SPIEGEL Gespräch »Für die Russen ist China ein Nichts«
SPIEGEL: Mr. Huan, ein Vierteljahrhundert lang schien die Feindschaft zwischen den beiden kommunistischen Weltmächten UdSSR und China, zur Freude vieler im Westen, unheilbar zu sein. Seit einem Jahr gibt es nun aber unübersehbare Zeichen einer Annäherung - und im Westen wird man nervös. Wird der Tag kommen, an dem beide Staaten zu voller Solidarität zurückgefunden haben?
HUAN: Die Beziehungen zwischen der Sowjet-Union und China sind Beziehungen unter Nationen, wenn auch kommunistischen. Und der britische Staatsmann Benjamin Disraeli hat einmal gesagt: »Es gibt keine beständigere Kraft als die Interessen einer Nation.« Auch kommunistische Staaten haben nationale Interessen, etwa ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre staatliche Sicherheit zu wahren. Wenn diese Interessen von der Gegenseite nicht respektiert werden, kann das zu Konflikten führen.
SPIEGEL: Auch ein Bruch ist nicht immer zu vermeiden?
HUAN: Solange die von mir erwähnten Interessen respektiert werden, doch.
SPIEGEL: Neuerdings wird in China die alte Terminologie vom proletarischen Internationalismus wieder benutzt. Könnten Sie sich vorstellen, daß die sozialistischen Staaten wieder eine große Familie werden, in der niemand beansprucht, der Vater zu sein?
HUAN: Für ein solches Ziel sollten die sozialistischen Staaten eintreten, aber es scheint zur Zeit nicht erreichbar.
SPIEGEL: Warum nicht?
HUAN: Zur Psyche der Russen gehört, daß sie sich als Vater ansehen, während die anderen die Söhne sein sollen. Wenn die Russen diese Einstellung nicht ändern, wird es keine sozialistische Familie geben. Statt dessen wird ein schwerer Interessengegensatz bleiben. Denn die Sowjet-Union will andere Staaten unter ihre Kontrolle bringen, die aber wünschen nicht, kontrolliert zu werden.
SPIEGEL: Es gab doch auch einen schweren ideologischen Konflikt: Moskau und Peking bestritten einander das Recht, sich sozialistisch nennen zu dürfen. Seit kurzem bezeichnet die Sowjet-Union China nun aber wieder als einen sozialistischen Staat. Ist die Sowjet-Union in chinesischen Augen gleichfalls wieder ein sozialistischer Staat?
HUAN: Wir sind der Meinung, daß die Sowjet-Union ein sozialistischer Staat war, aber viele Fehler begangen hat, die elementaren Kriterien eines sozialistischen Staates zuwiderlaufen. Ihre expansionistische und hegemonistische Politik zum Beispiel kann nicht sozialistisch genannt werden.
SPIEGEL: Die Politik der Sowjet-Union, von China Hegemonismus genannt, hat dazu geführt, daß China 20 Jahre lang erklärt hat, ein Krieg zwischen der Sowjet-Union und China sei unvermeidbar.
HUAN: Nein, das haben wir so nicht erklärt, sondern lediglich: Wenn die Sowjet-Union ihre hegemonistische Politik China gegenüber fortsetze, könne das zu einer Katastrophe führen.
SPIEGEL: Also hatten Sie die sowjetische Politik doch als eine große Gefahr für den Weltfrieden angesehen. Haben Sie Ihre Ansicht in diesem Punkte geändert?
HUAN: Nein, die sowjetische Politik stellt für China nach wie vor eine unmittelbare und schwerwiegende Bedrohung dar. Eine Million sowjetischer Soldaten stehen an der chinesischen Grenze, und die Sowjet-Union hat SS-20-Raketen in Asien disloziert.
SPIEGEL: 135 Stück, soweit wir wissen.
