EWG / AGRARKRISE Furchtet des Bauern Wut
Aus dem niedersächsischen Westercelle schrieb Altbauernführer Edmund Rehwinkel an die Bundesregierung: »Gestatten Sie einem alten Haudegen ein offenes Wort, jetzt geht es ums Ganze.« Und Jungbauernführer Constantin Freiherr Heereman ging zum Kanzler: »Es wird immer schwerer, die Bauern zu zügeln.«
In der vergangenen Woche, als es in Brüssel ums Ganze ging, half kein Zügeln mehr. In mehreren Marschsäulen walzten am Dienstag 75 000 Bauern aus Belgien, Holland, Frankreich und Deutschland durch die Straßen der EWG-Residenz. Für Stunden herrschte Krieg zwischen Land und Stadt. Die Marschierer fluchten Tod dem EWG-Kommissar Mansholt und Teufel der Agrarunion. Sie schlugen und sengten, legten Telephonhäuser und Kioske flach, ließen Schaufenster bersten und die Auslagen mitgehen.
Lastwagen und Trambahnen brannten. Eier, Steine, Kartoffeln und Hühner flogen durch die Luft, Quark und Käse hinterher. »Fürchtet des Bauern Wut«, stand auf dem Transparent eines italienischen Landmannes. Am Abend deckten 150 Verletzte und ein Toter die Euro-Walstatt.
Während Funktionäre der nationalen Bauernverbände, die den Aufstand organisiert hatten, noch ihr Bedauern zu Protokoll gaben, berieten die sechs EWG-Agrarminister im Hochhaus »Charlemagne« über praktisch unvereinbare Forderungen der Mitgliedsländer und der Brüsseler EWG-Regierung.
Am Donnerstag um 14 Uhr, nach 24 Stunden ununterbrochener Konferenz, verließen sechs bis zur Apathie entnervte Agrarminister die verqualmte Stätte des nächtlichen Gerangels. Zurück blieb ein Kompromiß, der zwischen dem, was die Brüsseler EWG-Kommission bislang für agrarpolitisch unsinnig erachtete, und dem, was Europas Bauernsprecher nicht akzeptieren wollten, die genaue Mitte hält:
Vom 1. April an werden die europäischen Richtpreise für Agrarerzeugnisse um zwei bis sechs Prozent heraufgesetzt; die EWG-Kommission hatte bei wenigen Produkten höchstens fünf Prozent zugestehen wollen, die Bauernverbände hatten durchweg mindestens zehn Prozent gefordert, Schleswig-Holsteins radikaler Agrarsprecher und CDU-Bundestagsabgeordneter Hans-Jürgen Klinker sogar 15 Prozent.
Bonns freidemokratischer Agrarminister Josef Ertl erklärte bereits vor dem grünen Auflauf in Brüssel, Europa erlebe »die schwerste Krise seit Bestehen des Gemeinsamen Marktes«. Ausgerechnet in die komplizierten Verhandlungen über den EWG-Beitritt Englands und anderer Kandidaten nämlich platzte ein heftiger Streit über Preis- und Strukturpolitik der kleinen Sechsergemeinschaft. »Wer auf eine auch nur halbwegs befriedigende Lösung hofft«, warnte Ertis Staatssekretär Hans Dieter Griesau, »macht sich bereits große Illusionen.«
Das Problem liegt in dem Anspruch der EWG, drei Dinge zur gleichen Zeit tun zu wollen: den Bauern ein angemessenes Einkommen zu sichern, die Überproduktion abzubauen und die Agrarstruktur zu verbessern, das heißt, dafür zu sorgen, daß nicht länger zu viele Bauern auf zu wenig Land sitzen.
Der internationale Kraftakt bringt »national die größte Unruhe und spült gefährliche Emotionen herauf« (Ertl). Denn die 2,24 Millionen Bauern und Landarbeiter in der Bundesrepublik bangen um ihre Existenz. Jahrelang mit Garantiepreisen abgesichert, mit Subventionen gepäppelt und durch geringe Kostensteigerungen verwöhnt, gerieten sie unverhofft in eine schmerzliche Preis-Kosten-Schere,
Ihre Branche, die jährlich für 36,8 Milliarden Mark Waren produziert und dafür 17,3 Milliarden Mark Kosten aufwendet, blieb mit dem Einkommen nach Angaben ihres Verbandspräsidenten Constantin Freiherr Heereman bereits 1969/70 um drei Milliarden Mark hinter einer vergleichbar großen Gruppe gewerblicher Unternehmer zurück. Dieser rechnerische Einkommensabstand, so problematisch ein derartiger Vergleich auch immer sein mag, sollte sich im laufenden Landwirtschaftsjahr 1970/71 sogar verdoppeln, wenn Bonn und Brüssel keine energischen Hilfsmaßnahmen einleiteten.
