STEUERN / REFORM-GUTACHTEN Gar nicht glücklich
Günter Graß trommelte es den Genossen: »Man unterschätze doch bitte nicht den Wähler, wenn er weiß und zu begreifen imstande ist, worum es geht und wofür er den Preis zahlen soll, wenn deutlich zu Buche schlägt, daß es nicht wieder einmal den kleinen Mann, sondern sozial gerecht alle treffen wird.«
Von der SPD-Fraktion des Bundestages nach Bonn eingeladen, damit er ihr die Leviten lese, sprach der Schriftsteller und dilettierende Politiker am Dienstag letzter Woche unbeschwert aus, wovor sich die Profis anderthalb Jahre gedrückt haben. Bonn müsse, so Graß, um der versprochenen Reformen willen zu »progressiven Steuererhöhungen« bereit sein. Der Wähler jedoch trage nur dann diese neue Last, wenn eine Steuerreform vorausgehe, »die die notwendige Steuererhöhung in sozial gerechter Stufung verbürgt«.
Einen Zuhörer mußte die Graß-Ermahnung besonders hart treffen. In der ersten Reihe des Fraktionsauditoriums saß Finanzminister Alex Möller. Vom Geschick des 67jährigen Kabinettseniors hängt es ab, ob die Regierung jene von ihrem Wahlhelfer geforderte Reform der Reformen durchsetzen und ob Sozialdemokrat Willy Brandt bis 1973 den selbstgestellten Anspruch, »Kanzler der inneren Reformen« zu sein, vor den Wählern erfüllen kann. Brandts und Möllers Chancen stehen nicht gut.
Die geballte Macht von Interessenten aus Industrie und Politik versperrt den Weg zu einem gerechteren Steuersystem und zu ausreichender Finanzierung der Zukunftsaufgaben.
Fachlichen Rat und politische Hilfe hatte sich Möller von einer 14köpfigen Reform-Kommission versprochen, die von seinem Amtsvorgänger Franz Josef Strauß vor drei Jahren eingesetzt worden war. Am Dienstag dieser Woche liefert der Kommissionsvorsitzende, Strauß-Parteifreund Rudolf Eberhard, das Gutachten im Kanzlerbungalow ab.
Der Minister hatte gehofft, mit einer unabhängigen Expertise könne er die Widerstände in der CDU/CSU-Opposition, beim Koalitionspartner FDP und in der eigenen Partei brechen. Denn jede Steuerlastverschiebung muß ihn mit den Industriellen und Bauern in der Union, den Wirtschafts- und Mittelstands-Lobbyisten der Liberalen sowie den Bürger- und Sozialistenflügeln der SPD über Kreuz bringen.
Wie gering Möllers Aussichten allein im Regierungslager sind, artikuliert Hessens Ministerpräsident Albert Osswald, einst Finanzminister des sozialdemokratischen Musterlandes: »Es wird sich zeigen, was SPD-Steuerpolitik sein kann und was Koalitions-Steuerpolitik sein wird.«
Erfolg oder Mißerfolg von Alex Möllers Steuerreform entscheiden teils direkt, teils indirekt über beinahe alle anderen Reformwerke des SPD/FDP-Kabinetts: direkt über die ausgelobten Pläne zur Vermögensbildung, Altersvorsorge und zum Familienlastenausgleich -- mithin über die soziale Symmetrie in der Bundesrepublik; indirekt über Straßenbau, Bildungsinvestitionen und Umweltschutz -- mithin über alle Vorhaben, die wegen ihrer hohen Kosten beträchtlich höhere Steuereinnahmen erfordern.
Daß Alex Möller zur Schlüsselfigur des Kabinetts Brandt wurde, verdankt er einem dubiosen Nachlaß seines CSU-Amtsvorgängers Franz Josef Strauß. Unter dem Druck der Sozialdemokraten hatte der CSU-Mann während der Zeit der Großen Koalition das Steuerreformgutachten mit dem Ziel in Auftrag gegeben, das Steuersystem in Deutschland einfacher und sozial gerechter zu machen.
Zugleich aber setzte der nicht als Gesellschaftsreformer verdächtige Strauß die Kommission so zusammen, daß Überraschungen kaum zu gewärtigen waren. Hermann Fredersdorf, Vorsitzender des Steuerbeamtenbundes und sozialdemokratischer Opponent In der Kommission: »Strauß suchte nur ein Alibi und den Beweis, daß am derzeitigen Steuersystem nichts zu ändern ist.« Die Mehrheit der berufenen Experten war konservativ und traditionalistisch.
Das Arbeitsergebnis stellt nachdrücklich unter Beweis, wie schlecht es ist, politische Entscheidungen Experten zu überlassen. Denn orientiert sich Möller mit seiner Steuerreform am Gutachten, braucht kein großes Unternehmen und kein reicher Mann irgend etwas zu befürchten, und der kleine Steuerzahler darf keine gerechtere Lastverteilung erhoffen. Das Reformpapier, das der CSU-Mann Eberhard dem Kanzler am Dienstagmittag feierlich im Stresemann überreichen wird, schadet den einen sowenig, wie es den anderen nützt.