HUAN: Die genaue Zahl spielt keine Rolle. Eine andere Tatsache ist, daß die Sowjet-Union China einzukreisen versucht, indem sie mit Vietnam gemeinsame Sache macht. Dazu kommt noch Afghanistan. Wie Sie sehen, sind wir auf drei Seiten von der UdSSR eingeschlossen - darin liegt die direkte und schwerwiegende Bedrohung, von der ich sprach. _(Mit Redakteuren Tiziano Terzani und ) _(Dieter Wild. )
SPIEGEL: In Ihren Augen ist die Sowjet-Union also in der letzten Zeit keineswegs friedfertiger geworden?
HUAN: Nein, China gegenüber jedenfalls hat sie sich nicht sehr gewandelt.
SPIEGEL: China verlangt von der Sowjet-Union den Abzug der SS-20-Raketen aus Asien, ebenso wie der Westen den Abzug der SS-20 aus dem europäischen Teil der Sowjet-Union verlangt. Was haben die Russen geantwortet?
HUAN: Wir verlangen nicht den Abzug, sondern die Nichtstationierung und Zerstörung der bereits in Asien stationierten SS-20.
SPIEGEL: Was machen Sie denn, wenn Moskau sich weigert, seine gegen China gerichteten SS-20 zu zerstören, so wie es sich weigert, seine gegen Europa gerichteten SS-20 zu zerstören?
HUAN: Da müssen wir unsere Forderungen eben immer und immer wiederholen, bis die Sowjet-Union schließlich nachgibt.
SPIEGEL: Was empfanden die Chinesen eigentlich, als die Sowjet-Union den Amerikanern und Europäern bei den Genfer Gesprächen anbot, etliche SS-20-Raketen aus dem europäischen Teil der Sowjet-Union in den asiatischen zu verlegen?
HUAN: Die Russen haben das nur anfangs angeboten, dann haben sie ihren Standpunkt geändert und erklärt, sie würden ihre SS-20 im europäischen Teil der Sowjet-Union nicht in den asiatischen verlegen.
SPIEGEL: Wissen Sie, warum die Sowjet-Union die SS-20 in Asien in Stellung gebracht hat, von wo aus sie ganz China erreichen können?
HUAN: Die Russen sagen, die SS-20 seien nicht gegen China, sondern gegen Japan und die USA gerichtet. Aber in Wahrheit haben sie die SS-20 meiner Meinung nach in Asien stationiert, um mit militärischen Drohmitteln politischen Druck auf China auszuüben.
SPIEGEL: Meinen Sie damit, um Druck in dem Sinn auszuüben, daß China von einer weitergehenden Zusammenarbeit mit dem Westen abgeschreckt würde?
HUAN: Nein, denn die Russen wissen genau: China ist unabhängig, es lehnt sich weder zu stark an den Westen noch an die Sowjet-Union an.
SPIEGEL: Noch vor einigen Jahren hat aber China wiederholt eine enge Zusammenarbeit mit Japan, Europa, der Dritten Welt und sogar den USA gefordert. Teng Hsiao-ping ging so weit, »koordinierte Maßnahmen« gegen Moskau vorzuschlagen. Seit kurzer Zeit werden solche Vorschläge von China nicht mehr vorgebracht. Warum hat sich Ihre Haltung da geändert?
HUAN: Geändert hat sich die internationale Lage. Zu Beginn der 70er Jahre hatte die Sowjet-Union militärisch sehr stark nach außen expandiert und war eine Drohung für jedermann geworden. China bot deshalb jedem Staat Zusammenarbeit an, der sich von der Sowjet-Union bedroht fühlte.
Gegen Ende der Carter-Administration und zu Beginn der Reagan-Administration haben die Amerikaner dann aber politisch wie militärisch entschieden und energisch Front gegen die UdSSR gemacht: beim Ringen um Überlegenheit in der Atomrüstung, in der Frage der europäischen Mittelstreckenwaffen, in der Karibik, im Nahen Osten und schließlich auch in Asien.
