Gaus: Aufgabe für ein Jahrzehnt
Kommentare: Gehen Sie davon aus, daß dieser geduldige Prozeß eine Wandlung durch Annäherung im Auge haben kann?
Gaus: Ich mache dieses Wort nicht zur Basis meiner Arbeit als Leiter der Ständigen Vertretung, und ich sehe es auch nicht als Grundlage der jetzt möglichen Politik, die wir gegenüber der DDR betreiben können. Wandel durch Annäherung setzt im Grunde eine Selbstaufgabe der DDR voraus, und ich meine, wenn wir realistische Politik betreiben wollen, müssen wir von der DDR ausgehen, wie sie ist und nicht, wie wir sie uns wünschen.
Kommentare: Was kann dann das Ziel dieser geduldigen Bemühungen sein, wenn sie nicht einen solchen Wandel anstreben kann?
Gaus: Bevor es einen Sinn macht, über eine Politik, auf die Sie mit Ihrer Frage zielen, zu spekulieren, gibt es eine unendliche Fülle von Problemen zu regeln, die direkt die Menschen in den beiden Staaten berühren. Die Lösung dieser Frage ist allein schon eine vollständige Rechtfertigung für unsere Normalisierungsbemühungen mit der DDR. Vor allem Nachdenken -- so nötig es ist -- über etwas so Grundsätzliches wie Wandel durch Annäherung rangiert die konkrete Aufgabe, die mißlichen humanitären Folgen, die sich aus der Existenz der beiden Staaten ergeben, zu mildern. Das ist eine Aufgabe von mindestens einem Jahrzehnt.
Kommentare: Wird aber durch dieses Engagement für die Menschen nicht der politische Manövrierraum eingeengt, und wurde das an der Reaktion auf die Leipziger Vorgänge erneut deutlich?
Gaus: Wir haben durchaus politischen Manövrierraum; die Leipziger Vorgänge haben es wieder bewiesen. Allerdings kann und darf durch einen notwendig gewordenen Protest nicht unsere gesamte Politik gegenüber der DDR aufhören, wie das manche Stimmen in unserer Öffentlichkeit nach Leipzig verlangt haben. Gegenüber keinem Staat der Welt verhält sich irgendein Staat im Normalfall so, daß ein Anlaß zu einem massiven Protestschritt zum Ende der gesamten Politik gegenüber diesem Staate führe. Kommentare: Ein solcher Protestschritt hat nur deklaratorische Bedeutung, müßte er also nicht durch entsprechende Repressalien verschärft werden?
Gaus: Ich warne sehr davor, unsere Möglichkeit in dieser Hinsicht zu überschätzen. Die DDR ist ein Staat, in dem der Gürtel per Verordnung enger geschnallt werden kann. Da braucht man nicht Maßhalten zu predigen, sondern das kann man verordnen. Daß es Ziel unserer Politik sein kann, der Bevölkerung der DDR, zu der wir nach unserem Selbstverständnis in einem besonderen Verhältnis stehen, Mangel aufzuerlegen, möchte ich ernstlich infrage stellen.