In einem geheimen Teil, den die Kommissare vorsichtshalber für sich behielten, machten sie ihre Steuer-Rechnung auf:
>Kleinverdiener, die eigentlich entlastet werden sollten, werden künftig stärker gebeutelt. So muß ein Familienvater mit vier Kindern und 10 000 Mark Jahreseinkommen nach den Kommissionsvorschlägen zu Mehrwert- und Lohnsteuer per Saldo 141 Mark mehr Steuern bezahlen;
* Großverdiener, die nach eindeutig bestimmbaren Gerechtigkeits-Vorstellungen eigentlich stärker herangenommen werden sollten, können mit Milde rechnen. So müßte ein Einkommensmillionär mit zwei Kindern künftig nur 13736 Mark (2,9 Prozent) mehr Einkommensteuer im Jahr zahlen als bisher (siehe Graphik Seite 32);
* Bezieher mittlerer bis höherer Einkommen, die eigentlich die Masse dessen aufbringen müßten, was eine Steuersenkung bei kleinen Einkommen kosten würde, erhalten die größten Steuergeschenke. So soll ein verheirateter Angestellter mit 50 000 Mark Jahresgehalt laut Eberhard und Experten künftig per Saldo 3929 Mark jährlich, das sind 14,29 Prozent, weniger Steuern zahlen als bisher.
Fatales Ergebnis der Eberhard-Expertise: Die Unternehmer und Selbständigen, in 20 Jahren CDU-Regierung mit staatlichen Steuergeschenken verwöhnt, können mit einem weiteren Douceur von zwei Milliarden Mark rechnen, für das die Arbeitnehmer mit Mehrbelastungen von 1,7 Milliarden Mark aufkommen müssen.
Dieses Ergebnis jahrelanger Bemühungen um Gerechtigkeit ist selbst dann ganz unbegreiflich, wenn den Gutachtern zugestanden wird, daß sich ein in Jahrzehnten wildgewachsenes Steuersystem nicht abrupt zugunsten der breiten Steuerzahlermasse ändern läßt, ohne neuen Schaden zu stiften. Sogar der linke Steuer-Rebell der Sozialdemokraten, Frankfurts Oberbürgermeister Walter Möller, räumt ein: »In unserer Wirtschaftsordnung werden sich Verteilungsprozesse durch Steuerreformen nur sehr unwesentlich beeinflussen lassen.«
Doch selbst dieser geringe Spielraum wurde von Eberhards Kommissaren nicht genutzt. Zwar wollen sie die unteren Einkommen durch Senkung des Einkommensteuertarifs entlasten, aber sie wagten es nicht, die fehlenden Steuermilliarden bei den hohen und mittleren Einkommen wenigstens zum Teil wieder hereinzuholen. Statt dessen schlagen sie vor, das Deckungsloch durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von elf auf 15 Prozent zu stopfen.
Ergebnis: Die durch Lohnsteuer-Erleichterungen gewährten Vorteile für die Kleinst-Verdiener werden durch Aufschläge bei der Verbrauchsteuer, die untere Einkommensgruppen stets relativ härter treffen als die oberen (da die Verbrauchsausgaben mit wachsendem Einkommen relativ abnehmen), mehr als aufgewogen.
Hessens Ministerpräsident Albert Osswald erläutert die triviale Haushalts-Rechnung: »Am Monatsanfang findet der Arbeitnehmer weniger Steuerabzüge auf dem Lohnzettel, am Monatsende merkt er, daß es doch mehr waren.«
Was die Sozialdemokraten noch mehr verbittern muß am Eberhard-Plan, ist der weitgehende Verzicht auf eine Korrektur der Vermögen- und Erbschaftsteuer. Vor allem die Erbschaftsteuer, Reizwort der Alt- und Junglinken, bleibt selbst bei Vermögensmassen von zehn Millionen Mark mit 14 Prozent so niedrig, wie sie war -- »eine unabsehbare Ungerechtigkeit«, so Südhessens SPD-Möller.
Selbst der Staatssekretär a. D. Karl-Maria Hettlage, Steuerhelfer unter Ex-Finanzminister Franz Josef Strauß, hält die wahrlich vornehme Zurückhaltung gegenüber Vermögen- und Erbschaftsteuer für unvertretbar: »Der alte deutsche Spruch »Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen« soll auch weiterhin keine Gültigkeit haben.«
Besinnt sich Möllers Bonner Namensvetter nicht eines Besseren, muß er auf dem für den Herbst einberufenen SPD-Sonderparteitag zur Steuerreform mit »soliden Mehrheiten gegen sich« (Frankfurts Möller) rechnen. Denn noch immer zählen eine schärfere Einkommensteuer-Progression, höhere Spitzensteuersätze und eine Erhöhung von Vermögen- und Erbschaftsteuer zum Rüstzeug sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik.
Ein unabhängiger Wissenschaftler, der Hamburger Ordinarius für Finanzwissenschaft Konrad Littmann, kommentierte: »Diese Reform schreibt die Vergangenheit fort, und die war schon mies genug.«
Schon bei seinen Kabinettskollegen wird Alex Möller auflaufen, die von ihm dringend mehr Geld für ihre Vorhaben erwarten. Gemäß den Vorschlägen der Steuer-Reformer nämlich würde mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer um vier Punkte jenes Finanzpolster aufgebraucht, das Möller sich im stillen zur Finanzierung kostspieliger Reformvorhaben reserviert hatte.
Überdies muß der bedrängte Finanzier einkalkulieren, daß eine Gewichtsverlagerung von direkten Steuern (Einkommen- und Körperschaftsteuer) zu indirekten (Mehrwertsteuer) ihm künftig nicht mehr so hohe Wachstumsraten auf der Einnahmenseite seines Budgets sichert wie bisher. Dank der Progression des Einkommensteuer-Tarifs wächst das Aufkommen fast doppelt so schnell wie das Sozialprodukt; die Mehrwertsteuer dagegen steigt nur etwa proportional zum Wirtschaftswachstum.
