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MUSIK / HINDEMITH Gebt mir mal 'ne Bratsche

aus DER SPIEGEL 24/1950

(s. Titel)

Die Kurmusik von Baden-Baden hatte heiße Tage. Kurgast Paul Hindemith, New Haven, Connecticut, zur Zeit auf musikalischer Europareise, zeigte sich eine Woche lang täglich auf der Kurpromenade, vergnügt. »Es ist fast wieder wie früher«, fand er und meinte damit nicht nur die Kurmusik.

Vor 20 Monaten, beim ersten Deutschlandbesuch nach 15 Jahren, war er noch sehr anderer Meinung Als französische Zonen-Hauptstadt machte Baden-Baden damals eine höchst unvorteilhafte Figur. Jetzt kann das badische Klein-Paris auch einen Neu-Amerikaner von der nachkriegsdeutschen Prosperity überzeugen.

Hindemith kam aus Berlin, wo er in Musiktheorie geschult, die Philharmoniker dirigiert und mit Konzertmeister Siegfried Borries Mozarts Concertante gespielt hatte. Der Solist Hindemith erbratschte der neuaufzubauenden Philharmonie eine runde Summe.

Auch in Baden-Baden beließ er es nicht beim Anhören der Kurmusik. »Musik machen ist besser als Musik hören,« hatte er schon 1929 sein »Lehrstück« überschrieben. Diese Gemeinschaftsarbeit mit Bert Brecht entfesselte damals einen unerhörten Skandal, der Hindemith die Möglichkeit nahm, weiter in Baden Baden Musik zu machen. Jetzt tat er es wieder.

In einem Sonderkonzert des Südwestfunk-Orchesters dirigierte er ausschließlich eigene Werke, dreiviertel davon nagelneu. Im Oktoberkonzert 1948 hatte ihm Englands Meisterhornist Dennis Brain, so blutjung wie bescheiden, Mozarts Hornkonzert so sehr zu Danke geblasen, daß Hindemith, begeistert, ein eigenes Konzertstück für ihn schrieb. In Baden-Baden blies Brain es zum erstenmal.

Das ist ein gewohnt dreisätziges, für Hindemith ungewohnt lyrisches Stück. Der Solist hatte reichlich Gelegenheit, seinen unwirklich weichen Hornton in blühender Kantilene zu beweisen.

Charakteristisch für das Ganze ist ein Satzteil »Deklamation« in dem der Solist blasend ein Gedicht aufsagt. Die an das Verständnis allerhand Ansprüche stellenden Verszeilen im Programm ohne Verfasser abgedruckt, sind im Hause Hindemith entstanden Ehemals galten gedichtete Deutungen eines Tonstücks als Merkmal musikalischer Romantik.

Dafür griff Hindemith in den übrigen Novitäten auf andere Zeiten der Musikgeschichte zurück. In dem Konzert für Holzbläser, Harfe und Orchester, in Europa bis dahin noch ungespielt läßt er, wie ehemals Händel Groß- und Kleinorchester miteinander musizieren. Und auch in der Sinfonietta in E, auf deutschen Podien bislang unbekannt, lösen sich einzelne Orchestergruppen solistisch ab.

Noch ein anderes Stilmittel der Alten greift Hindemith auf. Im beschließenden Rondo des Holzbläserstücks bringt die Klarinette plötzlich ganz ungeniert eine allbekannte Weise, den Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns Musik zum »Sommernachtstraum«.

Diese Praxis des musikalischen Zitats wurde besonders im musikalischen Barock, so noch von Bach, gern geübt. In dieser Hoch-Zeit der Musik war ein glücklicher musikalischer Gedanke ein allgemeiner Anlaß zum Musikmachen, Aufnahme fremder Einfälle fiel nicht unter das damals noch nicht geschriebene Kapitel Urheberrechtsschutz. Und auch Hindemith, der dieses Parodieverfahren oft aufgriff, dachte sich nie etwas dabei.

