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USA / KENNEDY Gefährdeter Sieg

aus DER SPIEGEL 50/1960

Während sich die führenden Politiker der Welt bemühen, mit Amerikas neugewähltem Präsidenten John Fitzgerald Kennedy ins Gespräch zu kommen, verdoppeln die Republikaner ihre verzweifelten Anstrengungen, Nixons Niederlage im Kampf um die Präsidentschaft wettzumachen und die Kür des Wahlsiegers Kennedy zum Präsidenten zu verhindern.

»Zum erstenmal beginnt Kennedy, sich wegen der Dürftigkeit seines Sieges Sorgen zu machen«, schrieb das einflußreiche amerikanische Nachrichtenmagazin »Newsweek«, während der britische »Guardian«-Korrespondent Alistair Cooke aus New York zu berichten wußte, es bestehe »die echte Möglichkeit, daß Kennedy nicht zu den berühmten 34 Männern gehören wird, die Präsidenten der USA wurden.«

Witzelte Cooke: »Wenn die Hölle in Illinois und New Jersey oder sogar in Louisiana ausbricht, dann werden wir möglicherweise sogar unsere Bekanntschaft mit - wie hieß er noch gleich? - Richard M. Nixon erneuern müssen.«

Daß die republikanischen Verlierer überhaupt ernstlich hoffen dürfen, ihren Kandidaten Nixon über eine Hintertreppe doch noch ins Weiße Haus zu schmuggeln, hängt mit dem knappen Stimmenvorsprung Kennedys und vor allem mit den Vertracktheiten des amerikanischen Wahlsystems zusammen.

Fragte Kolumnist David Lawrence: »Hat das amerikanische Volk überhaupt die leiseste Ahnung, was es mit seiner Entscheidung angerichtet hat?«

Zwar konnte Demokrat Kennedy mit 34 054 059 Stimmen über 197 000 Wahlzettel mehr einheimsen als Nixon und damit 49,7 Prozent der abgegebenen Stimmen erringen, dennoch wird erst am 19. Dezember die letzte Entscheidung über den nächsten US-Präsidenten fallen. Denn das amerikanische Staatsoberhaupt wird nicht direkt vom Volk gewählt, sondern durch ein Wahlmänner-Kollegium, das an jenem Dezembertag zusammentritt.

Das Wahlmänner-Kollegium ist ein Relikt aus der Zeit amerikanischer Verfassungsväter, die der Meinung waren, der Präsident dürfe nur von einer Elite der Nation bestimmt werden. Die aristokratisch gesinnten Liberalen des 18. Jahrhunderts schalteten denn auch bei der Wahl des Staatsoberhaupts das Volk völlig aus; es blieb den Parlamenten der Einzelstaaten, vorbehalten, die Wahlmänner (Elektoren) zu bestimmen.

Erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts wurde das Elektoren-System demokratisiert: Die Entsendung der Elektoren zur Wahl eines neuen Präsidenten richtete sich fortan nicht mehr nach dem Willen der Staatsparlamente, sondern nach den Wählern, deren Willen allerdings kanalisiert wurde: Wer von den beiden großen Parteien bei der Präsidentenwahl die Mehrheit, und mochte sie noch so gering sein, in einem Staate eroberte, der besaß auch sämtliche Elektoren, die der Staat in das Wahlmänner-Kollegium entsandte.

Bald zeigte sich freilich, daß dieses Wahlsystem zwei Fehler enthielt:

- Das Prinzip »Der Sieger bekommt alles« benachteiligt die Gegenpartei und gibt kein genaues Bild vom wahren Kräfteverhältnis im ganzen Lande.

- Andererseits sind die Elektoren nicht in allen Staaten verpflichtet, den Präsidentschaftskandidaten der in ihrem Staate siegreichen Partei zu wählen*.

Die Ohnmacht des Wahlmänner-Kollegiums aber erwies sich stets dann, wenn eine Präsidentenwahl knapp ausgegangen war. Als der Demokrat Jackson im Wahlkampf von 1824 die meisten Stimmen erhielt, jedoch keine Mehrheit unter den Elektoren erobern konnte, schaltete sich - wie in der Verfassung vorgesehen - das Repräsentantenhaus ein und wählte den Hauptrivalen Jacksons, John Quincy Adams, zum Präsidenten.

Ein halbes Jahrhundert später sah sich das Kollegium

abermals lahmgelegt: Der Demokrat Tilden hatte zwar über den Republikaner Rutherford B. Hayes gesiegt, doch führten gegenseitige Vorwürfe wegen Wahlbetrügereien zu einer Untersuchung.

Erst nach einer republikanischen Kriegslist - ein demokratisches Mitglied der vom Kongreß angesetzten Untersuchungskommission wurde durch einen Republikaner abgelöst - verlagerte Verlierer Hayes den Kampf wieder in das Wahlmänner-Kollegium. Das Unwahrscheinliche wurde Ende 1876 Ereignis: Mit einer Mehrheit von einer Stimme entschieden sich die Elektoren für den republikanischen Verlierer.

Eine ähnliche Konstellation aber streben nun auch die republikanischen Verlierer des Jahres 1960 an, die John Kennedys Inauguration verhindern wollen.

Obwohl Kennedy über 300 Elektoren-Stimmen verfügt und damit eine sichere Mehrheit in dem 537-Mann-Gremium besitzt, rechnen sich die republikanischen Parteistrategen eine Chance aus, im Elektoren-Kollegium die Wahl Kennedys zu blockieren und die Entscheidung über den neuen Präsidenten in den amerikanischen Kongreß zu verlagern. Im Kongreß aber haben schon oft die konservativen Südstaaten-Demokraten mit den Republikanern kollaboriert.