Überdies würde eine Erhöhung des Anteils der indirekten Abgaben an der Gesamt-Steuerlast (siehe Graphik) wie eine Abwertung der Mark wirken. Da die Umsatzsteuern bei exportierten Waren vom Staat wieder zurückgezahlt werden, würde der westdeutsche Fiskus dann Volkswagen, Kühlschränke und Chemikalien, die auf den Weltmärkten verkauft werden, bei diesem Umsatzsteuerausgleich an der Grenze erheblich stärker entlasten als bisher. Die Folge: Westdeutsche Produkte würden am Weltmarkt billiger als die Erzeugnisse der ausländischen Konkurrenz.
Eine Steuerreform a la CSU und Eberhard trüge Möller mithin nicht nur Widerstand von der Parteilinken ein -- wegen der Vernachlässigung der sozialen Symmetrie -, sondern auch den Unmut des Reformkanzlers Brandt, dem an wenig wachsenden Steuereinnahmen nicht gelegen sein darf. Außerdem würden ausländische Partnerstaaten« etwa die Amerikaner, protestieren. Sozialdemokrat Fredersdorf: »Ein Sozialdemokrat kann das nicht verwirklichen. Dann kann er sich nicht mehr zur Wahl stellen. Er wäre sein eigener Totengräber.«
Zusätzliche Gefahr droht der Regierung Brandt schließlich noch von den Preisen. Nach Berechnungen von Karl Schillers Wirtschaftsministerium würde eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um vier Punkte (von derzeit elf auf 15 Prozent) den Preisindex um etwa drei Prozent hochtreiben und damit den jährlichen Kaufkraftschwund der Mark auf sieben Prozent (derzeit 4,1 Prozent) hinaufschnellen lassen.
Schillers Konjunktur-Beschauer und Unterabteilungsleiter Dieter Hiss warnt bereits: » Es ist schlechthin nicht vorstellbar, die Mehrwertsteuer auf einen Schlag um vier Punkte heraufzusetzen. Das wäre nur über einen längeren Zeitraum möglich, und selbst dann ist es noch problematisch.«
Weder das berechtigte Verlangen nach sozialadäquater Lastverteilung noch die Sorge um die Finanzierung von Brandts Reformen oder die Angst vor einem Inflationsschub hatten die Strauß-Kommission beeindrucken können. infolge der von Strauß wohlbedachten Zusammensetzung konnten sie sich nicht zu Reformen aufgerufen fühlen, die diesen Namen verdienen. Staatssekretär a. D. Walter Grund, zu Straußens Amtszeit Stellvertreter des Ministers, erkennt heute rückblickend: »Der Minister hatte sich die Entscheidung über die Zusammensetzung selbst vorbehalten, und er traf sie maßgeblich unter taktischen Gesichtspunkten.«
Wäre es Strauß 1968 mit seinem Auftrag ernst gewesen, die Steuerlasten »gerechter« zu verteilen, hätte er auf ein damals schon vorliegendes Erstgutachten seines Wissenschaftlichen Beirats zurückgreifen können. Interessenunabhängig hatten die Wissenschaftler dem Finanzminister damals empfohlen, Progression und Spitzensätze der Einkommensteuer heraufzusetzen, Vermögen- und Erbschaftsteuer für die Reichen zu verschärfen und Sonderbegünstigungen für Unternehmer und Wohlhabende zu streichen.
Prompt bestellte sich Strauß jenes Zweitgutachten, mit dem Möller jetzt über die Runden kommen muß, bei einem Kreis von Interessenvertretern, in dem Industrieanwälte und Gewerbesyndici die Mehrheit besitzen.
Unter der Leitung seines CSU-Parteifreundes Eberhard sannen drei Jahre lang unter anderem der Saarbrücker Röchling-Bankier Manfred Schäfer, der Düsseldorfer Thyssen-Manager Klaus Kuhn, die wohlhabenden Steuerfachleute Franz Hörstmann und Karl-Heinz Mittelsteiner aus Wuppertal und Hamburg, Paul Mertens von der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer, Volkmar Muthesius vom Industrie- und banknahen Steuerzahlerbund und Hans Pagenkopf, langjähriges Vorstandsmitglied des von der Wirtschaftslobby finanzierten Institutes Finanzen und Steuern, wem Gerechtigkeit zu widerfahren habe.
Dem Industrieklub nicht zuzurechnen sind allein die beiden Universitätsprofessoren Günter Wöhe aus Saarbrücken, Gerhard Zeitel aus Mannheim und der ehemalige Vizepräsident der Deutschen Bundesbank Heinrich Troeger. Mehr Standes- als Arbeitnehmerinteressen nehmen Hermann Fredersdorf vom Bund der Steuerbeamten und Rolf Robert Wiethüchter vom Zollbeamtenbund wahr.
Willy Köppen, Steuerberater in Witten, Vertrauensmann des Deutschen Gewerkschaftsbundes in der Kommission und damit »einziger Repräsentant der 25 Millionen Lohnsteuerzahler« (Steuerbeamter Fredersdorf) nennt das Ergebnis solcher Überlegungen: »Die Interessen der unternehmerischen Wirtschaft sind überrepräsentiert«, und auch Industrie-Mann Hettlage bekannte: »Eigentlich müßte es der Kommission an Autorität fehlen.