Dadurch wurde die Sowjet-Union gestoppt, hat sich die Rivalität der beiden Supermächte in der ganzen Welt beträchtlich verschärft. Es scheint, daß die Russen sich nicht stark genug fühlen, auf die amerikanische Offensive noch zu reagieren. Zwischen beiden ist unserer Ansicht nach ein gewisses Gleichgewicht entstanden, vor allem auf militärischem Gebiet.
SPIEGEL: Das hört sich ja fast so an, als begrüße China die offensive amerikanische Außenpolitik?
HUAN: Es kommt nicht darauf an, ob wir diese Politik begrüßen oder nicht, sondern auf die ernstzunehmenden Tatsachen, denen die Welt gegenwärtig konfrontiert ist. Wir sehen insofern für den Weltfrieden kein positives Zeichen darin, als sich die Rivalität zwischen den beiden Supermächten verschärft.
SPIEGEL: Mr. Huan, als Henry Kissinger und Richard Nixon 1972 nach Peking kamen, glaubten sie, der anscheinend unüberwindliche Gegensatz zwischen der Sowjet-Union und China versetzte Amerika in die günstige Lage, fast nach Belieben mit der einen oder der anderen Macht zu gehen, also die sogenannte chinesische oder die sogenannte _(Oben: Unterhändler Iljitschow und Qian ) _(Qichen bei den ) _("Normalisierungsgesprächen« in Peking; ) _(unten: Sowjetexperten in der ) _(Mandschurei. )
russische Karte spielen zu können. Jetzt dagegen scheint es so, daß der sich verschärfende amerikanisch-sowjetische Gegensatz China in die günstige Lage bringt, die amerikanische oder die sowjetische Karte spielen zu können. Sehen Sie das auch so?
HUAN: Ich sehe das nicht so. Die Dreiecks-Beziehung zwischen den großen Mächten ist in der Tat wichtig für die Aufrechterhaltung des strategischen Gleichgewichts in der Welt. Aber China hat nicht mit Karten gespielt und will auch nicht spielen. Es spielt weder die russische noch die amerikanische Karte. Es wird auch nicht erlauben, daß die anderen die chinesische Karte spielen. Unsere Politik bewegt sich dabei nicht in gleichem Abstand zu beiden Supermächten, denn die Sowjet-Union ist für die Sicherheit unseres Landes die direktere und schwerer wiegende Bedrohung.
SPIEGEL: Aber eine indirekte Bedrohung sind die USA für China gleichfalls?
HUAN: Die Sicherheit Chinas wird auch von den USA bedroht und angegriffen. Aber im Gegensatz zur direkten militärischen Bedrohung seitens der UdSSR sind Drohung und Angriff der USA indirekt: Wie Sie wissen, brachten die USA Taiwan durch Lieferung von Waffen unter ihre Kontrolle und haben eine Wiedervereinigung des chinesischen Mutterlandes mit Taiwan durchkreuzt.
SPIEGEL: Aber kann die amerikanische Kontrolle über Taiwan, können selbst amerikanische Waffenlieferungen an Taiwan in Höhe von 350 Millionen Dollar eine so kleine Insel zu einer Bedrohung Chinas machen?
HUAN: China bewertet nicht so sehr die militärische Wirkung der an Taiwan gelieferten amerikanischen Waffen. Es geht darum, daß Taiwan ein Teil Chinas ist und chinesischer Souveränität untersteht. China kann diesen Teil seiner selbst nicht aufgeben und auf keinen Fall die rücksichtslose Einmischung in seine inneren Angelegenheiten dulden - auch nicht durch die Amerikaner -, nicht die Verletzung der Souveränität Chinas, nicht die aggressiven beziehungsweise hegemonistischen Taten, die vorsätzlich »zwei China« schaffen sollen.
SPIEGEL: Die Russen versuchen, den amerikanisch-chinesischen Streit über Taiwan für sich auszunutzen. Sie hoffen offenbar, der gegen Moskau gerichteten Außenpolitik der USA den Boden unter den Füßen wegzuziehen, wenn sie sich China annähern. Macht die Sowjet-Union den Chinesen dabei mehr Avancen als China den Russen?
