»Für Thieu ist dies der Endkampf«
Saigon im August 1972 ist eine Stadt voll Zweifel und Ungewißheit. Je weniger die Regierung ihrem Volk mitteilt, um so lauter schallen die Sendungen von »Radio Catinat« (so heißen die Gerüchte, die in den Bars der Saigoner Hauptstraße Tu Do, der früheren »Rue Catinat«, gehandelt werden). Sie funken etwa, die Amerikaner hätten von Thieu verlangt, er müsse noch vor den Wahlen zurücktreten.
Ob die Amerikaner Thieus Rücktritt wirklich verlangt haben, ob sie ihn auch nur wünschen, ist einer jener Zweifel, die der Saigoner Führungsschicht, sofern sie nicht Zutritt zum Doc-Lap-Palast hat, jede Selbstsicherheit genommen haben.
Gewiß, Thieu ist ein Friedenshindernis, aber auch der Garant für das, was dem südvietnamesischen Staat an Stabilität noch geblieben ist. So war es denn nach einem Bericht der Zeitung »Tin Sang« gar nicht Kissinger, der Thieu, sondern Thieu, der Kissinger bei dessen letztem Besuch unter Druck zu setzen versuchte: Die Bombardierung Nordvietnams müsse mindestens für weitere sechs Monate fortgesetzt werden -- »bis ihre gesamte militärische und wirtschaftliche Substanz auf Jahre hinaus zerstört ist«.
Krieg, Fremdherrschaft und die Willkürakte des Regimes Thieu haben Südvietnam politisch und moralisch derart ausgelaugt, daß sich heute nicht einmal mehr die Opposition von einem Waffenstillstand etwas verspricht: »Er wäre sogar ein Un glück für Südvietnam, wir sind auf eine politische Auseinandersetzung nicht vorbereitet«, klagt ein oppositioneller, buddhistischer Senator.
Die Gewalt der Resignation erscheint so tödlich wie die Explosivkraft der Bomben, mit der die US-Piloten das befreundete Land dem Kommunismus entziehen wollen. »Waffenstillstand«?« fragt ungläubig ein katholischer ehemaliger Oppositionspolitiker, »Waffenstillstand ist ein Problem der Amerikaner. Für Thieu und die Kommunisten ist dies der Endkampf.«
Die Hauptstadt scheint noch immer fern vom Krieg zu leben, doch die Sicherheit scheint trügerisch, jederzeit widerrufbar. Die Nationalstraße 1, die sogenannte Gemüsestraße zu den Plantagen im Nordosten, ist für Stunden unterbrochen, ebenso die Nationalstraße 4, die nach Can Tho im Mekong-Delta führt, ebenso die Nationalstraße 20 nach Da Lat. Sogleich wird in Saigon das Gemüse knapp, die Reispreise steigen um 27 Prozent. Selbst Militärs geben zu, daß der Feind in den nächsten Wochen versuchen könnte, die Hauptstadt auf Dauer abzuschneiden. Erobern könnte, braucht er sie gar nicht.
Die Saigoner trösten sich damit, daß der Feind im Mekong-Delta bisher die ganz große Offensive noch nicht gestartet hat. Doch das Delta, dieses fruchtbare, flache Land, in dem über ein Drittel der Südvietnamesen leben und das 80 Prozent der Reiserzeugung liefert, wirkt beklemmend, so hoffnungsvoll tiefgrün es gerade zu dieser Zeit ist. Wahrscheinlich hat der Feind hier heute schon größere Erfolge erzielt als in jedem anderen Teil Südvietnams: in kleinen Trupps, ohne Panzer, ohne Artillerie. Die Materialschlacht des Nordens findet hier nicht statt. Der Krieg zeigt nur ein anderes Gesicht.
An der angeblich so sicheren Nationalstraße 4 stehen alle 500 Meter zwei Schützenpanzer. Am Morgen ist es an der Straße ruhig, am Nachmittag laden amerikanische Flugzeuge ihre Bomben über den Reisfeldern neben der Straße ab. Die Schlamm-Fontänen, die sie aufwerfen, illustrieren die Vergeblichkeit einer barbarischen Kriegführung: Hier traf es sicher keinen Vietcong, aber hier wächst mit Sicherheit so schnell kein Reis wieder.