Doch SPD-Finanzminister Alex Möller, der seit dem ersten Tag seiner Amtszeit darauf bedacht ist, Solidität in Finanzdingen zu dokumentieren und die Freundschaft zur Industrie wachzuhalten, traute sich nicht, den von Strauß installierten Industrieklüngel aufzubrechen. Möller-Frankfurt über Möller-Bonn: »Viele von uns haben sich gewundert, daß er seine Reform auf eine Kommission stützt, von der kaum erwartet werden kann, daß sie die Interessen der Arbeitnehmer berücksichtigt.«
Hinzu kam, daß Möller die CDU/CSU-Opposition, auf deren Gunst er sich in der Schlußabstimmung angewiesen glaubt, nicht im vorhinein verprellen wollte: »Ich habe nicht den Ehrgeiz, die Reform mit ein oder zwei Stimmen Mehrheit durchzupauken. Ich möchte, daß sie auch weitgehend von der CDU/CSU gutgeheißen werden kann.«
Wider besseres Wissen bescheinigte er den Interessengutachtern »Unabhängigkeit« und »Sachverstand«, und ausdrücklich machte er Zeitpunkt und Inhalt seines ministeriellen Reformentwurfes vom Votum der Kommissare abhängig. Zwar ließ er eine Beamtengruppe unter dem eigens für die Steuerreform zum Staatssekretär berufenen Finanzwissenschaftler Professor Heinz Haller an neuen Steuerplänen arbeiten -- zuletzt auf einer Klausurtagung im Hause der Karlsruher Lebensversicherung. Aber er gab ausdrücklich Weisung: »Es handelt sich nicht um ein Konkurrenzunternehmen zur Kommission, sondern um ein Korrelat dazu, das sich schon jetzt auf die Zielsetzung und den vermutlichen Inhalt des Sachverständigengutachtens einstellen muß, um dann schnell zu kabinettsreifen Gesetzentwürfen zu gelangen.«
Selbst als das Strauß-Kollegium mehrfach den Abgabetermin der Expertise hinausschob und es absehbar wurde, daß Möller durch die säumigen Kommissare in Zeitnot geraten würde, begnügte sich der Finanzminister mit geduldigem Warten.
Noch immer baute der ehemalige Versicherungsmanager darauf, sich mit einer totalen Neuordnung der Staatsabgaben in aller Ruhe einen bevorzugten Platz in der illustren Galerie bedeutender Steuerreformatoren zu sichern. Was er versprach, hätte ein Jahrhundertwerk erfordert: die vierte große Steuerreform in 162 »Jahren. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts hatten es nur drei Finanzminister in Deutschland gewagt, sich der Forderung zu stellen, die Staatsabgaben gerechter und systematischer anzuordnen.
Als erster versuchte es 1808 der Freiherr Karl vom und zum Stein, damals Minister des Akzise-, Zoll-, Fabrik- und Handelsdepartements im preußischen Generaldirektorium. Auf seinen Vorschlag wurde in Preußen erstmals eine allgemeine Einkommensteuer eingeführt. Bis dahin hatten die meisten Fürsten ihre Staatseinnahmen hauptsächlich aus indirekten Steuern, damals Akzisen genannt, wie Braugerechtsame, Branntwein-, Bier- und Salzsteuern bestritten. Der badische Steuerrat Tenzel erklärte damals die gestern wie heute aktuelle Vorliebe der Mächtigen für die Verbrauchsteuer: »Es ist besser einen gantz kleinen und unbemerckten Diebstahl durch die Akzise zu leiden, als gleichsam eine offenbare Gewalt und Raub des seinigen durch die Exekution der Kontribution.«
Als der adlige Superminister im alten Preußen diesen heimlichen Raub durch eine fast schon moderne Einkommensteuer ersetzen wollte, scheiterte er kläglich. Eine Klassensteuer, die zu 45 Prozent von den unteren zwei Ständen ("geringer Bürger- und Bauernstand« sowie »Gesinde und Taglöhner") getragen wurde, blieb übrig.
Erst 83 Jahre nach Steins erster Reform gelang dem Finanzminister Wilhelms 11., Johannes von Miguel, eine Änderung des ungerechten Steuersystems. Er führte 1891 die progressive Einkommensteuer ein, durch die Kleinverdiener geringer belastet wurden als die Bezieher von Spitzeneinkommen.
Noch heute rühmen die Finanzwissenschaftler die Reform wegen ihrer »Einfachheit und Klarheit«. Miguel erfand nach dem aristotelischen Prinzip der »austeilenden Gerechtigkeit«
* ein steuerfreies Existenzminimum von damals 900 Mark im Jahr und die Abzugsfähigkeit von Kinderfreibeträgen;
* einen progressiven Steuertarif, der allerdings nur zu einem Spitzensatz von vier Prozent bei 100 000 Mark Einkommen führte;
* eine Besteuerung der Gewinne von Körperschaften, durch die der Gewinn von Aktiengesellschaften praktisch zweimal besteuert wurde, einmal bei der Gesellschaft und einmal heim Aktionär.
Freilich wurde auch Miguels Reform durch die Reichen und Mächtigen zunächst unterlaufen. Weil die Kommissionen, die das Einkommen der Steuerpflichtigen einschätzen sollten, aus Bürgerkomitees zusammengestellt waren, wurden die Verdienste meist zu niedrig eingeschätzt. »Keine Krähe«, so schilderte Steuerkritiker Franz Meisl die Moral und Technik der preußischen Veranlagung, »hackt der anderen ein Auge aus.«
Auch der progressivste unter den deutschen Steuerreformern, Matthias Erzberger, Finanzminister in der Weimarer Republik, hatte nur halben Erfolg. Er erhöhte 1920 den Spitzensteuersatz auf 60 Prozent. Wenige Jahre später wurde dieser Satz wieder gekappt.
Das Erbe der Herren Stein, Miguel und Erzberger sowie die im internationalen Vergleich untadelige deutsche Steuermoral bescherten dem Fiskus eines der »fortschrittlichsten Steuersysteme der zivilisierten Welt« (Hettlage) -- und eines der ergiebigsten.