HUAN: Die Gespräche zwischen der Sowjet-Union und China kommen nur sehr langsam voran. Es gibt zwar klimatische Verbesserungen, aber in den drei wichtigen Fragen - der militärischen Lage an der Grenze, Kambodscha und Afghanistan - gibt es keinerlei Fortschritt.
SPIEGEL: Warum, glauben Sie, kommen die Russen China in diesen drei Fragen nicht weiter entgegen, wo sie doch in der Tat Reagans gesamte Außenpolitik durch einen Ausgleich mit China aus den Angeln heben könnten?
HUAN: Da müssen Sie wieder die russische Psyche in Rechnung stellen: Die Russen schätzen sich selbst sehr hoch ein und glauben, daß China ein Nichts sei. Sie versuchen, die Amerikaner gleichfalls, China nur als eine Karte zu benutzen. Sie - ich beziehe mich auf beide Supermächte - haben noch nicht begriffen, daß das nationale Gefühl und die Sicherheitsinteressen anderer Völker respektiert werden müssen. Sie sind ausnahmslos hartnäckige Hegemonisten.
SPIEGEL: Zwischen den Hegemonisten gibt es zur Zeit eine besonders tiefe Irritation: Moskau fühlt sich durch die antisowjetische Politik der Reagan-Administration in die Enge getrieben und durch ihre antikommunistische Rhetorik beleidigt. Wie empfindet das kommunistische China diese antikommunistische Rhetorik?
HUAN: Wir wissen natürlich, daß die Reagan-Leute fanatische Antikommunisten sind. Aber Rhetorik ist eine Sache, das Nationalinteresse von Staaten eine andere. Die Amerikaner konnten ursprünglich nicht mal den sowjetischen Kommunismus vom chinesischen unterscheiden - sie waren schlechthin gegen jeden Kommunismus. Aber dann fiel ihnen plötzlich ein, daß es ganz nützlich sei, die beiden »kommunistischen Staaten« einander bekämpfen zu lassen.
SPIEGEL: Worin unterscheidet sich denn der chinesische Kommunismus heute vom sowjetischen?
HUAN: Der Unterschied ist sehr groß: etwa, wie die Gesellschaft sich zum Sozialismus entwickeln soll oder ob die Schwerindustrie den Vorrang vor der Leichtindustrie haben soll. Die Sowjets legen allen Wert auf die Schwer- und die Rüstungsindustrie, während wir die Leichtindustrie und die Landwirtschaft besonders fördern. Das zeigt, daß die dahinter stehende Philosophie jeweils eine ganz andere ist.
SPIEGEL: Die chinesischen Medien berichten über die Sowjet-Union neuerdings wieder positiver, über die USA dagegen negativer. Zeigt sich darin nicht, daß das chinesische System dem sowjetischen in Wahrheit näher steht als dem kapitalistischen?
HUAN: Nein, das chinesische System ist noch in voller Entwicklung. Ich glaube
nicht, daß es mit dem sowjetischen völlig vereinbar wäre.
SPIEGEL: Aber ist es dem sowjetischen System nicht doch verwandter als dem westlichen? Der Staatsaufbau, die Herrschaft einer Partei, das Geheimdienstsystem, der Militärapparat - all das ist doch in der Sowjet-Union nicht sehr viel anders als in China.
HUAN: Wir entwickeln unser eigenes sozialistisches System, ein chinesisches. Man kann heute zum Beispiel ja auch die Marktwirtschaft nicht mehr klar von der Planwirtschaft trennen. Wir geben der Privatinitiative viel mehr Raum, als wir vor 30 Jahren gedacht hätten.
SPIEGEL: Aber die vergleichsweise einfachen Erzeugnisse der sowjetischen Industrie sind doch für China nach wie vor viel geeigneter als die hochentwickelten Westwaren, etwa im Maschinenbau, in der Landwirtschaft und in der Rüstung.