Darunter verstanden Deutschlands Bauern Preiserhöhungen um durchschnittlich zehn Prozent bei Getreide, Zucker, Rindfleisch, Milch und Ölsaaten; ihr aggressiver Statthalter im Norden der Republik, Hans-Jürgen Klinker, drohte: »Von Bonn nach Brüssel soll man es hören -- jetzt reicht es uns wirklich.« Um den nötigen Lärm zu machen, würden seine Bauern notfalls bei arabischen Guerillas in die Schule gehen, in Protestzügen führten sie Transparente mit: »Lernt von El Fatah.«
Obwohl die Bundesrepublik jährlich rund sieben Milliarden Mark für Agrarsubventionen aller Art aufbringt, wurden weder die wirtschaftlichen noch die sozialen Probleme der Landwirtschaft gelöst. 2,24 Millionen Bauern und Landarbeiter sind derzeit in rund 1,2 Millionen Betrieben tätig. Aber nur 20 Prozent der Höfe verschaffen den dort wirkenden Vollarbeitskräften das jährliche Durchschnittseinkommen eines Industriearbeiters.
Etwa eine Million Erwerbstätige, das sind rund 42 Prozent der heute auf dem Land Beschäftigten, müssen zudem nach einer Modell-Rechnung des Ertl-Ministeriums bis 1980 vom Traktor steigen und sich anderen Berufen zuwenden, wenn der Einkommensrückstand gegenüber gewerblichen Arbeitnehmern nicht noch größer werden soll als jetzt schon.
Von fünf Bauernhöfen in der Bundesrepublik werfen zwei so wenig ab, daß sie -- wenn sie einen Durchschnittslohn für nur einen familienfremden Landarbeiter von gut 1000 Mark je Jahr und Hektar aufwenden -- bereits einen jährlichen Reinverlust von über 300 Mark je Hektar erleiden. Das heißt, viele Landwirte verdienen auf eigener Scholle erheblich weniger, als wenn sie auf einem fremden Hof als Knecht unterkämen.
Für die Landwirte und ihre Ehefrauen, die auf ihren Höfen ein Leben ohne Urlaub, 40-Stunden-Woche und Hilfskräfte verbringen und einen großen Teil ihrer Lebenshaltung vom Naturallohn bestreiten, lag angesichts der überall steigenden Preise nichts näher als die Forderung nach höheren Agrarpreisen.
Die Erfüllung solcher verständlichen Wünsche wirft freilich Probleme auf, die in keiner anderen Branche Parallelen haben. Denn mit steigenden Preisen wurde bislang noch nie das Agrar-Dilemma gelöst. Vielmehr führten hohe, staatlich garantierte Preise in Verbindung mit Abnahmegarantien in den vergangenen neun EWG-Jahren stets zur Produktion von Überschüssen, die von den europäischen Behörden anschließend mit Milliarden-Aufwand wieder vom Markt genommen werden mußten.
Auf Kosten der europäischen Steuerzahler hat Brüssel im vergangenen Jahr allein 11,4 Milliarden Mark für Stützungskäufe, Ausfuhrprämien für Schleuderverkäufe in Drittländer sowie für Vernichtung von Überschußprodukten eingesetzt. Je höher die Agrarpreise angehoben werden, desto stärker klettern in der nächsten Phase die Kosten für Einlagerung und Vernichtung der Überschüsse -- abermals zu Lasten der Allgemeinheit, die zuvor schon die höheren Preise hat schlucken müssen.
Zudem schlagen höhere Agrarpreise sofort auf das gesamte Preisniveau durch und fallen mithin rasch auf die Landwirte zurück. Schon im letzten Herbst hatte Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller dringend »Abkehr von falschen Blütenträumen« gepredigt. Denn die von Westdeutschlands Bauernverband gewünschten Zuschläge zu den Agrarpreisen würden zu einer »unerträglichen Anhebung des allgemeinen Preis-Index für die Lebenshaltung um bis zu zwei Prozent führen« -- und damit den ohnehin kräftigen Kaufkraftschwund der Mark 1971 um die Hälfte beschleunigen.
EWG-Vizepräsident Sicco Mansholt hatte deshalb den Eurobauern lediglich geringere Preiserhöhungen und diese auch nur dann zubilligen wollen, wenn die Agrarminister unverzüglich den Start für seinen ehrgeizigen Mansholt-Plan freigeben würden. Ziel dieses Plans ist der Aufbau »moderner landwirtschaftlicher Unternehmungen« mit Mindest-Hofgrößen von 80 Hektar. Dabei sollen noch in diesem Jahrzehnt vier der neun Millionen europäischen Bauern und Landarbeiter ihre Scholle verlassen.