Die Finanzämter kassierten Im letzten Jahr 154 Milliarden Mark, knapp ein Viertel des Volkseinkommens. Am üppigsten floß der Strom aus den vielen kleinen Quellen. Die Lohnsteuerzahler, unselbständig Beschäftigte mit steuerpflichtigem Einkommen unter 24 000 Mark im Jahr, brachten allein über 35 Milliarden Mark auf. Indirekt über Verbrauchsteuern (Umsatzsteuer, Biersteuer, Tabaksteuer, Kaffeesteuer, Branntweinsteuer und Mineralölsteuer) zog Vater Staat der großen Steuerzahlermasse unmerklich weitere 61 Milliarden Mark aus der Tasche. Die Abgaben der höherverdienenden Personen und Unternehmen (Einkommen- und Körperschaftsteuer) brachten dagegen lediglich 27 Milliarden ein.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg blühten die Privilegien der ohnehin Begüterten auf. Wohnungsbau und Sparförderung, Hilfen für Berlin und die Zonenrandgebiete, Sonderabschreibungen für den notleidenden Schiffbau, für Luftfahrt und Projekte in Entwicklungsländern -- inzwischen gekürzt -- wuchsen zu einem immer massiveren Dickicht zusammen.
Die Schliche können nur noch durch ausgebuffte Steuerberater ausgemacht werden, deren Honorar wieder vom steuerpflichtigen Einkommen abgesetzt werden kann. Vergebens lamentierte schon Kanzler Adenauer vor dem Deutschen Bundestag: »Was hab« Ich davon, wenn in den Steuergesetzen Litera a, b, c stehen. Das muß weg.«
Der Drang nach höherer Gerechtigkeit bescherte über komplizierte Umwege noch ungerechtere Steuergesetze, die bei Einkommensstarken größere Steuergestaltungsmöglichkeiten boten als den Lohnsteuerzahlern.
Die großzügigen Gestaltungsprivilegien (Sonderabschreibungen, Ehegattensplitting, Kinderfreibeträge, Sonderausgaben) führten schließlich dazu, daß der gesetzlich vorgeschriebene Spitzensteuersatz von 53 Prozent. selbst bei Einkommen von über 250 000 Mark im Jahr nur zu einer durchschnittlichen Belastung von 44 Prozent führt.
Im unteren Teil der Einkommenskala dagegen wuchsen mehr und mehr Arbeitnehmer in Steuerpflicht und Steuerprogression hinein. Allein im Februar stieg das Aufkommen aus der Lohnsteuer um 20 Prozent gegenüber Februar 1970, beträchtlich stärker als die Löhne selbst.
Während der Steueranteil am Volkseinkommen in den vergangenen fünf Jahren nur wenig schwankte (Steuerlastquote derzeit: 22,7 Prozent), kletterte die Belastung der Löhne von 8,4 auf 11,3 Prozent.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Wilhelm Nölling, Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Akademie für Wirtschaft und Politik in Hamburg und Mitglied der Bundeshaus-Links-kommune im 16. Stockwerk des »Langen Eugen«, rechnete die Privilegien der Reichen vor.
Nöllings Beispiele:
* ein selbständiger 100 000-Mark-Vordiener über 50 Jahre könne, wenn er die gängigen Sondervergünstigungen voll ausschöpfe« inklusive Wohnungsbauprämien ein Steuergeschenk in Höhe von 5310 Mark im Jahr kassieren. Demgegenüber könne selbst ein gut verdienender Arbeitnehmer (36 000 Mark im Jahr) maximal nur 1 175,70 Mark herausholen;
* der steuerliche Familienlastenausgleich bringe einem 10 000-Mark-Verdiener mit drei Kindern 1245 Mark im Jahr. Ein Bundesbürger mit gleicher Kinderzahl, aber 100 000 Mark Jahreseinkommen darf 10 011 Mark zur Brust nehmen, elf Mark mehr, als der arme Minderbürger insgesamt verdient. In Bonn rühmte sich der Staatssekretär im Wohnungsbauministerium Louis Storck, von seinen rund 6500 Mark Monatssalär keinen Pfennig Steuern zu zahlen.
Storcks Behauptung ist glaubwürdig. Steuerreformkommissar Köppen konstruiert das Beispiel eines 80 000-Mark-Mannes über 50, verheiratet, keine unterhaltspflichtigen Kinder, der an Freibeträgen 8600 Mark und als Besitzer eines verschuldeten Eigenheimes jährlich 10 000 Mark geltend machen kann. Erwirbt er zusätzlich für 30 600 Mark Kommanditanteile einer Berliner Baufirma, die ihm kraft des Berlinhilfe-Gesetzes 200 Prozent Verlustzuweisungen eintragen, bleiben ihm als steuerfreies Jahreseinkommen 31 600 Mark übrig, 2600 Mark im Monat.
Wegen der besonders großzügigen Förderung einzelner Branchen, wie etwa der Seeschiffahrt, konnte es dazu kommen, daß »20 Jahre lang fast alle Hamburger Reeder fast keine Steuer gezahlt haben«, so der bekannte Hamburger Steuerberater Tidemann Lemberg.
Von der gesetzlich vorgesehenen Besteuerung nach dem Verbrauch (Paragraph 48 des Einkommensteuergesetzes) machten die Finanzämter so gut wie keinen Gebrauch. Nordrhein-Westfalens Finanzminister Hans Wertz kann sich nicht daran erinnern, jemals einen Steuermanipulator nach dem Lebensstandard besteuert zu haben, selbst wenn der Konsum an Üppigkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Hamburger Finanzbehörden haben in den vergangenen 25 Jahren nur einmal nach dieser Regel zugelangt, im Falle des mittlerweile verstorbenen Pamir- und Passat-Reeders Heinz Schliewen.