HUAN: Sie sehen die Dinge nicht umfassend genug, und Sie haben die großen Veränderungen in China nicht genügend bemerkt. Wir versuchen uns zu entwickeln, indem wir die besten Seiten des sowjetischen und die besten Seiten des westlichen Systems nutzen. Im übrigen haben wir die Russen seit 20 Jahren niemals gebeten, uns irgend etwas zu liefern. Wir haben aber sehr viel westliche Technologie übernommen.
SPIEGEL: In China stehen noch die Fabriken aus den 50er Jahren, der Zeit der chinesisch-russischen Zusammenarbeit. Für die brauchen Sie doch sowjetische Ersatzteile.
HUAN: Wir bekommen von der Sowjet-Union nichts, wir machen alle Ersatzteile selbst.
SPIEGEL: Deshalb wollen Sie ja auch Waffen beispielsweise von den USA kaufen.
HUAN: Wir wollen keine Waffen von den USA kaufen. Was wir kaufen wollen, ist fortschrittliche Technologie ...
SPIEGEL: ... die aber auch militärisch verwendbar ist.
HUAN: Alles kann auch militärisch verwendet werden, sogar Reis, denn er ernährt die Soldaten. Wir sind interessiert an hochentwickelter Technologie des Westens einschließlich der USA, etwa der Elektronik, aber die wollen uns die Amerikaner nicht geben. Deshalb hatten wir beispielsweise mit Japan einen Vertrag über die Lieferung eines Hitachi-Computers für unsere Volkszählung geschlossen. Die Amerikaner haben den Vertrag drei Jahre lang hintertrieben, und als der Computer dann geliefert wurde, hatten sie seine Kapazität reduziert. Die Amerikaner sind also gar nicht so begierig, uns ihre hochgezüchtete Technologie zu verkaufen. Und wir sind keineswegs begierig, ihnen ihre Waffen abzukaufen, weil wir damit von den USA abhängig würden.
SPIEGEL: Mr. Huan, Ihr Land verlangt offenbar von Moskau nicht mehr die Rückgabe seiner fernöstlichen, früher chinesischen Provinzen, wohl aber von England die Rückgabe Hongkongs. Behandeln Sie da beide Mächte, die chinesisches Gebiet an sich gebracht haben, nicht sehr ungleich?
HUAN: Nein, die Grenzgespräche zwischen der Sowjet-Union und China werden schon seit 20 Jahren geführt. Wir verlangen in der Tat nicht die Rückgabe der sowjetischen Fernost-Provinzen, sondern nur die Anerkennung, daß sie China durch »ungleiche Verträge« entrissen wurden.
SPIEGEL: Das müssen die Russen förmlich eingestehen?
HUAN: Ja.
SPIEGEL: Die Engländer würden das in bezug auf Hongkong sehr gerne tun, wenn sie damit ihre Kolonie behalten könnten. Welcher Unterschied besteht zwischen dem britischen Hongkong und den russischen Fernost-Provinzen?
HUAN: Erstens: Die russischen Fernost-Provinzen wurden von China tatsächlich durch Verträge abgetreten, während 96 Prozent Hongkongs nur verpachtet wurden, und der Pachtvertrag über Hongkong endet 1997. _(Abgetreten auf »ewige Zeit« hatte China ) _(die eigentliche Insel Hongkong und das ) _(Festlandgebiet Kowloon, auf 99 Jahre ) _(verpachtet die heute zu Hongkong ) _(gehörenden »New Territories«. )
Die Engländer haben keinerlei Recht, dort länger zu bleiben. Zweitens: 98 Prozent der Bevölkerung Hongkongs sind Chinesen, während in den russisch besetzten Fernost-Gebieten heutzutage keine Chinesen mehr wohnen, nur Russen.
SPIEGEL: Aber die Bevölkerung Hongkongs, obwohl chinesisch, möchte ganz offenkundig von der Volksrepublik China nicht regiert werden. Das ließe sich durch eine Volksbefragung leicht feststellen. Ist Peking bereit, eine solche Volksbefragung zu akzeptieren?
