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DDR / VERFASSUNG Für immer beseitigt

aus DER SPIEGEL 16/1968

In den Straßen der Städte jubelten frühmorgens Fanfaren und Trompeten, schmetterten Posaunen, frohlockten Schalmeien. Über verschlafenen Dörfern dröhnten Kunstdünger-Flugzeuge im Spazierflug. In der DDR wurde das Volk mobil gemacht -- zum Wahlgang.

In der Ost-Berliner Hoffmannstraße gab Bertha Poch, 103, ihre Stimme ab. In Rostock eilte die Besatzung des DDR-Frachters »Freundschaft« unmittelbar vor dem Kommando »Leinen los!« noch schnell ins Wahllokal. Auf dem Brocken im Harz warf der Wetterwart Gottfried Glenk, 25, seinen Zettel in eine »fliegende Urne«, die Wahlhelfer 1142 Meter hoch zu ihm hinaufgeschleppt hatten. Selbst Nonnen machten ihre Kreuze; im Kloster »Marienthal« nahe Görlitz zum Beispiel wählten 35 Zisterzienserinnen samt Äbtissin.

Der Volksentscheid am Sonnabend vorletzter Woche galt der »Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik« (siehe Auszug Seite 54), die eine Volkskammer-Kommission nach Weisung des VII. SED-Parteitags unter Walter Ulbrichts Vorsitz gefertigt hatte.

Dieses neue »Grundgesetz des Friedens, der Demokratie, des Sozialismus und der Völkerfreundschaft« ("Neues Deutschland") hat nun die Verfassung der DDR von 1949 abgelöst. Denn von 12,2 Millionen wahlberechtigten DDR-Bürgern (Wahlbeteiligung 98,1 Prozent) sagten 94,54 Prozent »ja«.

Sie stimmten für eine Verfassung mit 108 Artikeln, in der sich der andere deutsche Staat vor allem schriftlich gibt, daß er einer ist. Während das Bonner Grundgesetz mit der Garantie beginnt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar"' bestimmt der erste Artikel der DDR-Verfassung: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.«

Und in diesem Staat steht laut Verfassung gegenwärtig wie künftig alles zum besten. »Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt«, versichert Artikel 2. »Das sozialistische Eigentum hat sich bewährt«, verkündet Artikel 9 -- es klingt wie ein Rechenschaftsbericht der SED.

»Grundrechte« billigt die DDR-Verfassung den Bürgern zu, freilich auch »Grundpflichten«. Und diese Koppelung ist bezeichnend für die Schranken freier Persönlichkeitsentfaltung, die im jungen sozialistischen Staat gesetzt Sind. Wo dem einzelnen Staatsbürger Grundrechte zugestanden werden, werden diese Grundrechte auch wieder eingeschränkt.

»Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat ... das Recht auf Freizügigkeit«, gewährleistet Artikel 32; doch das gilt allein »innerhalb des Staatsgebietes«. Auch das ebenfalls verbriefte »Recht auf Wohnraum« (Artikel 37) besteht nur »entsprechend den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten und örtlichen Bedingungen«

Und wie die Grundrechtsgarantien auf diese Weise bis zu der Bedeutung relativiert werden, die ihnen die herrschende SED zumißt, so wird die Rechtsschutzgarantie ad absurdum geführt. »Das Oberste Gericht ist das höchste Organ der Rechtsprechung«, heißt es im ersten Absatz des Artikels 93. Aber bereits der dritte Absatz derselben Norm erläutert, wie das gemeint ist: »Das Oberste Gericht ist der Volkskammer und ... dem Staatsrat verantwortlich.

In einem Staat mit diesem Selbstverständnis, der den Grundsatz der Gewaltenteilung -- seit Montesquieu Prinzip aller demokratischen Verfassungen -- konsequent durchbricht, sind Grundrechte soviel wert wie Parteibeschlüsse. Die DDR-Verfassung ist denn auch kaum mehr als eine Willensbekundung der SED, durchsetzt mit ergebenen Freundschaftsbezeigungen für die Sowjet-Union, aufgelockert durch

* Vereinsmeierei: der Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und der landschaftlichen Schönheiten der Heimat ... sind zu gewährleisten ...« (Artikel 15);

* Pack-an-Parolen: »Arbeite mit, plane mit, regiere mit!« (Artikel 21) und durch

* Wohlfahrtssprüche: »Alleinstehenden ... Vätern gilt die Fürsorge und Unterstützung des sozialistischen Staates ...« (Artikel 38).

Das alles ist -- auch ein Verfassungsdekret -- nunmehr »unmittelbar geltendes Recht«.

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