OSTBLOCK / KONVERGENZ Ganz böser Hund
Im Katarakt der Anklagen, die Willi Stoph zu Kassel auf Willy Brandt losließ, schien ein Satz fast maßvoll, selbstverständlich: »Zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist welches Gebiet des gesellschaftlichen Lebens man auch immer betrachten mag -eine Mischung nicht möglich.«
Gleichwohl erklärt dieser Satz, weshalb sich die DDR-Deutschen gegenüber dem Sozialisten Brandt fast so intransigent zeigten, als hätten sie es mit Adenauer zu tun: Sie fürchten »Mischung«, sie meinen Konvergenz. »Die berüchtigte Konvergenz-Theorie« ist laut SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« »eine in den USA entwickelte Wunderwaffe für die psychologische Kriegführung gegen den Sozialismus«.
Das Gespenster-Wort »Konvergenz« bedeutet »Annäherung«. In der Geometrie drückt es die Eigenschaft zweier Linien aus, sich irgendwo einmal zu treffen. Soziologen verstehen darunter die Tendenz des kapitalistischen und des sozialistischen Systems, sich In ihrer Struktur einander anzunähern und irgendwann einmal eine einheitliche Industriegesellschaft zu bilden.
Produktionsprozeß und moderne Technologie, so meint der niederländische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Jan Tinbergen, erfordern eine bestimmte Sozial-Verfassung, die weder dem klassischen Kapitalismus entspricht noch dem, was im Ostblock Sozialismus genannt wird.
Sachzwänge wie technischer Fortschritt und Konsumwünsche der Massen ebnen die politischen Unterschiede zwischen Ost und West ein: Die sozialistischen Länder würden ihre zentralistische Planbürokratie mildern, die kapitalistischen Länder die staatliche Planung verstärken. Dadurch entstehe eine neue Gesellschaftsform in beiden Blöcken.
»Erweiterung der Wirtschaftsreform« und Übergang zu einem »Mehrparteiensystem« prophezeite der sowjetische Atomphysiker Sacharow für den Ostblock, für den Westen aber einen »Sieg des linken, reformistischen Flügels der Bourgeoisie, der In seiner Tätigkeit das Programm der Annäherung -- »Konvergenz« -- an den Sozialismus annimmt ...
Der Nestor der sowjetischen Physik, Pjotr Leonidowitsch Kapiza, 75, über die Theorie seines Schülers Sacharow: »Nur durch solch eine Konvergenz können die zwei Großmächte einen verhängnisvollen Zusammenstoß vermeiden.«
Die Theorie ist umstritten. Auf einer Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde wurde sogar eine »Konvergenz zum Industriefaschismus« vorhergesagt: Der Westen werde noch weniger demokratisch, der Osten noch weniger sozialistisch.
Der prominente US-Politologe Brzezinskl dagegen glaubt, das West-System siege auch im Ostblock. Genauso, nur von der anderen Seite, erklärte DDR-Kommentator Karl-Eduard von Schnitzler ("Der schwarze Kanal") die »falsche und längst widerlegte Konvergenztheorie« zu einem »Attentat auf die Grundlagen des Sozialismus«.
Aber die Theorie ist populär. Sie drückt die Hoffnung aus, zwischen den Blöcken lasse sich eine Brücke schlagen, wenn der Westen etwas sozialistischer und der Osten etwas demokratischer würde. Als politisches Programm bietet sich der demokratische Sozialismus an -- und als Experimentierfeld das geteilte Deutschland.
Seit die CSSR mit demokratischem Sozialismus experimentierte, fürchten ihn Ostblock-Konservative. Vorbereitungen zur Wiederbegründung der Sozialdemokratischen Partei in der Tschechoslowakei waren einer der Gründe für die Sowjet-Intervention.
Nach dem Amtsantritt eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers in Bonn reagierten Ostdeutschlands Kommunisten besonders empfindlich auf sozialdemokratische Annäherungsversuche. Denn Sachsen, Thüringen und Berlin sind einst Hochburgen der SPD gewesen.
Gegen sozialdemokratische Sehnsüchte unter DDR-Bürgern und Träume von einer innerdeutschen Konvergenz startete die SED eine Kampagne, die den KPD-Losungen in der Weimarer Republik gegen die Sozialdemokraten ("Sozialfaschisten") entsprach.
So warnte SED-Sekretär Honecker im Februar vor der »Konterrevolution« im sozialdemokratischen Tarnanzug. So schrieb »Neues Deutschland« am 6. April über den SPD-Fraktionschef Wehner, dessen »antikommunistische Taktik, 'mit den Kommunisten leben', sie aber zu 'sozialdemokratisieren', paßt In die von Nixon entworfene Taktik innerhalb der Globalstrategie mit dem alten Ziel. Die Sozialdemokratisierung der sozialistischen Länder ist also das konterrevolutionäre Etappenziel.«
So ließ die »Armee-Rundschau« einen DDR-Soldaten Rex fragen: »Nun sind in Westdeutschland die Sozialdemokraten an der Macht, Ist damit nicht auch die Aggressionsgefahr geringer geworden?« DDR-Oberst Richter antwortete: »Kein Hund Ist bekanntlich so böse, daß er nicht auch einmal mit dem Schwanz wedelt. Nun ist allerdings bei einem ganz bösen Hund der Schwanz nicht das Gefährlichste, und bei der westdeutschen Monopolbourgeoisie ihre gegenwärtige sozialdemokratische Regierung gewiß auch nicht. Womit ich nicht gesagt haben will, daß sie nur Schwanz ist. Vor lauter Schwanzwedeln aber das Gebiß zu übersehen, das könnte übel bekommen.«
Sowjet-Außenminister Gromyko -- Dauergesprächspartner des Brandt-Vertrauten Egon Bahr -- und die Mehrheit des sowjetischen Politbüros dachten anders über den Machtwechsel am Rhein.
