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BUNDESBÜRGER Fußgänger der Luft

aus DER SPIEGEL 7/1963

Christian II. von Dänemark, ein Schwager Karls V., wurde als Baby von einem Affen entführt, der mit ihm über die Zinnen des elterlichen Schlosses auf den Dachfirst kletterte. Selten, so urteilten Zeitgenossen, habe das Schicksal der Historie so sichtbar in Affen-Pfoten gelegen.

Und doch hatten die verstörten Beobachter der symbolträchtigen Szene den Bundesbürgern vom Februar 1963 eines voraus: So absurd der historische Moment auch schien - es konnte wenigstens kein Zweifel möglich sein, in wessen Händen in jenem Augenblick die Geschichte ruhte. Eben das aber war - bei einem ähnlichen Grad Absurdität - in Westdeutschland vergangene Woche nicht mehr erkennbar.

Den an Ordnung und Autorität gewohnten Bürger beschlichen Gefühle wie einen Schiller-Abonnenten des Städtischen Theaters, der aus Versehen in Ionescos »Fußgänger der Luft« geraten ist.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Friedrich Foertsch, spielte in diesem absurden Theater einen Fernsehkritiker; als Tagesbefehl-Telemann verriß er Hubaleks Fernsehspiel »Stalingrad« (siehe Seite 33). Ein Foertsch -Kamerad aus dem verlorenen Krieg, Großadmiral Dönitz, übernahm den Part eines Gast-Lehrers im Gymnasium Geesthacht; sein Gleichnis zur Besetzung Norwegens im Jahre 1940 für die Schüler im Jahre 1963: »Wenn Frau Müller vor Frau Lehmarm in die Bäckerei kommt, um Brötchen zu kaufen, wird Frau Müller bestraft.«

In einem nur notdürftig ausgeleuchteten Winkel der Bonner Bühne - vom Publikum kaum noch beachtet - führten Kanzler und Kronprinz unverdrossen einen Jubiläums-Sketch auf: eine Parodie ihrer seit Jahren auf dem Bundesprogramm stehenden Grusicals: »Elf Millionen (CDU-Wähler) suchen einen Erben« (siehe Seite 16). Ludwig Erhard in der »Süddeutschen Zeitung": »Ich wäre bereit, einem Ruf als Bundeskanzler zu folgen.« Konrad Adenauer im US-Fernsehen: »Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger sein wird.«

In Eugen Gerstenmaiers Bundeshaus

- einst eine Pädagogische Akademie -

ging es hingegen letzte Woche zu wie im SPIEGEL-Archiv nachts, als die Kripo kam: 152 registrierte Schriftstücke sind verschwunden, Briefe vom BGH -Präsidenten Heusinger, von Minister Krone und dem CDU-Fraktionschef von Brentano kamen - statt den Empfängern - Zeitungsredaktionen zur Kenntnis, und Polizisten schnüffelten

- auf der Spur eines neuen Fibag-Rätsels,

nachdem sich ein ganzes Paket Fibag -Akten mit einander widersprechenden eidesstattlichen Erklärungen in Nichts

aufgelöst hat, wie einst die Millionen -Träume der Fibag-Gründer.

Die Bundesregierung veröffentlichte unterdessen ihren SPIEGEL-Bericht, der sich liest wie das Ergebnis eines interministeriellen Preisausschreibens zum 166. Todestag des Barons Münchhausen (siehe Seite 18); nur gut, daß die Aussagen zur SPIEGEL-Affäre nicht wie im Fall Fibag an Eides Statt abgegeben wurden, sonst wäre die Bundesregierung von dem zeitweiligen Verlust wertvoller Mitarbeiter bedroht.

Aber konnten die von solchen Geschehnissen einigermaßen irritierten Bundesbürger beim Lesen des SPIEGEL-Berichts immerhin noch aus dem Inhalt der einzelnen Passagen Schlüsse auf die Person der Verfasser ziehen, so waren solche Versuche bei anderen überlieferten Äußerungen der letzten Woche hoffnungslos zum Scheitern verurteilt.

Wer wäre darauf verfallen, daß der Ausspruch »Die CSU ist in den Gliedern gesund, am Haupt jedoch krank« nicht vom SPIEGEL, sondern vom CSU -Bundestagsabgeordneten Freiherrn zu Guttenberg stammt?

Wer hielte nicht die Erkenntnis: »Die Deutschen haben keine gute Verfassung, denn sie haben keine Volksbefragung« für eine aus Sorge um das Vaterland geborene Warnung eines deutschen Verfassungsrechtlers? Dabei sprach so Frankreichs Charles de Gaulle, als wolle er den Deutschen einen Vorgeschmack geben, wie er sich als Vater der Vaterländer um die östlichen Provinzen seines klein-europäischen Reiches kümmern wird, wenn Konrad Adenauer eines Tages nicht mehr da ist.

Und auch der Stoßseufzer »Mit dem Mann bin ich fertig«, von Vizekanzler Ludwig Erhard im vergangenen Dezennium auf seinen noch immer amtierenden Chef gemünzt, fiel diesmal nicht am Rhein, sondern an der Seine: Nachdem »Daddy« Blatzheim die Trennung seiner Stieftochter Romy Schneider von ihrem Verlobten Alain Delon verkündet hatte, zürnte Sissy in Paris: »Wenn es eine Trennung gibt, und zwar eine endgültige, dann ist es die zwischen Herrn Blatzheim und mir.«

Deutschlands Werte und Idole waren über Nacht ins Wanken geraten; das Unmögliche war in der Bonner Republik nicht möglich, sondern zur Wochen -Gewohnheit geworden:

Der englandfeindliche EWG-Präsident Hallstein forderte Großbritanniens Beitritt zu Europa, ein Bonner Staatssekretär (Müller-Armack aus dem Wirtschaftsministerium) trat aus Gewissensgründen freiwillig zurück, und in der festen Burg deutschen Fleißes und Wunders wurde gefeiert: Im VW-Werk Wolfsburg hatte Generaldirektor Nordhoff wegen des amerikanischen Hafenarbeiterstreiks alle Räder stillstehen lassen. Ein Bummel der Königinmutter durch Soho hätte das Weltbild der Engländer kaum nachhaltiger zu erschüttern vermocht als solche Purzelbäume im Schatten der deutschen Eiche das Weltbild der Deutschen.

Eine Blitzlichtaufnahme von der bundesrepublikanischen Geschichte in der vergangenen Woche hält daher ein Szenarium fest, nicht weniger absurd als das königliche Baby auf dem Schloßdach. Doch damals brachte der äffische Entführer sein Spielzeug unversehrt zurück; die Historie floß in ihr vorbestimmtes Bett zurück. In Bonn aber ist kein glückbringender Affe in Sicht.

Vortragsredner Dönitz*

Werte und Idole ...

Verlobte Romy Schneider**

... gerieten ins Wanken

* SPIEGEL-Titel 6/1961.

** SPIEGEL-Titel 10/1956.

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