Bereits drei Tage nach der Wahl prellten republikanische Führer mit der Ankündigung vor, die Partei werde in den Staaten mit den schmalsten Kennedy-Mehrheiten Nachzählungen der Wahlzettel beantragen und außerdem zahlreiche Wahlschwindeleien untersuchen lassen. Frohlockte Republikaner Bill Rentschler: »Wenn man fair nachzählt, wird Nixon im Januar inauguriert werden.«

Den Schwerpunkt ihres Nachhutkampfes legten die Republikaner auf den Mittelwesten-Staat Illinois, in dem Kennedy nur 8220 Stimmen mehr als Nixon erhalten hatte. Offensichtlich war es hier zu gewissen Wahlschiebungen gekommen, was sich auch durch die Hast bestätigte, mit der die Auszählung der Illinois-Stimmen abgeschlossen wurde. Die Republikaner erhoben-prompt beim Generalstaatsanwalt der Heimat Lincolns Klage wegen »Fälschungen en gros«.

»Wir haben Beweismaterial von Bürgern gesammelt, die ihres Wahlrechts beraubt wurden«, erläuterte Bundesanwalt Tieken und zählte als Tricks auf: »Gespenster-Wähler auf Registrierlisten ... Personen, die in nichtexistierenden Häusern gemeldet waren... Wähler, die für die Abgabe ihres Stimmzettels bezahlt wurden«. In einem Chicagoer Stimmbezirk wurden 84 Stimmen abgegeben, obwohl nur 22 Bürger wahlberechtigt sind.

»Es ist wahr«, urteilte die Londoner »Times« darauf, »daß in einigen Gebieten in einer Weise abgestimmt wurde, die einer Wahl, in der es um den Führer der freien Welt geht, unwürdig ist.«

Auch andere Beobachter rechnen damit, daß die Republikaner in Illinois die größten Chancen haben, eine Änderung des Wahlergebnisses zu erzwingen. Schön ein Wechsel der 27 Illinois-Elektoren in das Lager Nixons könnte den präsidialen Erwartungen Kennedys gefährlich werden: Die demokratische 300-Mann-Mehrheit im Wahlmänner-Kollegium würde auf 273 Stimmen herabsinken.

Da Kennedy dann immer noch über vier Stimmen mehr für seine Wahl verfügen würde, als rein rechnerisch (269) erforderlich wären, brauchte er den Verlust von Illinois nicht zu fürchten, wenn er aller demokratischen Elektoren sicher wäre. Aber gerade den Wankelmütigen unter den Kennedy-Elektoren gilt das republikanische Manöver: Die konservativen Südstaatler, denen der Liberale Kennedy mit seinem negerfreundlichen Programm mißfällt, sollen zur Rebellion aufgestachelt werden.

Solcher Aufforderungen bedarf es freilich nicht, denn die Elektoren von Mississippi (acht Stimmen) und Alabama (sechs Stimmen) neigen ohnehin dazu, Kennedy nicht zu wählen. Aus Louisiana, in dessen Hauptstadt New Orleans ein heftiger Rassenstreit tobt, erklang ebenfalls die Drohung, man werde die zehn Kennedy-Elektoren zurückziehen.

Ein Aufstand der Südstaatler würde Kennedys Hoffnungen im Wahlmänner-Kollegium zunichte machen und die Präsidentschafts-Frage dorthin verlagern, wo sich die Ambitionen der Republikaner und Süd-Demokraten treffen: in den Kongreß. Für den Fall, daß im Kollegium keine Mehrheit zustande kommt, sieht die Verfassung eine Intervention des Kongresses vor. Die Elektoren müssen den Parlamentariern ihren Fehlschlag melden, worauf der Senat die Wahl des Vizepräsidenten, das Repräsentantenhaus die Wahl des Präsidenten übernimmt.

Im Kongreß könnten die konservativen Demokraten und die Republikaner einen Mehrheitsbeschluß erzwingen, der Kennedy, obwohl seine Partei zahlenmäßig das Repräsentantenhaus beherrscht, von der Präsidentschaft ausschließen würde. Südstaaten-Demokraten reichen denn auch schon eine Liste herum,auf der Georgias Senator Richard Russell oder Virginias Harry Byrd als Präsident, der republikanische Vizepräsidentschafts-Kandidat Cabot Lodge als Stellvertreter figurieren.

Derartige Manöver bewogen den demokratischen Senator Mike Mansfield, einer drastischen Reform des Wahlmänner-Kollegiums das Wort zu reden. Die Elektoren - so schlug er vor - sollten in Zukunft nach dem Verhältniswahlsystem bestimmt werden; die Elektoren dürften nicht sämtlich der Mehrheitspartei eines Staates zufallen, sondern müßten zwischen beiden Patteien gemäß deren Stimmenanteilen in jedem Staate verteilt werden.

John Kennedy freilich, trotz aller Bedenken noch immer seines Sieges im Kollegium gewiß, teilt die Reformvorschläge Mansfields nicht. Außerdem haben seine Berater inzwischen ausgerechnet, daß nicht nur Lincoln, Wilson und Truman nach einer Verhältniswahl keine Mehrheit im Wahlmänner-Kollegium erhalten hätten, sondern auch Kennedy keine solche Mehrheit erlangen könnte.

Erläuterte das republikanische USMagazin »Time": »Eine Verhältniswahl hätte Kennedys Elektoren-Stimmen von 300 (Nixon: 259) auf 264 (Nixon: 223) zusammenschrumpfen lassen - fünf Stimmen weniger, als er zum Siege benötigt.«

*In Mississippi und Georgia stellt das Staatsparlament allen, - In Alabama einem Teil der Elektoren frei, für wen sie stimmen wollen.

New York Herald Tribune

»Das Ding wird uns noch mal um die Ohren fliegen«

Monsfield

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