HUAN: Nein. Es handelt sich um eine Verpachtung, und das Pachtgebiet muß auf jeden Fall termingemäß zurückgegeben werden. Es ist durchaus selbstverständlich, daß auch die abgetretenen Gebiete zurückgegeben werden müssen, da 98 Prozent der Bevölkerung Chinesen sind. Warum sollten wir dort eine Volksbefragung abhalten? Es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür. Wenn ein Hongkong-Chinese nicht unter der Herrschaft der Volksrepublik leben möchte, kann er ja auswandern.
SPIEGEL: Viel schwieriger als der Fall Hongkong ist für China der Fall Vietnam: Sie verlangen von Moskau für eine Normalisierung der Beziehungen, daß die Sowjet-Union ihren vietnamesischen Alliierten zum Abzug aus Kambodscha veranlaßt. Wollen Sie denn die Herrschaft des Massenmörders Pol
Pot über Kambodscha wiederherstellen?
HUAN: Nein. Wir haben wiederholt der ganzen Welt gegenüber gesagt, daß wir für Kambodscha eine freie, neutrale, unabhängige Regierung wünschen, die von der Völkergemeinschaft anerkannt wird. Das Pol-Pot-Regime hat viele Fehler begangen ...
SPIEGEL: Fehler, sagen Sie, wir sagen: Verbrechen.
HUAN: Nennen Sie es Verbrechen, wenn Sie wollen. Aber was in Kambodscha geschah, wurde sehr übertrieben. Man hat behauptet, die Pol-Pot-Leute hätten mehrere Millionen Menschen getötet, dabei gibt es überhaupt nur sechs Millionen Kambodschaner.
SPIEGEL: Wissen Sie denn, wieviel Kambodschaner Pol Pot wirklich umgebracht hat?
HUAN: Ich weiß es nicht. Im übrigen haben wir von den Russen auch keineswegs verlangt, sie sollten die Vietnamesen zum Abzug aus Kambodscha veranlassen, sondern lediglich, sie sollten aufhören, Vietnam bei der Besetzung Kambodschas Unterstützung zu gewähren. Immerhin spendet Moskau den Vietnamesen zwei Millionen Dollar pro Tag.
SPIEGEL: Halten Sie das kommunistische Vietnam eigentlich für einen Satelliten der Sowjet-Union?
HUAN: Im Augenblick ja, denn die wirtschaftliche Lage Vietnams ist sehr schlecht. Deshalb müssen die Vietnamesen die Umarmung des russischen Bären hinnehmen. Aber sie spüren bereits, daß es nicht angenehm ist, von einem Bären umarmt zu werden.
SPIEGEL: Wenn man sich in die Situation eines vietnamesischen Politikers versetzt - ist es dann nicht naheliegend, daß man angesichts des übermächtigen chinesischen Nachbarn Ausschau nach einem Verbündeten im Norden Chinas hält?
HUAN: Nein, denn China hat Vietnam in allen seinen antikolonialistischen Kriegen geholfen, erst gegen die Franzosen, dann gegen die Amerikaner. China hat nie die Absicht gehabt, Vietnam zu kontrollieren, und ist nur gegen Vietnams lokalhegemonistische Taten aufgetreten, wie die militärische Besetzung von Kambodscha und Laos sowie gegen die Verletzung von deren Souveränität und Unabhängigkeit.
SPIEGEL: Nächst Vietnam ist der wichtigste sowjetisch-chinesische Konfliktpunkt Afghanistan. Besteht eine Chance, daß sich China mit der Sowjet-Union über Afghanistan einigt?
HUAN: Ich glaube nicht. Afghanistan ist aber nicht nur ein Streitpunkt zwischen China und der Sowjet-Union, sondern auch ein Konflikt, der die ganze Welt betrifft.
