FÜR DEN KONVENTIONELLEN KRIEG ZU SCHWACH?
Das »letzte Mittel der Könige« (ultima ratio regum) nannte Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. die Artillerie, nachdem seine Kanoniere 1653 die Truppen des aufständischen Prinzen Condé zusammengeschossen und damit Frankreichs Vorherrschaft in Kontinentaleuropa auf Jahrzehnte gesichert hatten.
Ein letztes Mittel ist die Artillerie über drei Jahrhunderte geblieben: Bis 1966, so unlängst Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, soll Westdeutschlands Bundeswehr eine der »modernsten Streitkräfte der Welt« werden, und tragende Säule dieser Streitmacht soll nach Hassel neben Panzern, Raketen und Flugzeugen die Artillerie sein.
Bis 1966 will der Bundesverteidigungsminister seine Artillerie in die Lage versetzen,
- einen atomar geführten Angriff roter Landstreitkräfte ihrerseits auch mit Nuklearwaffen - Atomgranaten und -Raketen - abzuwehren;
- eine mit konventionellen Waffen geführte Aggression mit herkömmlichen Mitteln - Spreng- und Brandmunition - abzuschlagen.
Diese Doppelfunktion hat den Charakter der Artillerie gegenüber ihrer Aufgabe noch im Ersten und Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Erstmals ist sie nicht nur eine Unterstützungswaffe für die Kampftruppen, sondern bei Verwendung atomarer Munition zugleich - so die Heeresdienstvorschrift der Bundeswehr »Truppenführung« (HDv 100/1) - auch »das wichtigste Kampfmittel in der Hand der militärischen Führung«.
So sollten die 8039 Haubitzen und Kanonen, mit denen Kaiser Wilhelms Armeen 1914 in den Krieg zogen (Geschützbestand bei Kriegsende: rund 16 000), lediglich die kämpfende Truppe unterstützen und feindliche Kräfte niederhalten und zerschlagen. Paradebeispiel für die damalige artilleristische Kampfführung war Verdun - nur gelang es den angreifenden Divisionen damals nicht, mit Hilfe des konzentrierten Feuers aus rund 1200 Geschützen die französische Front aufzubrechen.
Auch im Zweiten Weltkrieg, den das deutsche Heer mit etwa 7600 Geschützen begann, änderte sich die artilleristische Kampfweise grundsätzlich nicht. Analog zu den großräumigeren Operationen der Infanterie- und Panzerverbände wurde die Artillerie lediglich schneller und wendiger: Bei den gepanzerten und motorisierten Divisionen ersetzten Zugmaschinen die Pferdegespanne, und ganze Batterien wurden auf Panzerfahrgestelle montiert.
Als »Sturmgeschütze« eroberte sich diese neue, bereits 1935 vom späteren Generalfeldmarschall von Manstein konzipierte Waffe einen festen Platz im modernen Heeres-Arsenal. Es war eine geländegängige, gepanzerte, sogenannte Begleitwaffe, die vom Gegner besonders gefürchtet wurde: Bis zum Frühjahr 1944 schossen allein die Sturmgeschütze 20 000 Panzer ab (angesichts der fortgeschrittenen Mechanisierung der Landstreitkräfte ist dieser Geschütztyp heute überflüssig).
Die Artillerie der neuen deutschen Wehr begann vergleichsweise bescheiden. Die amerikanische 10,5-Zentimeter -Haubitze M 2 A 1, 1956 als erstes Standardgeschütz bei der Bundeswehr eingeführt, hatte wegen ihres umständlich zu handhabenden Schraubverschlusses eine geringere Feuergeschwindigkeit als das deutsche Standardgeschütz des Zweiten Weltkriegs - die »le. FH 18« (eine leichte Feldhaubitze vom Kaliber 10,5 Zentimeter), die bei deutschen Artilleristen noch heute als das eleganteste Geschütz gilt, das es je gab.
Zudem war der Schwenkbereich des amerikanischen Geschützes unzureichend. Heute dienen einige M 2 A 1 noch als Trainer für die Ausbildung im scharfen Schuß, die anderen wurden eingemottet.
Denn seit die Bundeswehr-Korps und -Divisionen von 1959 an mit atomaren Trägerraketen der Typen »Sergeant« (Reichweite: etwa 150 Kilometer) und »Honest John« (Reichweite: etwa 40 Kilometer) ausgerüstet wurden, wird auch Westdeutschlands Rohr-Artillerie modernisiert. Die Bundeswehr erhält zur Zeit drei neue Geschütztypen, die das erste Standardgeschütz M 2 A 1 sowie die später eingeführte 10,5-Zentimeter-Panzerhaubitze M 52 ablösen. Die Geschütze der neuen Garnitur sind auf Selbstfahrlafetten montiert und können sowohl konventionelle als auch atomare Munition verschießen. Es sind:
- die schwere Panzerhaubitze M 110
- Kaliber 20,3 Zentimeter, 16,9 Kilometer Reichweite;
- die schwere Panzerkanone M 107 - Kaliber 17,5 Zentimeter, über 30 Kilometer Reichweite, und schließlich
- die mittlere Panzerhaubitze M 109 -Kaliber 15,5 Zentimeter, rund 16 Kilometer Reichweite.
Außer den »Sergeant«- und »Honest John«-Batterien, die ausschließlich für den Verschuß atomarer Munition angeschafft wurden, wird jedes der drei Bundeswehr-Korps - das sind vier Divisionen mit je drei Brigaden - nach Abschluß des Neuausstattungs-Programms im Jahr 1966 über 234 Rohre verfügen, die sowohl Atomgranaten als auch konventionelle Geschosse abfeuern können. Außerdem erhalten die Korps bis dahin jeweils noch 96 für konventionelle Spreng-, Nebel- und Brandmunition ausgelegte sogenannte Mehrfach-Raketenwerfer.
Laut Nato-Konzept muß eine Bundeswehr-Division jeweils einen Frontabschnitt von mehr als 30 Kilometer Breite gegen einen roten Angreifer halten. Ihre atomare Feuerkraft würde dazu beim Ausrüstungsstand von 1966 durchaus ausreichen. Fachleute bezweifeln indes, daß die 54 Artillerie-Rohre und 24 Mehrfachwerfer, über die jede Division nach Abschluß des Umrüstungsprogramms verfügt, ausreichen, den Kampfauftrag in einem konventionellen Krieg zu erfüllen.
Auch bundesdeutsche Artilleristen sind sich darüber klar, daß der potentielle Gegner Rußland einer Bundeswehr-Division ein Mehrfaches an konventioneller artilleristischer Feuerkraft gegenüberzustellen vermag.
Neue Bundeswehr-Geschütze M 110, M 107, M 109: Säule der Streitmacht
Wehrmacht-Waffen Sturmgeschütz, le. FH 18
Elegant und überflüssig