Zur Ausgabe
Artikel 29 / 76

WOLKENBRUCH Geballte Ladung

aus DER SPIEGEL 31/1965

Das Unglück von Paderborn bahnte sich in 4500 Kilometer Entfernung an: über den Azoren im Atlantik.

Von dort wälzten sich in der vorletzten Woche subtropische, feuchte Luftmassen nach Zentraleuropa. Über Norddeutschland kam es zu einem Kampf der Winde und Wolken: Unter Blitz und Donner prallte die Warmluft vom Atlantik mit kalter Luft aus Skandinavien zusammen - ein alltägliches Geschehen.

Die Warmluft mußte den Nordwinden weichen, aber sie konnte nicht. Ein von den Meteorologen als »Kaltlufttropfen« bezeichnetes Gebilde, von Frankreich eindringend, versperrte den Rückweg - ein meteorologischer Sonderfall. Die wassersatte Warmluft war eingekesselt.

So hing am 16. Juli über dem Dreiländereck Niedersachsen-Hessen-Nordrhein-Westfalen eine geballte Wasserladung. Zur Mittagszeit explodierte sie, und das sanft gewellte Land zwischen Edertalsperre und Paderborn ertrank in einer Sturzflut.

Binnen 24 Stunden brachen über Paderborn 136,3 Liter Regen pro Quadratmeter vom Himmel - fast das Anderthalbfache der Durchschnittsmenge für den ganzen Monat Juli.

Wolkenbrüche verwandelten die Bäche und Flüßchen des abseits gelegenen Hügellandes binnen Stunden in tosende Mahlströme. Die Wasser rissen 40 Brücken ein, fegten Straßendecken hinweg, unterspülten Bahndämme und richteten Millionen-Schaden an. Elf Menschen ertranken.

»Es kam über uns«, sagte Paderborns Oberkreisdirektor August Monzen, »als ob ein Staudamm gebrochen wäre Die kleinen Flüßchen waren plötzlich breit genug für drei Ozeandampfer.«

Die Pader, sonst eine eher kümmerliche Wasserader, trat springflutartig über die Ufer und schob eine fast einen Meter hohe Flutwelle in die Bischofstadt; Wasserfontänen schleuderten Kanaldeckel in die Höhe. Das Lippe-Nebenflüßchen Alme wuchs sich zu einem Strom von 300 Meter Breite aus und riß die Brücke der Bundesstraße 64 ein.

Der Weser-Zufluß Diemel schwemmte bei Warburg eine Herde von 200 Schafen mit und ergoß sich, Autos durcheinanderwirbelnd, mit einer Flutwelle in die Weserstadt Karlshafen. Die Altenau verwüstete ein halbes Dutzend Dörfer und riß in der Unglücksortschaft Etteln sechs Menschen in den Tod. Die Weser schwoll stellenweise derart an, daß das Passagierschiff »Forelle« um 100 Meter aus der Strommitte auf eine Wiese gesetzt wurde.

Ursache des Desasters waren Wolkenbrüche. Sie entstehen, wenn feuchtwarme Luftmassen mit Vehemenz in die Höhe gedrückt werden. Der dabei entstehende Sog reißt benachbarte Wolkenformationen mit, so daß sich auf begrenztem Raum ungewöhnlich viel Wasserdampf konzentriert. Der Regen entlädt sich dann mit solchem Ungestüm, daß die Wassermassen wie aus einem gerissenen Sack zur Erde stürzen.

Zwei Wolkenbrüche werden noch heute in den Lehrbüchern der Meteorologen in Fettdruck aufgeführt:

- Am 14. Juli 1911 kübelte der stärkste bislang registrierte Wolkenbruch über dem Bergort Baguio (Philippinen) 1168 Liter je Quadratmeter aus.

- Am 29. Juli 1897 gingen, beim bisher

stärksten Wolkenbruch in Deutschland, über Neuwiese im Riesengebirge 345 Liter Regen je Quadratmeter nieder.

Solchen Sintfluten gegenüber nehmen sich die Wolkenbrüche im Katastrophengebiet von Paderborn scheinbar harmlos aus. Und doch waren sie die verheerendsten, die je in der Bundesrepublik niedergingen:

Auf das etwa 2500 Quadratkilometer große Katastrophen-Gebiet, das nach wochenlangem Regen kein Wasser mehr aufsaugen konnte, donnerten innerhalb von 24 Stunden rund 150 Millionen Tonnen Wasser nieder. Es war, als hätten 1600 Tanker von der Größe des deutschen Flaggschiffs »Esso Deutschland« (90 000 Tonnen) ihre Tanks bei Paderborn auf einen Schlag geleert.

Überschwemmte Dorfstraße in Nordhessen: Sturzflut aus dem Sack

Zur Ausgabe
Artikel 29 / 76
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten