GOMULKA-BESUCH Geborgter Glanz
Kein Staatsgast Walter Ulbrichts außer Nikita Chruschtschow war bislang ähnlich heftigen Ausbrüchen sozialistischer Bruderliebe ausgesetzt wie Polens Parteichef Wladyslaw Gomulka und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz: Die Liebesfeier dauerte fünf Tage.
Sie begann am Montag voriger Woche um 10.03 Uhr mit halbstündiger Verspätung im Berliner Ostbahnhof. Kaum war der Sonderzug am Bahnsteig ausgerollt, als Gastgeber Ulbricht bereits seinen Sinn für Tradition bewies: Er wetzte seinen Bart zum altrussischen Bruderkuß an polnischen Wangen und ließ hernach zu den Klängen eines markigen Parademarsches die Ehrenkompanie der Volksarmee im Stechschritt vor den Gästen aufmarschieren.
Bis zur Abschiedsansprache Gomulkas vor der DDR-Volkskammer in Ostberlins Luisenstraße am letzten Freitag bereiteten die beiden Polen mit Beteuerungen, wie aufrichtig sie der SED und deren Politik zugetan seien, dem DDR-Aufseher Ulbricht eine immer neue Freude: Endlich konnte er, der verhaßte Musterschüler Stalins, sich vor seinen Untertanen im Wohlwollen und Glorienschein des antistalinistischen Widerständlers Gomulka sonnen.
Die Polenführer hatten sich freilich erst nach monatelangem Drängen Ostberlins zu diesem Ausflug entschlossen, weil Nikita Chruschtschow fand, der gute internationale Klang des Namens Gomulka könne eben jetzt dem dürftigen Ansehen der DDR in der Welt und den Zielen der sowjetischen Deutschlandpolitik dienlich sein.
Polens Partei und Regierung willigten ein, ließen Walter Ulbricht jedoch wissen, sie erwarteten als angemessene Gegenleistung für ihre guten Propagandadienste eine Verbesserung der seit Jahren dahinsiechenden Wirtschaftsbeziehungen. Warschau verfolgt diese Entwicklung vor allem deshalb mit Besorgnis, weil die DDR nach der Sowjet -Union wichtigster Handelspartner Polens im Ostblock ist.
Nach Angaben der Warschauer Wochenzeitung »Polityka« nahm der DDR-Import polnischer Waren - vorwiegend Agrarerzeugnisse - zwischen 1960 und 1961 von 498 auf 438 Millionen Devisen-Zloty ab. Zugleich geriet die DDR mit der Lieferung fest zugesagter technischer Ausrüstungen nach Polen immer mehr in Verzug, während der Warenaustausch der DDR mit der Sowjet-Union ständig zunahm.
Die Verstärkung der Handelsbeziehungen zwischen Sowjet-Union und Sowjetzone konnte Warschau nicht verborgen bleiben: In den letzten vier Jahren erhöhten sich die Gebühren, die Ostberlin für den Transitverkehr an Polen zu zahlen hat, von 208 auf 376 Millionen Devisen-Zloty.
Den polnischen Planern fiel es nicht schwer, die Ursachen der Flaute zu erkennen. Sie entdeckten, daß die Liefer- und Importfähigkeit der DDR im Handel mit den übrigen Ostblockländern im gleichen Umfang abnahm, wie sich die in Pankow und Moskau propagierte »enge Wirtschaftsgemeinschaft« zwischen Sowjet-Union und Sowjetzone fortentwickelte.
Bereits im Dezember 1961 protestierten die Polen deshalb unter tschechischer Assistenz beim »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« gegen die Tendenz der »engen Wirtschaftsgemeinschaft«, ihre Handelsverbindungen auf Kosten der übrigen Ostblockpartner auszubauen.
Die polnische Delegation argumentierte, daß Warschau beispielsweise überschüssige Agrarprodukte lieber in der DDR als im kapitalistischen Ausland gegen Werkzeugmaschinen und andere Ausrüstungsgüter eintauschen würde.
Von den Vertretern der Sowjet-Union kam daraufhin ein Kompromißvorschlag, der auf der Plenartagung des Rats im Juni angenommen wurde: Nach dem Vorbild der »engen Wirtschaftsgemeinschaft« sollen die Mitgliedstaaten untereinander bilaterale Vereinbarungen mit dem Ziel treffen, einseitige Abmachungen zum Nachteil anderer künftig auszuschließen.
Bei den Vorbesprechungen für die Staatsvisite von den Polen an diese Devise erinnert, erklärte sich Walter Ulbricht verhandlungsbereit. Eine Woche vor der Gomulka-Reise nach Ostberlin schickte er seinen Oberplaner Bruno Leuschner mit dem Auftrag nach Warschau, dort Besserung zu geloben.
Leuschner zeigte sich nicht kleinlich. Er versprach den polnischen Genossen - höheren Warenaustausch in den Jahren 1963 bis 1965,
- bessere Zusammenarbeit im Berg- und Hüttenwesen, im Maschinenbau und in der elektronischen Industrie,
- die Planung von fünf deutsch-polnischen Chemie-Werken,
- gemeinsame Aufstellung und Verwirklichung von Entwicklungsplänen für die Grenzbezirke sowie
- Kooperation der Werften und Häfen.
Bescheiden nannte Bruno Leuschner beim Abschluß der Verhandlungen diesen Katalog »einen Anfang«. Mehr als das freilich wollten seine polnischen Gesprächspartner darin auch nicht sehen: Schon unmittelbar nach der Ankunft Gomulkas in Ostberlin begann sein Gefolge abseits der öffentlichen Verbrüderungsschau die Wirtschafts -Apparatschiks der SED zu weitergehenden Zugeständnissen zu drängen.
Die Polen schlugen unter anderem vor, die Konsumgüterproduktion auf den Gebieten Konfektion, Galanteriewaren, Schuhe, Möbel, Radios, Fernsehgeräte, Waschmaschinen und Fahrräder künftig zu koordinieren. Der für die neu angekurbelte deutsch-polnische Zusammenarbeit notwendige Investitionsbedarf, so ließen die Warschauer Emissäre durchblicken, werde allerdings zum größten Teil von der DDR aufgebracht werden müssen.
Vor der DDR-Volkskammer ließ Gomulka denn auch den wahren Grund seines Staatsausflugs erkennen: Er benutzte die Hälfte seiner Redezeit, um verbesserte Handelsbeziehungen zwischen Polen und Ostdeutschland zu fordern.
Walter Ulbricht hat sich inzwischen damit abgefunden, daß ihn Gomulkas Hilfe beim Drängeln der DDR nach weltweiter Reputation, Separatfrieden und Freier Stadt Westberlin nicht eben billig kommt. Vorsorglich ließ er schon jetzt die Delegierten des zum Januar einberufenen SED-Parteitags auf den Preis hinweisen.
Ulbricht in dem Bericht des Zentralkomitees an den Parteitag: »Wir müssen jetzt größere Mittel als bisher... für die Vorbereitung des Friedenvertrags aufwenden.«
Gastgeber Ulbricht (l.), Staatsbesucher Gomulka (r.): Liebesfest mit Vorbehalten