Reformkommissar Gerhard Zeitel, Ordinarius für Finanzwissenschaft in Mannheim und CDU-Bezirksvorstand, analysierte: »Privilegierende Sondernormen sind das besondere Kennzeichen der Einkommensbesteuerung seit der Währungsreform gewesen. In einem Ausmaß, wie es in der neueren deutschen Steuergeschichte bisher unbekannt war, wurde auf diese Weise die Belastung aus der Einkommensteuer manipuliert« Wer viel Steuern zahlt, beweist damit nur, daß ihm die letzte Weihe des Erfolgs versagt geblieben ist.
Jeder Versuch, das komplizierte System zu entwirren, muß -- soll er das Etikett Reform zu Recht tragen dürfen -- drei gleichrangige und einander widersprechende Ziele gleichzeitig verfolgen:
* das gesellschaftspolitische Postulat nach mehr Gerechtigkeit, das unabhängig von Wirtschaftswachstum und Konjunkturlage nur durch eine höhere Spitzenbelastung im Einkommensteuer-Tarif, durch mehr Vermögen- -und Erbschaftsteuer, vor allem aber durch Abbau der steuerlichen Sonderbegünstigungen erfüllt werden kann;
* die ökonomische Forderung, wirtschaftliches Wachstum, das letztlich auch über die Befriedigung des öffentlichen Investitionsbedarfs entscheidet, weder mit unmäßigen Steuersätzen noch mit dem Abbau notwendiger Abschreibungsvergünstigungen zu beeinträchtigen, um die Investitionsneigung der Industrie nicht zu kappen und keine Kapitalflucht über die Grenzen auszulösen;
* den fiskalischen Auftrag, der öffentlichen Hand über Steuereinnahmen eine ausreichende Deckungsmasse für den stetig steigenden Staatsbedarf zu verschaffen.
Das Ziel, ein »gerechteres« Steuersystem zu finden, war der Kommission ausdrücklich vorgegeben. Doch das Strauß-Kollegium erfüllte seine Aufgabe nicht. Alle Vorschläge der gutwilligen Minderheit -- Köppen, Fredersdorf, Zeitel, Troeger und Wiethüchter --, zumindest die gröbsten Ungerechtigkeiten auszubügeln, wurden niedergestimmt.
So hatte die kleine Gruppe der wirklichen Reformer vorgeschlagen, den Einkommensteuer-Tarif schon bei einem Verdienst von über 20 000 Mark im Jahr (bei Ledigen) zu verschärfen und den Spitzensteuersatz von derzeit 53 auf 60 Prozent anzuheben. Doch die Mehrheit fand einen Tarif empfehlenswert, nach dem einem kinderlosen Ehepaar mit 250 000 Mark Jahreseinkommen sogar noch 738 Mark seiner bisherigen Steuerschuld erlassen werden soll, und beließ es bei 55 Prozent Spitzensteuersatz.
Für Kinder der Reichen wollte die Minderheit der Reformbewußten nicht mehr höhere Steuersubventionen leisten als für die Nachkommen der Kleinverdiener. Doch die Mehrheit entschied sich dafür, die sogenannten Kinderfreibeträge, die vom steuerpflichtigen Einkommen abgezogen werden dürfen, beizubehalten und sogar noch um 300 Mark (beim dritten Kind uni 600 Mark) zu erhöhen. Effekt: Bei einer Viertelmillion Jahreseinkommen gewährt der Fiskus derzeit für drei Kinder 2480 Mark Nachlaß, wer dagegen 6000 Mark im Jahr zu versteuern hat, bekommt für die gleiche Kinderzahl nur 820 Mark.
Köppen und andere wollten das sogenannte Ehegatten-Splitting für die oberen Einkommensschichten (ah 40 000 Mark im Jahr) abschaffen. Doch die Mehrheit plädierte für die alte Regel, nach der die Ehefrau eines Arbeiters mit 10 000 Mark Jahreseinkommen derzeit nur eine Steuerersparnis von rund 355 Mark wert ist, während die Gemahlin eines Viertelmillionärs mit 11 281 Mark Steuerersparnis zu Buche schlägt.
Ferner wollten die Reformer die Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer (acht bis zehn Prozent der Einkommensteuer) vom steuerpflichtigen Einkommen abschaffen, weil auch davon die Reichen überproportional profitieren. Doch abermals wies die Majorität das Ansinnen zurück, und zwar mit der für eine Reform-Kommission merkwürdigen Begründung, der Wegfall der Abzugsfähigkeit würde zu einer »raschen Zunahme der Kirchenaustritte« führen.
Schonende Behandlung wollen die Experten auch Westdeutschlands Vermögenden und Erben angedeihen lassen. Zwar streichen sie den Wohlhabenden die Abzugsfähigkeit der Vermögensabgabe bei der Einkommensteuer, aber gleichzeitig halbieren sie den Tarif. Effekt: magere 56 Millionen Mark Mehreinnahmen,
Bei der Erbschaftsteuer wollen die Gutachter sogar Nachlaß gewähren. Höhere Freibeträge für Ehegatten und Kinder sowie günstigere Tarifklassen für entferntere Verwandte vermindern das ohnehin bescheidene Aufkommen aus der Erbschaftsteuer (1970: 520 Millionen) um 30 Millionen Mark. Nur bei Erbschaften von 100 Millionen Mark soll der Steuersatz von 15 auf mäßige 20 Prozent angehoben werden. Möllers Finanzbeamte registrierten -- wegen der steuerrechtlich zulässigen Bewertungsmanipulation -- 1969 lediglich zwei Erbfälle von über zehn Millionen Mark.
Schwedische Kinder müssen beispielsweise schon bei einem Nachlaß von 700 000 Mark rund die Hälfte an das Finanzamt zahlen. In England bleiben von einem ererbten Vermögen von sechs Millionen lediglich 90 000 Mark übrig.