Im ersten Bratschenkonzert von 1927 parodiert er im Schlußsatz den Bayerischen Defiliermarsch. Der zweite Satz der 1946 entstandenen Sinfonie serena bringt eine »Paraphrase über den Geschwindmarsch von Beethoven«, die »Symphonischen Metamorphosen« sind Verwandlungen Weberscher Themen.

Der Anlaß ist meist reinmusikalisch, Freude an der Variation. Nur bei dem Mendelssohn-Zitat lag er ursprünglich außerhalb: Hindemith fügte den Hochzeitsmarsch ein, um seine Frau damit zu erfreuen. Sie feierten gerade Silberhochzeit.

Dieses Konzertstück ist eine Gelegenheitsarbeit, eine Auftragsmusik für die von Eisenhower präsidierte Columbia-Universität. Hindemith, heute Professor an der Yale-Universität von New Haven, ist mit musikalischen Aufträgen aller Art reich bedacht.

Solche Gelegenheitswerke kennzeichnen den Komponisten. Hindemith, klein und beleibt, mit schütterem Haarkranz um den mächtigen Glatzkopf, steht sehr sichtbar mit beiden Beinen fest auf der Erde.

Komponieren ist für ihn nicht ein esoterischer Vorgang, und vom Geheimnis des »Schöpferischen« will er nicht viel wisssen. Musik machen ist für ihn vor allem anderen erst einmal ein Handwerk Und ein Musikstück ist nicht dazu da, in der Schublade aufgehoben, sondern aufgeführt zu werden.

Von diesem Endzweck aller Musik, die für ihn nicht Philosophie in Tönen, sondern klingende Materie ist, sprach Paul Hindemith vor anderthalb Jahren im studentenvollen Treppenhaus der Freiburger Musikhochschule. Er sprach von seiner Grundabsicht, die Musik wieder unmittelbar mit dem Leben und daher mit dem Hörer zu verbinden.

Ich muß das Material, so sagte er, anders behandeln, wenn ich mich an zehntausend Hörer wende, als wenn ich eine Kammermusik für nur dreihundert Zuhörer schreibe. Jedes Musikstück muß von seiner jeweiligen Zweckbestimmung her Form und Klanggestalt gewinnen. »Sonst verlieren wir unsere Kundschaft.«

An Kundschaft hat es Hindemith kaum jemals gefehlt. Zwei Beispiele für musikalische Maßarbeit umrahmten das Baden-Badener Programm. 1931 schrieb Hindemith für den bekannten Dirigenten Serge Kussewitzky und sein damals jubilierendes Bostoner Symphonieorchester eine Konzertmusik, die alle Qualitäten dieses wohl weltbesten Klangkörpers glanzvoll herausstellt.

Auch die viersätzige Sinfonietta in E entstand im Auftrag eines Orchesters. Das nur an allerdings absoluten Spitzenorchestern reiche Amerika läßt langsam seine Orchesterkultur in die Breite wachsen. Kleinere Musikgesellschaften entwickeln oft eine beachtliche Aktivität.

Die Philharmonische Gesellschaft von Louisville im Staate Kentucky zum Beispiel vergibt alljährlich Kompositionsaufträge an bekannte zeitgenössische Musiker. Darunter waren zuletzt Darius Milhaud (siehe SPIEGEL Nr. 19/50) und nun eben Paul Hindemith.

Diese Sinfonietta verrät eine staunenswerte Materialkenntnis. Die vier Sätze klingen virtuos und sind doch auch für ein weniger leistungsstarkes Orchester spielbar. Es ist die Maßarbeit eines Musikers, der selbst alle Orchesterinstrumente spielt. »Der Komponist muß selbst der beste Musiker sein.«

Die Mitglieder des Südwestfunkorchesters wurden vor ehrfürchtigem Staunen stumm, wenn Hindemith ihnen in der Probe, im blauweißgestreiften Trikot, mit »frankforter« Zungenschlag plus Yankee-Akzent, instrumentalkundige Tricks beibrachte, der Harfenistin den Fingeransatz verbesserte, den Bläsern die Grifftechnik einer besonders heiklen Stelle erklärte.

