BAHNHÖFE Fürs Gemüt
Für einen alten Bahnhof war Endstation. Angerostete Schienen, ein verrammeltes Stellwerks-Häuschen und langsam verrottende Fahrkartenschalter signalisieren, daß der Bahnhof Lautenthal im Harz seit Wochen auf dem Abstellgleis steht.
Die Bundesbahndirektion Hannover hatte den 101 Jahre alten Bahnhof zum Fahrplanwechsel am 30. Mai aus dem Verkehr gezogen -- zusammen mit fünf weiteren Stationen der sogenannten »Harz-Linie«. die als jüngstes Opfer des Spar- und Schrumpfprogramms der Deutschen Bundesbahn auf der Strecke blieb.
Während die Anwohner in einer Traueranzeige noch den »gewaltsamen Tod dieser Strecke« beklagten, ging es in einer anderen Zeitungsannonce schon um die Verwertung der sterblichen Überreste: »DB verkauft die stillgelegte Strecke Langelsheim-Altenau (Oberharz) zwischen km 0,9 und 33,9 zusammenhängend oder in Einzelparzellen sowie die Bahnhöfe und einige Nebengebäude gegen Höchstgebot«.
»Seither«, so der Pressechef der Bundesbahndirektion Hannover, Friedrich Wilhelm Schulze, »haben wir es mit einer Lawine zu tun.« An die 100 Privatleute möchten an der landschaftlich reizvollen Strecke zum Zuge kommen: Ein Brautpaar aus Paderborn ließ schriftlich wissen, daß es sich »in das Stellwerk in Lautenthal verliebt« habe. Ein Berliner liebäugelt mit »300 m Bahnstraße«, um künftig auf eigenem Grund und Boden zu urlauben.
Als zugkräftig erwiesen sich stillgelegte Bahnanlagen auch schon andernorts. Wann immer im Rahmen des Bundesbahn-Stufenprogramms für verkehrsschwache und verlustbringende Strecken, Stationen, Stellwerke und Schienenpaare überflüssig wurden, »verstanden viele«, so ein Sprecher der DB-Hauptverwaltung in Frankfurt, »nur noch Bahnhof«.
Als die Bundesbahndirektion Köln beispielsweise den Zugverkehr auf der 34 Kilometer langen Eifelstrecke zwischen Dümpelfeld und Hillesheim stoppte, waren die Weichen für das Verkaufsgeschäft schon längst gestellt: »Wir hatten schon -zig Anrufe«, teilt die Pressestelle mit, »als der Verkehr noch voll lief.«
Allein im Bereich des Bundesbahnbezirks Frankfurt wechselten im letzten Jahr 25 Bahnhöfe von der öffentlichen in private Hand; im Saarland haben Kauflustige schon seit Jahren freie Bahn: »Einige Dutzend Objekte« sind nach Auskunft von Rechtsdezernent Franz-Josef Dinkelbach alljährlich zu haben.
Der für ganz Südbayern zuständigen Bundesbahndirektion München hat die öffentliche Diskussion über das sogenannte »betriebswirtschaftlich optimale Netz der Bundesbahn« eine »Schwemme von Anfragen aus dem ganzen Bundesgebiet« (so Grundstücksdezernent Walter Illing) beschert.
Seitdem der klassizistische Bahnhof von Rolandseck« an der Strecke Koblenz-Bonn, schon vor einem Jahrzehnt in ein Festspielhaus für Maler und Musiker verwandelt wurde, stieg überall das Interesse für die Überbleibsel aus der Pionierzeit der Eisenbahn. Immer häufiger melden sich Künstler und Kegelklubs, Filmemacher und Vereine, Gewerkschaften und Geschäftsleute oder auch schon mal passionierte Bahn-Fans wie jener Norddeutsche, der als Hobby ausrangierte Eisenbahn-Wagen sammelt und jetzt, wie er an die Bundesbahndirektion Hannover schrieb, »nur noch einen Bahnhof« braucht.
Kann er haben. Und auch Brücken, Tunnel und Streckenwärter-Häuschen werden von der Bahn verscherbelt, die den unrentablen, hohe Unterhaltskosten verschlingenden Besitz möglichst zügig loswerden möchte.
Daß die Offerten so gut ankommen und nach schiefen Windmühlen, mittelalterlichen Burgen, abgelegenen Bauernhöfen und abgetakelten Hausbooten nun ausgediente Bahnhöfe hoch im Kurs stehen, hat, so der Hannoveraner Schulze, »natürlich auch mit Nostalgie zu tun«.
Die ausrangierten Zweckbauten sind was fürs Gemüt. Sie erinnern an die Zeiten der dahinschnaubenden Dampfrösser« sie liegen meist an romantischen, kleinen Nebenstrecken, deren Schienenstränge durch Forst und Tann, über alte Viadukte und hohe Bergrücken führen -- für viele Endstation Sehnsucht
Doch der Traum vom Bahnhofs-Häuschen in den Wäldern der Eifel oder des Sauerlands« auf den Höhen von Harz oder Bayerischem Wald zerrinnt allzuoft bei der Preisfrage. Denn »zu verschenken haben wir nichts«, sagt der Münchner Illing, der für bayrische Bahnhöfe -- je nach Lage und Größe -- zwischen 40 000 und 95 000 Mark verlangt. Wer im Harz sein eigener Stationsvorsteher sein möchte, muß gar mit sechsstelligen Summen rechnen. Schulze: »Ab 100 000 Mark.«
Bei solchen Preisen, die freilich oft recht große Grundstücke einschließen. bleibt denn auch die Bahn schon mal auf ihren Angeboten sitzen -- so wie die Bundesbahndirektion Köln, die schon länger vergeblich versucht, den aus dem Jahr 1874 stammenden Renaissance-Bahnhof Kierberg bei Brühl samt Park für 300 000 Mark an den Mann zu bringen.
So vergammelt langsam jenes weinumrankte Gebäude mit Freitreppe, Musikpavillon, Terrassen und Aussichtsturm, das stets
mehr als nur ein Bahnhof war. Dem Kaiser diente es als Repräsentationsgebäude, wenn Seine Majestät von hier aus zum Manöver in die Eifel reiste; der Kölner Gesellschaft war es um die Jahrhundertwende ein gern besuchtes Ausflugsziel -- »ein Objekt für Liebhaber«. wie Karl-Heinz Schilling, der zuständige Sachbearbeiter in der Kölner DB-Direktion, meint.
Neue Nutzung des vom Landeskonservator Rheinland als schutzwürdig erachteten Ziegelbaus wäre wohl nur mit großem finanziellem Aufwand möglich -- wie überhaupt das Umfunktionieren alter Bahnhöfe zu Wohn- und Ferienhäusern oder Tagungs- und Erholungsstätten nicht unproblematisch ist. Denn sobald die Gebäude leerstehen, »tun wir nur noch das Nötigste dran« (so der Kölner Schilling). Den Käufer erwarten dann oftmals verfallene Bauten mit mangelhaften sanitären Einrichtungen.
Eine Wolfsburger Familie hatte denn auch »irre viel zu tun«, bis sie es sich im Wartesaal des vor Jahren im Harz stillgelegten Bahnhofs »Frankenscharrnhütte« gemütlich machen konnte.
Ein Düsseldorfer Landschaftsarchitekt mußte Zeit, Geld und vor allem Phantasie investieren, ehe er mit Frau und Kindern in ein fast 100 Jahre altes Nebengebäude des Bahnhofs Neanderthal einziehen konnte -- in einen Raum, in dem früher Ställe und Pissoirs untergebracht waren.