ASYLVERFAHREN Gefährliche Obstruenten
Mit einem Kopfhörer sitzt Mawlawi Mohammed* im handtuchschmalen Büro eines Betonkomplexes im Industriegebiet des schweizerischen Givisiez nahe Bern und hört in den leisen Singsang einer Tonbandkassette. Es ist der Mitschnitt einer Anhörung eines Asylbewerbers. Mohammed spult vor und zurück, hört noch einmal alles von vorn.
Er sei Afghane, nahe der iranischen Grenze aufgewachsen, erzählt der Mann auf der Kassette in stockendem Persisch. Mohammed, Dialektologe aus Afghanistan und Dozent an Schweizer Unis, soll herausfinden, ob das stimmt. Denn davon hängt ab, ob der Mann bleiben darf.
Den Stolperstein für den Asylbewerber nennen Linguisten »Obstruenten« - es geht darum, ob der Mann bei bestimmten Wörtern den Verschlußlaut »P« oder den Reibelaut »F« benutzt. »Es gibt Begriffe, deren erster Buchstabe von Persisch sprechenden Afghanen wie ein P gesprochen wird, während Iraner ihn wie ein F aussprechen«, erklärt Mohammed.
Der Uni-Dozent arbeitet im Nebenjob für das Sprachanalyse-Institut Lingua. In dieser Sonderabteilung des Schweizer Bun-
* Name von der Redaktion geändert.
desamts für Flüchtlinge analysiert er Sprachproben von Asylbewerbern, die ihr wahres Heimatland nicht nennen oder deren Angaben die Beamten bezweifeln.
Seit Frühsommer dieses Jahres werden offizielle Asylanhörungen in der Schweiz teilweise auf Tonband aufgezeichnet. 15 bis 30 Minuten dauern die Gespräche, bei denen Dolmetscher den Asylsuchenden die Fragen der Bundesamtsmitarbeiter übersetzen: Welcher Fluß fließt an Ihrem Heimatort vorbei? Wie riecht es auf dem Markt der Nachbarstadt? Welche Farben hat die Nationalflagge?
Aufgabe von Lingua ist es, aus den Interviews herauszuhören, in welchem Land »der Proband sozialisiert wurde« (Lingua-Gutachten). Als Indizien dienen Wortwahl, Aussprache, Dialekt und Grammatik der Befragten.
»Der Proband ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dem Sozialisationsraum Afghanistan zuzuordnen«, wird Mohammed später in seiner Stellungnahme schreiben. »Solche Herkunftsgutachten«, schwärmt ein Lingua-Informationsblatt, »können das Asylverfahren beschleunigen.«
Das wünscht sich auch das Nürnberger Amt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bafi). Von 1998 an soll auch in Deutschland die Herkunft von Flüchtlingen per Sprachanalyse ermittelt werden.
Mit dem Verfahren nach Schweizer Vorbild wollen die Nürnberger Beamten ein großes Problem lösen: Zwar ist die Zahl der Asylbewerber seit 1992 um 300 000 gesunken, doch immer mehr Flüchtlinge kommen ohne Papiere. Und jemand, der nirgendwoher kommt, kann auch nirgendwohin abgeschoben werden, wenn ihm das Asyl verweigert wird.
Allein in Hamburg leben nach Schätzungen des Hamburger Innensenators Hartmuth Wrocklage rund 3000 Menschen, deren Heimatland schwer zu ermitteln ist. Mehr als 27 000 Schwarzafrikaner, »deren Identität geklärt werden muß«, hielten sich in der Bundesrepublik auf, rechnete der Bundestagsabgeordnete Michael von Schmude (CDU) dem Parlament vor zwei Monaten vor. Von deren Heimatländern müsse man »erwarten, daß sie mit uns zusammenarbeiten, wenn es darum geht, die Rückkehr zu ermöglichen«.
Doch die Mitarbeit hält sich in Grenzen. Asylbewerber werden oft von Botschaft zu Botschaft gekarrt. Viele Diplomaten weigern sich, die für die Abschiebung nötigen »Paßersatzpapiere« auszustellen: ohne eindeutigen Herkunftsnachweis kein Paß.
Den Nachweis sollen jetzt die Sprachgutachten liefern: 4000 Sprachanalysen für insgesamt 2,4 Millionen Mark sind im Haushaltsentwurf des Innenministeriums für 1998 vorgesehen.