SPIEGEL: In Sachen Afghanistan sind China und die USA einer Meinung: Beide fordern den Abzug der Sowjettruppen. Inzwischen aber haben die USA gleichfalls ein Land überfallen: das kleine Grenada. Gibt es in den Augen Chinas einen Unterschied zwischen dem Fall Afghanistan und dem Fall Grenada?
HUAN: Der Aggression gegen Afghanistan ist Teil der hegemonistischen Politik der Sowjet-Union. Ebenso ist auch die Kontrolle über Taiwan und die Besetzung Grenadas ein Teil der hegemonistischen Politik der USA.
SPIEGEL: Die hegemonistische Sowjet-Union hat jüngst etwas getan, was im Westen - besonders in den USA - große Empörung hervorrief: Sie hat den koreanischen Jumbo über Sachalin abgeschossen. Die Reaktion Chinas war überraschend zurückhaltend: Es hat sich in der Uno der Stimme enthalten, und Ihr Außenminister Wu hat erklärt, man habe noch nicht genügend Informationen über den Zwischenfall. Hat China inzwischen genügend Informationen bekommen?
HUAN: Wir tappen noch immer im dunkeln, der Fall ist überhaupt noch nicht aufgeklärt.
SPIEGEL: Wenn der abgeschossene Jumbo kein koreanischer, sondern ein chinesischer gewesen wäre, was wäre dann wohl geschehen?
HUAN: Eine hypothetische Frage wie diese kann man nicht stellen, denn chinesische Flugzeuge fliegen niemals so sehr in die Irre. Was hatte das südkoreanische Flugzeug dort überhaupt zu schaffen? Es gibt da noch viele Unklarheiten.
SPIEGEL: Mr. Huan, Geheimnisse gibt es auch wieder in China. Da läuft zur Zeit eine große Kampagne gegen die »geistige Verschmutzung«, womit der Import westlicher Ideen gemeint ist. Wenn sich China wieder der Sowjet-Union öffnen würde statt dem Westen,
bräuchte es eine »geistige Verschmutzung« ja wohl nicht zu fürchten.
HUAN: Sie verstehen unsere Haltung offenbar nicht ganz. Wir wissen, daß wir uns mit der wirtschaftlichen Öffnung unvermeidlich auch westlichen Ideen geöffnet haben. Aber nicht alle diese Ideen werden von China automatisch akzeptiert. So wie der menschliche Körper bei einer Hauttransplantation nicht alle Teile annimmt, sondern manche auch abstößt, wollen die Chinesen manche der westlichen Ideen nicht haben. Die Japaner etwa haben etliche westliche Ideen aufgenommen, andere zurückgewiesen.
SPIEGEL: Aber die Japaner haben das nicht, wie in China üblich, auf Befehl von oben getan. Welche der westlichen Ideen stößt der chinesische Volkskörper denn wieder ab?
HUAN: Die Chinesen wollen keine Drogen, keine Prostitution, keine Gewalttätigkeit, keine Kriminalität und keinen Egoismus.
SPIEGEL: Aber durch die Förderung der Privatinitiative hatte die chinesische Führung das Volk doch gerade angeleitet, mehr gesunden Egoismus zu entwickeln. Soll auf einmal Schluß damit sein?
HUAN: Wenn der Egoismus dem Gemeinwohl widerspricht, kann er nicht geduldet werden. Wir wollen vom Westen das Gute akzeptieren, aber das Schlechte zurückweisen. Deshalb ist es nicht richtig zu sagen, daß die Kampagne gegen die geistige Verschmutzung sich gegen den Westen richte und eine Art neuer Kulturrevolution sei. Übrigens kann man auch nicht sagen, daß sich der Kampf gegen die geistige Verschmutzung bereits zu einer »Kampagne« entwickelt hätte.
SPIEGEL: Aber die chinesischen Intellektuellen fühlen sich wieder verfolgt. Zhou Yang, der Vorsitzende des Allchinesischen Verbandes für Literatur- und Kunstschaffende, hat auf Befehl Selbstkritik geübt. Das hat im Westen wieder die alte Befürchtung bestätigt, daß China unberechenbar sei und die Tür zum Westen eines Tages wieder gänzlich zuschlagen könne.