Josef Ertl freilich mobilisierte in Brüssel den Widerstand gegen den Mansholt-Plan, der die jährlichen Gemeinschaftskosten, etwa für Landabgabe-Prämien, -Renten und Modernisierungs-Zuschüsse, um drei Milliarden Mark nach oben gedrückt hätte und der den Bundeshaushalt jährlich rund eine Milliarde Mark extra gekostet hätte. Zudem benötigten Ertl (im Hinblick auf die Wahlen in Schleswig-Holstein) und seine westlichen Kollegen angesichts der überall revoltierenden Bauern einen sichtbaren Erfolg, auf den sie nur bei Preiserhöhungen hoffen durften.
Denn der Plan des Holländers Mansholt, den Europas Bauern auf Demonstrationen nur brennend, am Galgen hängend oder im Sarg liegend herumzeigen, genießt nicht die mindeste Popularität, gerade weil er den Weg zum rationell geführten Großbetrieb sichtbar macht, den die europäische Landwirtschaft am Ende zwangsläufig nehmen wird.
In Brüssel kämpften die Agrarminister aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg zusammen mit Ertl für bis zu zehn Prozent höhere Preise und gegen den EWG-Vizechef Mansholt, der namens der EWG-Regierung Preiserhöhungen nur zugestehen wollte, wenn zugleich nach seinem Strukturplan verfahren würde. Ertl dagegen wollte Strukturreformen zeitlich gestaffelt in einer dreijährigen Probezeit ohne neue finanzielle Kosten für die Mitgliedstaaten testen. Erst nach Verabschiedung der geplanten großen Wirtschafts- und Währungsunion wollte Ertl die erforderlichen Strukturreformen in vollem Umfang aus der Gemeinschaftskasse finanzieren. Bis dahin aber sollte die Strukturpolitik auch in die nationale Zuständigkeit fallen.
Allein der italienische Agrarminister Lorenzo Natall unterstützte den EWG-Kommissar Mansholt. Denn Italien hat die ärmsten Bauern und die schlechteste Agrarstruktur und hätte daher von den Investitions- und Sozialhilfen nach dem Mansholt-Plan, die gemeinschaftlich aufgebracht werden sollen, die höchsten Zuweisungen aus der Europa-Kasse erwarten können.
Am Mittwochabend drohten die Verhandlungen mehrfach zu scheitern. Am Donnerstag früh um drei Uhr -- die Minister verhandelten bereits mehr als zwölf Stunden -- bahnte sich schließlich der Kompromiß an. Doch erst am Donnerstagmittag war es soweit. Die Kommission gestand sechs Prozent höhere europäische Richtpreise bei Milch, Milcherzeugnissen und Rindfleisch zu, die Richtpreise für Weichweizen sollen um drei, für Gerste um fünf Prozent steigen.
In der strittigen Strukturpolitik einigten sich die Minister auf ein Rezept, das eine Mischung aus Ertl- und Mansholt-Plänen ist. Ertl und seine Freunde erreichten, daß die Ausgaben für die Verbesserung der europäischen Agrarstruktur während der nächsten drei Jahre auf jene 4,2 Milliarden Mark begrenzt bleiben, die ohnehin schon bereitgestellt wurden.
Wie Mansholt es wollte, sollen entwicklungsfähige Betriebe künftig finanzielle Hilfen erhalten. Landwirte, die ihren Beruf aufgeben wollen,. sollen einen Brüsseler Zuschuß zu Landabgaberenten, Umschulungs- und Ausbildungsbeihilfen erhalten. Zu den Zahlungen steuert die Europa-Kasse 25 Prozent bei. Lediglich in den benachteiligten italienischen Landregionen wird die Gemeinschaftskasse 65 Prozent der Struktur- und Sozialhilfen übernehmen.
Die Politiker, allen voran Bonns Ertl, waren froh über die Preiserhöhungen bei Milch, Butter, Käse und Rindfleisch, die schon am 1. April an die Verbraucher weitergereicht werden. Dank der höheren Preise werden die Subventionen steigen, wenn teure Überschußprodukte auf Kosten der EWG zu Schleuderpreisen exportiert werden.
Wie hoch die Kosten der Woche in Brüssel sind, vermochten bislang nur die Stadtväter der EWG-Metropole zu ermitteln. Bei den Bauernumzügen entstand ein Sachschaden in Höhe von sechs Millionen Mark.