Allen seit Jahren bekannten Mängeln der Ausbildungs- und Umweltschutz-Investitionen zum Trotz entschloß sich die Fachschaft Eberhard bei den Unternehmensteuern sogar noch zu üppigen Geschenken. Die Mehrheit der Kommissare empfiehlt eine neue Art der Körperschaftsteuer, die der deutschen Wirtschaft helfen würde, jährlich 700 Millionen Mark zu sparen. Sie wollen die Doppelbelastung von Unternehmensgewinnen -- zunächst Körperschaftsteuer bei der Kapitalgesellschaft selbst und anschließend Einkommensteuer beim Anteilseigner -- abschaffen. Dazu soll noch die Gewerbesteuer auf ein Drittel zusammengestrichen werden. Kosten der Zuwendung, die ohne steuerliches Äquivalent bleiben soll: 12,2 Milliarden Mark.
Am meisten erbitterte die reformwilligen Gutachter die finanzielle Bilanz der Experten-Mehrheit. Die Summe jener aus neuen Vergünstigungen resultierenden Steuerausfälle, die sie nicht durch Steuererhöhungen
* Waschmittel-Rückstände In der Saar bei Völklingen.
bei Wohlhabenden und Besitzenden wettmachen wollen, soll schlicht durch Erhöhung von Verbrauchsteuern wettgemacht werden. Zuschläge bei allen lukrativen Konsumsteuern stehen an, so auf Tabak (plus 13,8 Prozent), Alkohol (plus 25 Prozent) und Mineralöl (plus fünf Pfennig je Liter).
Den größten Teil der Steuererleichterungen, rund 20 Milliarden Mark, wollen die Unternehmensanwälte durch die unsozialste Kontribution, nämlich durch höhere Mehrwertsteuern finanzieren. Offizielle Begründung: Die EWG fordere ohnehin eine Erhöhung des Umsatzsteuersatzes von elf auf 15 Prozent.
Über diesen Steuervorschlag meinte Nordrhein-Westfalens sozialdemokratischer Finanzminister Hans Wertz: »Wir sollten uns nicht den unguten Usancen unserer Nachbarn anpassen.« Der SPD-Bundestagsabgeordnete Nölling, der das EWG-Argument des Eberhard-Klubs zu Recht nur als Vorwand für einen möglichst opportunen Ausgleich der Steuerreformbilanz enttarnte, meinte: »Die sind wohl bekloppt.«
Der Deutsche Gewerkschaftsbund verwahrte sich gegen diesen Griff in die Tasche der kleinen Leute, die stets den Löwenanteil der Verbrauchsteuern tragen müssen: »Die Mehrwertsteuer ist einfach kein Goldesel, der mißbraucht werden kann, um die reichen Steuerzahler zu schonen.«
Folgerichtig lobte der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) das Papier. »Wir halten das«, meint Harry Fischer, Steuerexperte des Verbandes, »für eine ausgewogene Leistung.« Und: »Wir sind zufrieden mit dieser unternehmens- und gesellschaftspolitisch vernünftigen Lösung«
Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie fand keinen Grund zur Klage. Präsidiumsmitglied und CDU-MdB Kurt Becker: »Da die Kommission von Franz Josef Strauß eingesetzt worden ist, sollte die CDU/CSU rechtzeitig und positiv Stellung nehmen. Flick-Gesellschafter und CSU-MdB Wolfgang Pohle. » Die Kommission hat gewissenhafte Arbeit geleistet.«
Ebenso folgerichtig wehrten sich die Gewerkschaften gegen das angesichts der bekannten Zukunftsaufgaben geradezu hanebüchene Eberhard-Konzept. Heinrich Jacobi, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), beschwerte sich: »Die von der Mehrheit der Steuerreform-Kommission unterbreiteten Vorschläge müssen die Arbeitnehmer als eine Provokation empfinden.« Und Karl-Heinrich Pitz, Steuerrechner von IG-Metall-Chef Otto Brenner, empfahl seinem Parteifreund Möller: »Das kann der Alex ungelesen in den Schrank stellen. Das ist unter aller Sau.«
Um sich beizeiten für den Steuerdisput zu munitionieren, setzten Bonns Parteien insgesamt acht Kommissionen ein. Allein bei den Christdemokraten formierten sich fünf Kadergruppen -- vier davon beim Unternehmerflügel -, um den Eberhard-Vorschlägen Nachdruck zu verleihen. Der CDU-Bundesvorstand engagierte den industrienahen Stuttgarter Wirtschaftsprüfer Paul Binder, der von Westdeutschlands Großkapital finanzierte Wirtschaftsrat der CDU den Ziegeleibesitzer Werner Dollinger, die CSU- Fraktion Friedrich Flicks Pohle und der Mittelstand den hanseatischen Drogisten Heinrich Gewandt als Vorsitzende ihrer Lobby-Vereinigungen.
Anfang letzter Woche einigte sich der CDU/CSU-Fraktionsvorstand darauf, kein Unionsabgeordneter möge vorläufig zum Kommissionsergebnis Stellung nehmen. Auch Ex-Finanzminister Strauß möchte sein Pulver gegen Möller noch trocken halten: »Diese Arbeit nehme ich Herrn Möller nicht ab« (Siehe Interview Seite 38.)
Doch ein Konflikt mit der CDU CSU ist Möllers geringste Sorge. Viel mehr Ärger erwartet den Minister in der eigenen Regierungskoalition -- vom linken SPD-Flügel und von der unternehmerfreundlichen FDP.