HUAN: Ich verstehe diese Besorgnis, aber das wird nicht passieren. Die frühere Politik der Abschottung ist vorbei, sie wird vom gesamten Volk zurückgewiesen. Die Öffnung zur Welt und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen sind gesicherte Politik. Diese Politik ist in unserer Verfassung verankert und ist für längere Zeit vorgesehen, also eine ständige, wichtige Leitlinie und überhaupt keine Gelegenheitspolitik. Haben wir zur Durchsetzung dieser Politik nicht bereits viele Gesetze beschlossen? Ich bin überzeugt, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ausland, nach der Beseitigung der geistigen Verschmutzung, besser und gesünder vonstatten geht.
SPIEGEL: Im Westen wundert man sich, daß der große alte Mann der Nach-Mao-Zeit, Teng Hsiao-ping, neuerdings von der Parteipresse wieder als guter Schüler Maos gepriesen wird, der Maos Gedanken erweitere und bereichere. Könnten Sie sich vorstellen, daß Mao Tse-tung eines Tages wieder die überragende Führerfigur Chinas ist?
HUAN: Nein. Ein Teil der Gedanken Maos war gut, aber ein anderer Teil war schlecht. Wir akzeptieren den guten Teil, wir weisen den schlechten Teil zurück.
SPIEGEL: Waren 70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht?
HUAN: Wir rechnen das nicht mathematisch nach. Ungefähr bis 1957 war Mao sehr gut. Danach hat er sehr, sehr große Fehler begangen. In seinen Schriften führt Teng nur die besseren der Mao-Ideen weiter.
SPIEGEL: Mao Tse-tungs Ideen waren auch die große Antikonzeption zum individualisierten Menschenbild des Westens. Sie kennen den Westen gut, Sie haben gerade wieder Europa bereist. Welchen Eindruck haben Sie vom Zustand des westlichen Kapitalismus?
HUAN: Ich bin der Meinung, daß der Kapitalismus und der Sozialismus auf dieser Erde noch für recht lange Zeit nebeneinander bestehen könnten. Die Handlungskräfte des Kapitalismus sind noch nicht erschöpft, und der Sozialismus muß zur eigenen Vervollkommnung noch große Bemühungen unternehmen.
SPIEGEL: Das klingt nach marxistischen Begriffen sehr unorthodox. Denn danach müßte der Kapitalismus längst am Absterben sein.
HUAN: Natürlich ist der Kapitalismus krank. Und natürlich wollen wir nicht die kranken, sondern nur die gesunden Teile des Kapitalismus absorbieren.
SPIEGEL: Mr. Huan, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*KASTEN
Huan Xiang *
erfüllt in der Führung der Volksrepublik China etwa die Funktion, die Georgij Arbatow in der Sowjet-Union innehat: Als Direktor des der Regierung unterstehenden Instituts für Auswärtige Angelegenheiten arbeitet er Optionen für den Regierungschef Zhao Ziyang aus. Huan, 73, der in Schanghai und Japan studierte, nahm 1954 mit Premier Tschou En-lai an der Genfer Indochina-Konferenz teil, wurde Gesandter in England und EG-Botschafter in Brüssel. Viele Auslandsreisen, vor allem in die USA und nach Japan, ließen ihn zu einem der besten chinesischen West-Experten der Nach-Mao-Zeit werden. Das SPIEGEL-Gespräch mit ihm wurde auf englisch geführt.
Mit Redakteuren Tiziano Terzani und Dieter Wild.Oben: Unterhändler Iljitschow und Qian Qichen bei den"Normalisierungsgesprächen« in Peking;unten: Sowjetexperten in der Mandschurei.Abgetreten auf »ewige Zeit« hatte China die eigentliche InselHongkong und das Festlandgebiet Kowloon, auf 99 Jahre verpachtet dieheute zu Hongkong gehörenden »New Territories«.