Dabei ist Hindemith von Haus aus Streicher. Als Dreizehnjähriger war er ein fertiger Geiger. Mit zwanzig Jahren bereits saß er als Konzertmeister im Frankfurter Opernorchester.

Ans erste Geigenpult war er auf allerhand Umwegen gekommen. Dem Sohn einer schlesischen Handwerkerfamilie, die nach Hanau übersiedelt war, lag das Musikantische im Blut. Schon vor seiner Studienzeit in Frankfurt und Darmstadt spielte er im Kino und im Kaffeehaus, in der Operettenschmiere und in der Jazzband.

Als Soldat schlägt Hindemith in einer Militärmusikkapelle vorübergehend die Pauke. Später vertauscht er die Geige mit der Bratsche. Sie wird und bleibt sein Lieblingsinstrument, auch wenn er später fast alle Orchesterinstrumente beherrscht.

Von früh an hat der Musiker Hindemith komponiert. 1922 schreibt er in einer Kurzbiographie von sich selbst: »Als Komponist habe ich meist Stücke geschrieben, die mir nicht mehr gefallen: Kammermusik in den verschiedensten Besetzungen, Lieder und Klaviersachen. Auch drei einaktige Opern, die wahrscheinlich die einzigen bleiben werden, da infolge der fortwährenden Preissteigerung auf dem Notenpapiermarkt nur noch kleine Partituren geschrieben werden können ...«

Diese düstere Vorhersage traf zwar nicht ein, aber die frühen Einakter blieben doch einzig in ihrer Art. Es war musikalischer Expressionismus, diese Musik zu »Nusch-Nuschi«, einem »Spiel für burmanische Marionetten« von Franz Blei, und zu zwei tragischen Stücken von Kokoschka und August Stramm: »Mörder, Hoffnung der Frauen« und »Sancta Susanna«.

Das war, was die Musik anbetrifft, frischer Wind: das Musikdrama wurde von allem Stimmenschnörkel und naturalistischem Instrumentalunfug befreit. Es war aggressive Musik, parodiefroh bis zur Frechheit: das »Nusch-Nuschi« parodiert im 3. Akt den »Tristan«, und vollends ein Bürgerschreck ist die von Eunuchen exekutierte »Choralfuge mit allem Komfort, die ihre Existenz einem unglücklichen Zufall verdankt: sie fiel dem Komponisten ein«.

Die Stuttgarter Uraufführung, 1921 unter Fritz Busch, brachte einen Skandal, den Namen des Komponisten aber immerhin unter die Leute. Den Rest besorgte Donaueschingen.

Seit dem Sommer 1921 fanden hier alljährlich Kammermusikfeste statt, bei denen fast regelmäßig ein Werk Hindemiths zur Uraufführung kam. Hauptbeteiligt war dabei jedesmal das Amar-Quartett, dem Hindemith als Bratscher angehörte.

Er hatte 1923 das Orchesterpult verlassen und sein eigenes Quartett gegründet, mit dem er reiste, wenn er nicht schrieb. Er heiratete um diese Zeit eine Tochter des Kapellmeisters der Frankfurter Oper, Rottenberg, und bezog am Sachsenhäuser Ufer in Frankfurt den noch aus der Deutschherrenzeit stammenden Kuhhirtenturm.

Später übersiedelten die Donaueschinger Feste nach Baden-Baden. Hindemith-Biograph Heinrich Strobel, heute Musikchef am Baden-Badener Südwestfunk, begeistert sich, wenn er von jenen Jahren spricht: »Was wurde da nicht alles ausprobiert! Filmmusik, mechanische Musik, Kurzoper, funkeigene Musik, Jugendmusik, Gemeinschaftsmusik: alles wurde aufgegriffen, alles wurde untersucht. Und stets war Hindemith der Anreger, der eifrigste Mitarbeiter.«

Das Schaffen der frühen zwanziger Jahre umfaßt vornehmlich Kammermusik. Den Sturm und Drang dieser Periode kennzeichnen am treffendsten die Vortragsbezeichnungen.

»Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache« steht über dem 4. Satz der Bratschensonate von 1923, und über den letzten Tanz der »Klaviersuite 1922« setzt Hindemith die Anweisung: »Nimm keine Rücksichten auf das, was Du in der Klavierstunde gelernt hast. Ueberlege nicht lange, ob Du 'Dis' mit dem vierten oder sechsten Finger anschlagen mußt.

»Spiele dieses Stück sehr wild, aber stets sehr stramm im Rhythmus, wie eine Maschine. Betrachte hier das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend.«

Trotzdem ist dieses jazzfreche Stück nach dem Vorbild der Alten gearbeitet. Wie die Musiker des Barock so fügt Hindemith hier Modetänze seiner Zeit zur Suite zusammen: Zirkusmarsch und Shimmy, Boston und Ragtime.

Kaum glaublich, daß dicht darauf ein schon klassisch gewordenes Werk der Neuen Musik folgt, »Das Marienleben« nach Rainer Maria Rilke. Hindemith hat diesen Liederzyklus 25 Jahre später neu gefaßt, er hat die Gesangslinie geglättet, den Klavierpart harmonisch enthärtet und alles auf leichtere Ausführbarkeit abgestellt. Dieses »Resultat fortgesetzten Ausprobierens und Verbesserns« bestätigt Hindemith nur, nicht als den isolierten Aesthetiker sondern als den Mann der musikalischen Praxis.

Der war und ist er auch als Theoretiker und Lehrer. Seit 1927 war Hindemith Professor an der Berliner Musikhochschule. Hier hat er eine ganze Generation von Mukern entscheidend beeinflußt.

Hindemiths Unterricht war alles andere als professoral. Er saß meistens mitten unter seinen Schülern, er unterhielt sich mit ihnen auf gut »Frankforterisch« und war niemals aus der Ruhe zu bringen.

Am Ende jeder Stunde wurden die Aufgaben der Schüler von rasch herbeigeholten Instrumentalisten durchgespielt. Hindemith war väterlich besorgt um die Instrumentalkenntnis seiner Schüler. In einem »Räuberorchester« mußten sie alle sechs Wochen ein anderes Instrument traktieren.

Dem praktischen Sinn Hindemiths war es ärgerlich, daß die reichen Bestände der staatlichen Instrumentensammlung tot und unbenutzt hinter Glas lagen. Er ging mit seinen Schülern ins Museum, er strich und blies die alten Fiedeln und Zinken selbst an, und er fertigte für jedes Instrument eine eigene Grifftabelle.

Die unvermutet aus dem Museumsschlaf gerissenen Musikwerkzeuge gaben nicht immer ganz gutwillig noch einen Ton von sich. Doch Hindemith ließ sich nicht leicht entmutigen. Bei einem besonders schwer ansprechenden uralten Krummhorn steckte er seine Bemühungen erst auf, als ihm anscheinend ein Aederchen im Hals geplatzt war und er, mit blau angelaufenem Gesicht, erschrocken glaubte, ein Halswirbel sei entzwei.

Hindemith machte mit seiner Klasse oft Ausflüge. Meist wurde ein großer Braten, den er selber mitzubringen pflegte, am Spieß gebraten, während seine Schüler außer den obligaten Stullen jeder einen Kanon zum Singen beizusteuern hatte. Es wurde auf diesen Exkursionen mit Musik wettgeschwommen und Kopfstand geübt und auf der Heimfahrt heftig geschwiegen. Hindemith pflegte in der Bahn zu arbeiten.

Seine Konzentrationsfähigkeit war erstaunlich. Eine spät bestellte Festmusik schrieb Hindemith einmal in allerletzter Stunde gleich stimmenweise in die Matrizen zur Vervielfältigung. Eine Partitur existierte überhaupt nicht, er dirigierte auswendig, er hatte den Fahrplan im Kopf.

