen. Wo käme da ein Staat hin? Wir hätten der Anarchie den Weg bereitet.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß die Terroristen als nächsten den Premierminister von Quebec entführen?
BOURASSA: Noch haben sie es nicht versucht.