Präsidentenwahl Ganz geheim
Johannes Rau, 62, kann warten, kaum einmal hat er eine Niederlage durch Voreiligkeit riskiert. Stets berechnet der Düsseldorfer Ministerpräsident alle Umstände, kalkuliert jede Seite aus und zieht geduldig die Strippen.
Lange Zeit hing er an den Fäden eines noch Größeren, und unklar war, ob er die Rolle des Königs oder des Kasperle spielte.
Es war Anfang 1991, als Helmut Kohl sich mit Hilfe des SPD-Emissärs Hans-Jürgen Wischnewski zum erstenmal bei Rau erkundigte, ob dieser 1994 als Nachfolger von Richard von Weizsäcker für das Amt des Bundespräsidenten zur Verfügung stehe.
Keine Frage eigentlich für den Sozialdemokraten, der in jedem Amt ein Bürger-Meister sein will und dessen Vaterfigur Gustav Heinemann geblieben ist, der bisher einzige SPD-Bundespräsident. _(* Im August 1991 auf Spiekeroog. )
Aufmerksam registrierte Rau, daß der Regierungschef, ganz im Vertrauen und ganz geheim, die Offerte erneuerte. Auf dem gemeinsamen Rückflug im April 1991 von der Trauerfeier für den ermordeten Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder in Berlin signalisierte der Bundeskanzler dem Genossen, er werde ihn auf dem Weg in die Villa Hammerschmidt unterstützen.
Fast sicher glaubte sich Rau, als der Kanzler später erneut Beistand versprach. Der Sozialdemokrat, so seine Botschaft, solle sich durch nichts irritieren lassen. Egal, was geschehe - auf Kohl sei Verlaß.
Die schwarz-rote Eintracht scheint schon gescheitert zu sein. Bei der »ersten Wahl von nationaler Bedeutung«, so Kohl mittlerweile, könne kein Kandidat aus dem Westen zum Zuge kommen. Ein ostdeutscher Christdemokrat sei an der Reihe.
Über den neuen Präsidenten wird nun wohl in offener Schlacht entschieden. Mitte September, so will es die SPD-Führung, soll Bruder Johannes offiziell als Kandidat ins Rennen gehen.
Als erster hatte der Ost-Berliner Molekularbiologe und Bürgerrechtler Jens Reich im Juni seine Anwartschaft angemeldet - ein Kandidat ohne Siegeschance. Rau ist von anderer Statur. Ein präsentabler CDU-Konkurrent zum Düsseldorfer Regierungschef muß jetzt her.
Kohls Trost: Eine Mehrheit gegen die CDU/CSU ist im Wahlgremium schwerlich zu organisieren.
Die Union stellt in der Bundesversammlung, die am 23. Mai nächsten Jahres über die Nachfolge Weizsäckers abstimmt, nach heutigem Stand 620 der 1324 Stimmen, die Sozialdemokraten 500. Um einen Kandidaten durchzusetzen, würde der SPD in den ersten beiden Wahlgängen, in denen die absolute Mehrheit erforderlich ist, nicht einmal eine geschlossene Unterstützung durch Bündnis 90/Grüne (39) und Liberale (114) helfen.
Ohne Stimmen von der PDS oder rechten Splitterparteien käme ein SPD-Kandidat frühestens im dritten Wahlgang durch; dann reicht die einfache Mehrheit. Ein Präsident, der von Alt-Kommunisten oder Rechtsradikalen ins Amt gehievt würde - davor graust den Sozialdemokraten.
Sie reden sich die Mehrheitsverhältnisse schön, um Rau nicht von vornherein zum Zählkandidaten zu degradieren. Noch habe ja Kohl, so ein SPD-Präsidiumsmitglied, seine »Zusage an Rau nicht zurückgenommen«. Zudem signalisierten nicht nur Liberale, sondern auch Unionsleute Unterstützung.
Tatsächlich hat der sächsische Regierungschef Kurt Biedenkopf (CDU) im Gespräch mit Rau erklärt, er werde sich für eine Wahl des SPD-Mannes einsetzen. Auch Bernhard Vogel, CDU-Ministerpräsident in Thüringen, wird von Rau-Vertrauten zu den potentiellen Förderern gezählt.
Offene Zustimmung kam vorige Woche von der nordrhein-westfälischen FDP, die überraschend ihre Liebe zum Landesvater entdeckte. Wenn die Partei keinen eigenen Kandidaten aufstelle, so verkündeten FDP-Landeschef Jürgen Möllemann und sein Fraktionschef Achim Rohde, werde man sich hinter Rau stellen. Für den Ausgang der Präsidentenwahl bedeutet die unerwartete Unterstützung wenig.
Möllemann und sein Landesverband stehen in der Gesamt-FDP allein; ihre Avancen sind vor allem landespolitisch motiviert. Ginge Johannes Rau in die Villa Hammerschmidt, könnte die SPD bei der nächsten Landtagswahl die absolute Mehrheit verlieren und die FDP zum Regieren brauchen, so die Spekulation.
Auch Biedenkopfs Hilfe wird kaum lange vorhalten. Denn die Union ist entschlossen, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Helmut Kohl und seine Leute plagen mittlerweile schlimme Erinnerungen ans Jahr 1969.
Damals hatten Liberale und Sozialdemokraten den SPD-Kandidaten Gustav Heinemann zum Präsidenten gewählt - ein Stück Machtwechsel zur sozial-liberalen Koalition, die wenige Monate später zustande kam. Von der Wahl eines SPD-Mannes durch die Union im nächsten Jahr befürchtet die Union eine ähnliche Signalwirkung: diesmal für eine Große Koalition in Bonn.
Präsentiert Kohl daher einen eigenen halbwegs vorzeigbaren Kandidaten, hat Rau keine Chance.
Noch scheint den Kanzler allerdings ein kleines Problem zu plagen: Ihm fällt der richtige Name nicht ein.
Mit seinem Votum, im Zeichen der Einheit müsse ein Ostdeutscher Präsident werden, geriet Kohl in neue Verlegenheit. Die Favoriten des Kanzleramtes, Ministerpräsident Berndt Seite aus Mecklenburg-Vorpommern und Sachsens Justizminister Steffen Heitmann, sind selbst im Osten umstritten.
»Das Kriterium Ossi ist so blödsinnig, wie es nur sein kann«, schimpft FDP-Generalsekretär Werner Hoyer. Auch Kohls Ost-Parteifreunde Bernhard Vogel, Werner Münch und Kurt Biedenkopf fanden die ostdeutsche Idee nicht sinnig. Der Präsident müsse »ein Präsident aller Deutschen sein«, verlangte Biedenkopf, und die lebten nun mal zu 80 Prozent im Westen.
Doch auch dort sind Kohl-Kandidaten rar. Roman Herzog, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, war mangels Ausstrahlung bald wieder aus dem Gespräch. Nur einer könnte mit einem Wort das weitere Kandidaten-Raten beenden: Hans-Dietrich Genscher. Würde er wollen, könnte Kohl nicht nein sagen.
Nein sagt Genscher selbst, stereotyp, seit Monaten. Ein taktisch motiviertes, vorläufiges Nein?
Er nehme »das Nein ernst«, sagt Generalsekretär Hoyer. Doch unverkennbar, glaubt der FDP-Manager, mache sich bei Genscher »die Neigung bemerkbar, sich in die Pflicht nehmen zu lassen«. Y
* Im August 1991 auf Spiekeroog.