Auch buchstäblich. Seine Schüler brauchten zur Heimfahrt nie das Kursbuch zu wälzen. Hindemith kannte den europäischen Zugverkehr auswendig.

Seine große Liebe war früher die Heimeisenbahn. Er besaß in Berlin 300 Meter Schienen und die raffiniertesten Bahnen mit Fernweichen und Signalen.

An Spieltagen wurde einen Vormittag lang durch drei Zimmer hindurch die Anlage aufgebaut. Der Spielbetrieb lief genau nach Fahrplan und Stoppuhr und stellte erhebliche Anforderungen an alle Mitwirkenden. Morgens bettelten sie dann oft bleich und erschöpft bei Frau Hindemith um einen Schnaps.

Hindemiths Interesse für alles Mechanische, überhaupt für alles Neue und Unerprobte, war riesengroß. Für das von Prof. Trautwein an der Musikhochschule entwickelte elektroakustische Instrument »Trautonium« (siehe SPIEGEL Nr. 21/48) schrieb er 1931 als einer der ersten ein eigenes Stück. Er schrieb Musik für mechanische Instrumente, 1927 die Musik zu dem Film »Felix der Kater« für mechanische Orgel.

In diesen Jahren kam Hindemith in Berührung mit der musikalischen Jugendbewegung, der Volksmusikreform des Zupfgeigenhansl und der Musikantengilde. Beiträge moderner Schul- und Gemeinschaftsmusik, gleichzeitig glänzende Führer zur Neuen Musik, sind das »Schulwerk für Instrumental-Zusammenspiel«, die »Sing- und Spielmusiken für Liebhaber und Musikfreunde«, die Kinderoper »Wir bauen eine Stadt«, endlich und vor allem: der »Plöner Musiktag«.

Bei einem Konzert in Kiel lernte Hindemith 1932 den Musik-Studienrat Edgar Rabsch kennen. Er hatte an seinem Real-Gymnasium in Plön mit Hilfe eines kunstfreudigen Direktors so etwas wie eine musikalische Musterschule aufgebaut, in der jede Klasse ihr eigenes Orchester hatte.

Als Hindemith an einem Januartag mit dem Auto dort ankam, übte man gerade Glucks »Iphigenie in Aulis«. Hindemith war begeistert. »Kinder, habt ihr noch 'ne Bratsche?« Und der Berliner Professor fiedelte mit den Gymnasiasten, selig.

Im Juni kam er wieder, eine Aktentasche voll Notenblätter, eigens für Plön geschrieben. Zwei Tage lang wurde geübt, am dritten stieg das große Fest, der »Plöner Musiktag«. Es gab Uraufführungen zu jeder Tageszeit, Morgen-, Tisch- und Abendmusiken, darunter die vierteilige Kantate »Mahnung an die Jugend, sich der Musik zu befleißigen«. Am Abend waren »alle Teilnehmer zwar erschöpft, aber voll Freude über das gute Gelingen.«

Jetzt in Baden-Baden erreichte Hindemith eine ähnliche Einladung. Studenten aus Marburg luden Hindemith ein, mit ihnen sein 1946 geschriebenes »Requiem für die, die wir lieben« nach Texten von Walt Whitman aufzuführen. Hindemith sagte sofort begeistert zu, ungeachtet dessen, daß der Termin des Konzertes nach dem 10. September, dem vorgesehenen Abfahrtstag von Europa lag. Er machte sofort die Passage rückgängig und buchte Plätze für die Ueberfahrt am 20. 9.

Vorher wird Hindemith beim Bachfest in Wien mitwirken er wird einen Sommerkurs am Salzburger Morzarteum abhalten und die Schweiz besuchen. Und er wird wahrscheinlich dann und wann einmal an einer angefangenen Partitur weiterarbeiten, die über den amerikanischen Aufträgen immer etwas zu kurz kam.

Es ist eine neue Oper, der Stoft beschäftigt ihn schon über zwei Jahrzehnte. Johannes Kepler steht im Mittelpunkt.