Deutsche Sprachwissenschaftler bewerten den neuen Weg eher skeptisch. »Für Afrika ist das jedenfalls Schwachsinn«, sagt Raimund Kastenholz, Professor für Afrikanische Philologie an der Universität Mainz. Auf dem Kontinent würden mehr als 1000 Sprachen gesprochen; allein in Nigeria existierten rund 200 verschiedene, von denen etliche nicht einmal schriftlich niedergelegt seien. »Da können Sie genausogut mit der Nadel im Heuhaufen stochern.«
Dem hält Michael Griesbeck, Abteilungsleiter Grundsatzangelegenheiten im Bafi, entgegen, daß bei einem »Probelauf« im Juli dieses Jahres »in über 90 Prozent der untersuchten Fälle eine Zuordnung der Asylbewerber auf ein bestimmtes Herkunftsland möglich war«.
Dabei waren in drei Außenstellen von mehreren Dutzend Asylbewerbern Sprachproben aufgenommen und an die schweizerische Lingua sowie das Institut »Eqvator«, Teil der schwedischen Einwanderungsbehörde, geschickt worden. Kosten der Aktion, an der »alle betroffenen Ausländer freiwillig mitgewirkt« hätten: zwischen 600 und 700 Mark pro Analyse.
»Eine pure Verschwendung von Steuergeldern« ist das für den Münchner Asylanwalt Hubert Heinhold. Viele Gutachten seien wertlos, da sie »nur Wahrscheinlichkeitsvermutungen bezüglich der Herkunftsländer« aufgestellt oder »Tendenzen angegeben« hätten.
Tatsächlich konnten sich die schwedischen Gutachter lediglich zwischen vier Möglichkeiten entscheiden wie etwa: »ist mit einiger Wahrscheinlichkeit folgendem Gebiet zuzuordnen« oder »erlaubt keine eindeutige Zuordnung«.
Die Vermutungen reichten in Deutschland für eine Entscheidung aus. Zwei Afrikanern, nach eigenen Angaben Sudanesen, wurde vom schwedischen Gutachter bescheinigt, sie würden »wahrscheinlich nicht aus dem Sudan« stammen. Wenig später lehnte das Bundesamt die Asylanträge ab: »Die Einlassungen des Antragstellers lassen nur den Schluß zu, daß die behauptete Verfolgungsfurcht auf reiner Erfindung beruht.«
Der Nürnberger Anwalt Hermann Gimpl, der einen der Afrikaner vertritt, ist der Ansicht, daß für eine dauerhafte Anwendung der Sprachanalyse das Asylverfahrensgesetz zu ändern sei. Ein Flüchtling müsse schließlich wissen, wie er sich gegenüber der Behörde verhalten solle: »Wie kann er sich gegen anonyme Gutachter wehren, deren Qualifikation ebensowenig überprüft werden kann wie ihre Analysetechnik?«
Sein Bonner Kollege Jens Dieckmann sieht in den neuen Analysen »einen weiteren Versuch, das Asylgrundrecht auf verfahrensrechtlichem Wege einzuschränken«. Bafi-Mann Griesbeck argumentiert, daß die Verwaltungsgerichte »in den bisher vorliegenden Entscheidungen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens geäußert haben«.
Anfang kommenden Jahres wird noch ein weiterer Probelauf mit ausländischer Hilfe durchgeführt, ehe dann ein deutsches Analyseteam seine Arbeit aufnehmen soll. Doch schon taucht neben dem juristischen noch ein weiteres Problem auf: Wissenschaftler in Deutschland sind offenbar nur schwer für eine Mitarbeit zu gewinnen.
Das Bundesamt, das an den Unis Mitarbeiter anzuwerben suchte, holte sich meist einen Korb. »Ich habe die Angelegenheit mit Kollegen besprochen«, sagt Rainer Voßen, zuständig für Afrikanistik an der Universität Frankfurt am Main, »meines Wissens hat bisher keiner seine Zusage gegeben.«
Einige Professoren hielten das Verfahren für »unwissenschaftlich«, andere für »nutzlos«. Voßen selbst hemmt die Befürchtung, daß »Wissenschaftler zu Handlangern einer Behörde gemacht werden sollen, der es letztlich nur um die Abschiebung geht«.
Christoph Hillenbrand, Pressesprecher im bayerischen Innenministerium, möchte ohnehin weniger neuen Methoden denn alten Rezepten vertrauen: »Erfolg in der Identitätsermittlung beruht nicht auf irgendwelchen Verfahren, sondern auf Hartnäckigkeit. Jeder ungeklärte Fall ist für einen bayerischen Sachbearbeiter ein Ansporn.« Zwischen Main und Inn gebe es deshalb »höchstens 30 Abzuschiebende ungeklärter Herkunft, in Hamburg dagegen Tausende«.
* Name von der Redaktion geändert.