Politbüro-Mitglied Kirilenko, nächster Mitarbeiter des Parteichefs Breschnew, hatte bereits auf dem Parteitag der französischen KP Im Februar versichert: »Der Sowjet-Union liegt es fern, die in der Führung der Bundesrepublik Deutschland eingetretenen Wandlungen zu ignorieren.«
Moskaus Meinung über Sozialdemokraten hatte sich offenbar grundsätzlich gewandelt. Michail Suslow Chefideologe der KPdSU und Politbüromitglied, erklärte zum 50. Gründungstag der »Komintern« (Kommunistische Internationale):
Bei der Tätigkeit der Komintern gab es zweifellos auch Fehler. Ungerechtfertigt war die These, daß die Sozialdemokratie die größte Gefahr darstellte und daß deshalb in einer bestimmten Periode gegen sie der Hauptschlag geführt werden müsse.
Der anwesende DDR-Chef Walter Ulbricht widersprach dem sowjetischen Spitzengenossen auf der Stelle. Er mochte sich offenbar nicht von dem Bild aus seinen politischen Lehr- und Wanderjahren lösen, die Sozis seien »Sozialfaschisten« und ein gefährlicherer Feind als die Nazis.
In Moskaus »Prawda« vom 12, November vorigen Jahres aber mußte der Altkommunist lesen: »Im Kampf für Demokratie und Sozialismus verfolgen die Kommunisten eine Linie, die auf Zusammenarbeit mit den sozialistischen und den sozialdemokratischen Parteien gerichtet ist.« Mit Moskau milderten auch andere Ostblock-Parteien die bis dahin betriebene Verteufelung der deutschen Sozialdemokraten.
»Willy Brandt und seine Partei besitzen vieles, um sich in die Geschichte Europas und ins Gedächtnis der Europäer als eine politische Gruppierung einzutragen, die zum Abbau des Mißtrauens beigetragen hat, das die näheren und weiteren Nachbarn der Bundesrepublik bisher gegenüber diesem Staat hegen«, erklärte der Chefredakteur der Warschauer Zeitung »Polityka«, Rakowski, in einem Artikel über die »Chancen der Sozialdemokraten«.
Das ungarische Parteiorgan »Népszabadság« hielt die »Tatsache« fest. »daß von den führenden und wichtigen politischen Parteien in der Deutschen Bundesrepublik und ihren politischen Kräften die SPD die einzige ist, mit der ein Gespräch möglich ist«.
Der KP-Konservative Ulbricht führte das Gespräch offenbar nur, weil die an einem Ausgleich mit Bonn interessierten Genossen in Moskau es von ihm verlangten. Ulbrichts Anerkennungs-Sucht ist lediglich die Kehrseite seiner Konvergenz-Angst, ist Wunsch nach Distanz.
Zehn Tage vor dem Brandt-Stoph-Treffen in Erfurt suchte »Neues Deutschland« (ND) Konvergenz-Hoffnungen unter DDR-Bürgern abzublocken: »Diese Konvergenztheorie wird neuerdings ganz offen von sozialdemokratischer Seite in Anspruch genommen.«
Die ND-Redakteure hatten im West-Berliner SPD-nahen »Telegraf« ein brisantes Zitat gelesen: »Konvergenztheorie ist auch eine gemeinsame Konzeption, die sowohl von der britischen Mehrheitspartei als auch von der Partei, die in der Bundesrepublik den Kanzler stellt, verfolgt wird.« Europa habe nur dann eine Chance, »wenn im Westen der doktrinäre Kapitalismus und im Osten der doktrinäre Kommunismus überwunden werden können.«
»Neues Deutschland« zu der Vision von einem sozialdemokratischen Europa:
Wir erinnern uns, daß man in Westdeutschland vor zwei Jahren, besonders gegen. über der sozialistischen CSSR. Sehr freigebig mit Ratschlägen war, wie man den Kommunismus verbessern könne: Man müsse die Wirtschaft dezentralisieren, den Leninismus beiseite lassen, auf die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei verzichten, dem »Pluralismus« der politischen Kräfte freie Bahn geben, die Bindungen zu den anderen sozialistischen Ländern lockern, die Türe noch Westen weit öffnen, und dergleichen mehr, Wenn wir das alles befolgen, höhen wir das Lob der Konvergenzpolitiker verdient.
Zur 100. Lenin-Geburtstagsfeier in Ost-Berlin repetierte Ulbricht: »Sooft die Sozialdemokratie in Deutschland der Regierung angehört hat, so setzte sie doch niemals wirkliche Demokratie, echte Selbstbestimmung für das werktätige Volk durch.«
Das war einen Monat nach Erfurt, einen Monat vor Kassel.