Mathis der Maler, genannt Grünewald, der Meister des Isenheimer Altars, war die Hauptgestalt seiner letzten Oper. Es ist ein Bekenntniswerk, der Komponist gibt sich darin selbst Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Künstlerdaseins. Die Antwort ist eine Absage an allen Kollektivismus: nur als freie Persönlichkeit kann der Künstler seinem Volke dienen.

Musikalisch bedeutet der Mathis ein Mittelstück in Hindemiths Schaffen, der Form nach ein nachromantisch ausladendes Musikdrama. »Nie wieder schreibe ich eine vierstündige Oper«, stöhnte Hindemith, als er bei seinem ersten Besuch in Deutschland nach der Mathis-Aufführung bei Hundstagshitze aus der Frankfurter Behelfsoper kam.

Auch erprobte Hindemith-Freunde spielen gern die frühen Opern Hindemiths gegen das Spätwerk aus. Dazu gehört die Lustige Oper »Neues vom Tage«, eine Parodie auf die lärmende Aktualitätensucht seiner Zeit, mit einer viel mokierten Szene der schönen Laura im Bade, mit Tristan-Parodie und einer Arie über die Vorzüge der Warmwasserversorgung.

Dazu gehört vor allem die E. Th. A. Hoffmann-Oper »Cardillac«, wo, wie in »Neues vom Tage«, alles Bühnengeschehen in geschlossene musikalische Formen abgeleitet und ausstilisiert ist. Aber »Mathis der Maler« bleibt Hindemiths persönlichstes Bekenntnis.

An die Aufführung der »Mathis«-Symphonie knüpfte sich 1934 Furtwänglers öffentliches Eintreten für den schon verfemten Hindemith und sein Rücktritt. Frankfurt mußte die bereits begonnenen Proben abbrechen, die Oper kam in der Schweiz heraus. Hindemith ging aus dem Lande.

Arbeitsfrucht der folgenden Schweigejahre ist das große Kompendium seiner Musiktheorie, die »Unterweisung im Tonsatz«. Sie gibt eine umfassende Neuordnung des tönenden Materials, eine neue Logik der Klangverbindung, eine Erweiterung und Neufestsetzung der Tonalität.

Die »Unterweisung« war nicht zuletzt Hindemiths Probe aufs Exempel. Sie zog nur die Summe seines bis dahin geleisteten Schaffens. An dieser neuen Musiklehre war, als sie geschrieben wurde, im Grunde nichts mehr neu, es stand alles bereits in seinen Partituren.

Auch das Schaffen der letzten Zeit ist noch immer Erprobung und Bewährung der Methode. Aus einer Fülle von Formen fällt der »Ludus tonalis« heraus. Dieses Klavierwerk ist eine umfassende Fugensammlung, die nur ein Beispiel in der Musikgeschichte hat: Bachs Wohltemperiertes Klavier.

Wenn irgendwo, dann erweist sich hier Hindemiths Stellung in der musikalischen Moderne. Er ist ein Nachfahre Bachs, Träger der großen deutschen Kantorentradition. Er nennt sich selbst gern einen »Schulmeister«. Aber er spricht fast nie über sich.

Bekannt ist ein Kaffeehausgespräch mit einem Schüler aus seiner Berliner Hochschulzeit. »Machen Sie nie etwas mit Ekstase?« fragte sein Gesprächspartner, und Hindemith wehrte erschrocken ab. »Ich denke nicht daran.«

Sein Gegenüber: »Das sagen Sie so. Aber wer Sie genau anschaut, wenn Sie Bratsche spielen, weiß, daß es nicht stimmt.« Und nach einer Pause, da Hindemith schwieg: »Ich habe mich früher auch geschämt, zuzugeben, daß ich romantisch bin.«

Und Hindemith, zögernd und gleich darauf, wie erschrocken über sein Bekenntnis, das Thema wechselnd: »Sehen Sie, im Grunde bin ich auch romantisch.«

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