Der SPD-interne Konflikt schwelt seit dem Saarbrücker Parteitag der Sozialdemokraten im Mai letzten Jahres. Damals waren die Jungsozialisten des Karsten Voigt und die Altlinken des Walter Möller gegen das nach ihrem Geschmack allzu industriefreundliche Regierungsduo Schiller-Möller aufgestanden. Die Regisseure des Parteivorstands konnten nur mit einem Verfahrenstrick verhindern, daß sich die Partei auf die Forderung nach schärferer Besteuerung der Reichen festlegte.
Die Delegierten beschlossen, das heikles Thema auf einen Sonderparteitag im Herbst dieses Jahres zu verschieben. Eine Kommission unter Vorsitz des den Linken unverdächtigen und den Rechten als bedächtig bekannten Entwicklungshilfeministers Erhard Eppler sollte für die Partei ein fortschrittliches steuerpolitisches Grundsatzprogramm entwickeln.
Nach fünf Sitzungen hatte sich die Eppler-Kommission auf die Grundzüge einer sozialdemokratischen Essential-Liste geeinigt. Danach sollen Kleinverdiener durch höhere Freibeträge entlastet werden, die Reichen hingegen durch einen Spitzensteuersatz von 60 Prozent und durch Begrenzung des Splittingvorteils auf Einkommen unter 32 000 Mark etwas stärker herangenommen werden. Überdies sollen entgegen dem Gutachtervorschlag die Unternehmensteuern (Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer) nicht gesenkt werden.
Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer als Ausgleich für andere Steuerbegünstigungen lehnen die Sozialdemokraten strikt ab. SPD-Kommissär Hans Wertz: »Das wäre bösartig.«
Die strittigsten Punkte jedoch sind noch nicht von der Parteikommission besprochen worden. Nach wie vor fordern Alt- und Junglinke höhere Erbschaft-, Vermögen- und Körperschaftsteuer, sinnigerweise auch eine »Reklamesteuer« auf manipulative Werbung, von der niemand so ganz genau weiß, was das ist.
Selbst wenn es Möller gelingen sollte, bei der umstrittensten der Bonner Reformen einen Parteikonsens herzustellen, der Kabinettsakkord mit den Freidemokraten ist ihm damit noch keineswegs sicher. Denn der gehobene Mittelstand -- die auserwählten Profiteure des Kommissions-Gutachtens und mutmaßlichen Steueropfer der SPD-Pläne -- stellt »unsere Klientel« (Karl Heinrich Hansmeyer, Leiter der FDP-Steuerkommission).
Und was die Schonung ihrer Industriekundschaft anbelangt, so haben sich die Freien Demokraten als rechtes Korrektiv der Bonner Linkskoalition bislang immer bewährt, so bei dem geplanten Gesetz gegen die Konzentration der Großindustrie und dem Betriebsverfassungsgesetz. SPD-Nölling befürchtet: »Die Steuerreform wird einen Zerreißkampf zwischen FDP und SPD auslösen.«
Um nicht ungeschützt zwischen Gutachtern, Interessenten und Parteigruppen zu stehen, versuchte Möller ein Auffangnetz zu knüpfen. Schon als die ersten Tendenzberichte aus der Reformkommission durchsickerten, beauftragte er seinen Staatssekretär Professor Haller, einen praktikablen Ausweg zu ersinnen.
In einer Klausurtagung in Karlsruhe stellten die Möller-Beamten ihr Entsatzprogramm fertig, mit dem der Finanzminister hofft, in dieser Legislaturperiode doch noch als Steuerreformer zu reüssieren. Schon an diesem Mittwoch, einen Tag nach der offiziellen Übergabe des Gutachtens, wollen Möller und Haller das Bundeskabinett für ihr Hilfsprogramm gewinnen.
Von Eberhard will Möller lediglich den zugunsten der Kleinverdiener von 1680 auf 2400 Mark erhöhten Grundfreibetrag (jährlicher Einnahmeverlust vier Milliarden Mark), einen niedrigeren Anfangssteuersatz (16 statt derzeit 19 Prozent) und ein vereinfachtes Lohnsteuerverfahren übernehmen.
Anders als Eberhard aber möchte Möller tunlichst vermeiden, sich bei den so Beschenkten durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer heimlich zu refinanzieren. Gegen massierte Industrie- und Mittelstandsinteressen will er statt dessen ein Bündel von Steuerverschärfungen durch Kabinett und Bundestag pauken. Sein Wunschzettel:,
* eine stärker Einkommensteuer-Progression, die schon mittlere Einkommen (40 000 Mark für Verheiratete) härter trifft als bisher, und ein höherer Spitzensteuersatz zwischen 55 und 58 Prozent;
* erhebliche Abstriche an den Sonderausgaben (insbesondere bei Lebensversicherungsprämien und Bausparbeiträgen);
* etwas schärfere Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Gewerbe- und Körperschaftsteuer, von denen die Kommission einen Teil zugunsten der Besitzenden streichen will, sollen nach Möller fast unangetastet bleiben.
Ob der Minister mit diesem Ersatzprogramm durchkommt, dürfte angesichts der politischen Realitäten in Bonn freilich sehr zweifelhaft sein. Denn Möller muß sich nicht nur gegen die parlamentarische Opposition behaupten, sondern auch gegen die FDP-Kollegen in der Koalition -- die gegen mehr Steuergerechtigkeit stets ebenso heftig aufbegehrten wie die CDU/CSU -- und zuletzt gegen die im Widerstreit liegenden Flügel seiner eigenen Parteifreunde.
Wie unnachgiebig die Interessen von Industrie und Gewerbe, Versicherungen und Bausparkassen, Großbankiers und Grundbesitzern der Möller-Reform im Weg stehen, haben die Gutachter dem Minister wie den kleinen Steuerzahlern auf 1800 Druckseiten deutlich gemacht. Möller: »Glücklich bin ich darüber ganz und gar nicht.«