Serie Gefährliche Trägheit
Der Tag, an dem die Kurven sich kreuzen werden, ist nur noch ein paar Wochen hin, und es wird kein schöner Tag sein für Mechthild Reith. Sie kämpft noch, dass es nicht passiert, aber es wird passieren.
Mechthild Reith arbeitet seit vielen Jahren für die SPD, sie hat das schon gemacht, als die Partei auf ihren Gartenfesten noch Dixie spielte und nicht BossHoss, als Rudolf Scharping vom Rad fiel und Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine so taten, als passte kein Blatt Papier zwischen sie. Reith hat viel erlebt.
Jetzt sitzt sie im Büro des Parteivorsitzenden in Berlin, vorn im Bug des schiffartigen Baus. Sie schreibt Briefe, Geburtstagsgrüße von Kurt Beck an Wolf Biermann oder Erhard Eppler. Und sie antwortet Menschen, die der SPD ihren letzten Brief geschrieben haben. Kaum ein Parteiaustritt, der nicht über den Tisch von Mechthild Reith geht. Von über einer Million Mitglieder im Jahr 1977 ist die SPD auf 532 840 zusammengeschnurrt. Dass es die CDU ebenfalls trifft, kann nur wenig trösten (siehe Grafik Seite 58). Bald wird die Partei von Angela Merkel mehr Mitglieder haben als die Arbeiterpartei. Am Tag, wenn sich die Kurven kreuzen.
Aber Mechthild Reith schreibt weiter tapfer Briefe, im Namen der SPD, aber auch im Namen der Demokratie, im Namen des Engagements und gegen die Gleichgültigkeit. Persönliche Anrede und dann der Versuch, auf die individuellen Motive einzugehen und möglichst nicht mit Textbausteinen zu operieren. Jeder Brief ein Einzelstück.
Wie viele dieser Briefe sie schon geschrieben habe? Das kann sie nicht sagen. Hunderte bestimmt.
Aber wie oft sie nachweislich erfolgreich war, das kann sie sagen: »Einmal«, sagt Mechthild Reith. Einmal habe ihr ein Genosse zurückgeschrieben, dass er nach dieser freundlichen Antwort beschlossen habe, Mitglied der SPD zu bleiben.
Die vielen unerwiderten Briefe der Mechthild Reith sind ein Symptom für den Zustand der SPD, aber nicht nur. Es laufen nicht bloß der SPD die Leute davon. Der Demokratie laufen die Leute davon. Die Wahlbeteiligung sinkt, vor allem in den Ländern und Kommunen. Ein Viertel der Deutschen ist »nicht zufrieden« mit der Demokratie in Deutschland und dem ganzen politischen System, wie eine SPIEGEL-Umfrage ergab.
Das ist eine Minderheit, aber eine starke. Und es stellt sich die Frage, ob viele Bürger zu selbstverständlich davon ausgehen, dass die Demokratie auf ewige Zeiten das politische System Deutschlands sein wird.
Gibt es nicht jetzt schon eine übergroße Mehrheit aus Unzufriedenen und Gemütlichen? Den einen wäre es recht, wenn das System wechselt, solange das neue mehr Wohlstand oder weniger Ausländer verheißt. Die anderen sind zwar Demokraten, aber sie wollen nichts tun für die Demokratie, aus Trägheit, aus Liederlichkeit, aus Selbstsucht, aus Verdruss über Politiker, die sich nicht gerade Mühe geben zu beweisen, dass Politik eine schöne Sache sein kann. In dieser Mischung könnte eine Bedrohung liegen.
Wie groß ist diese Bedrohung? Stimmt der allgemeine Eindruck, dass die Demokratie auf Dauer gesichert ist? Gibt es schleichende Entwicklungen, die gefährlich werden könnten? »Eine Zeitlang hatte die Demokratie eine Aura des Unausweichlichen«, schrieb Madeleine Albright unlängst in der »Los Angeles Times«. »Das ist vorbei.« Die Welt, konstatierte die frühere US-Außenministerin, stehe nicht mehr in der Auseinandersetzung von Kommunismus und Kapitalismus, »sondern zwischen Demokratie und Autokratie«.
Es gibt auch hierzulande Leute, die sich darüber Gedanken machen, und es gibt Orte in Deutschland, wo etwas verrutscht ist, wo Demokratie nicht so funktioniert, wie sie funktionieren sollte. Man kann bereits jetzt eine Reise machen zu den Nachtseiten der deutschen Demokratie.
Diese Reise beginnt in Ducherow im Landkreis Ostvorpommern, 2200 Einwohner. Als die Bundeszentrale für politische Bildung die Region suchte, in der es am schlimmsten um die Demokratie steht, wählte sie den Kreis Ostvorpommern.
Die Vorgärten sind mit Stiefmütterchen geschmückt, flache Häuser, ein paar Plattenbauten, Wäsche flattert im Wind. Hier holte die NPD 2005 bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent der Zweitstimmen, das waren 134 Bürger. Bei der Landtagswahl 2006 gaben 165 Bürger ihre Stimme der NPD.
Einige Geschäfte säumen die Hauptstraße, darunter ein Nagelstudio. Auf die Frage, was sie von der Demokratie halte, sagt eine Kundin: »Demokratie? Politik? Davon habe ich keine Ahnung.« Sie schaut wieder auf ihre Nägel, die gerade mit Watte abgetupft werden. Eine Frau um die 50 zieht nur die Augenbrauen hoch, als sie das Wort Demokratie hört.
Vor einem Flachbau mit der Aufschrift »Pizza-Döner-Express« sitzt Recep Yildirim, der aus der Türkei stammt, und liest Zeitung. Als er sein Geschäft vor eineinhalb Jahren eröffnete, seien »die Rechten« zu ihm gekommen mit den Worten: »Hast du uns gefragt, ob du ein Geschäft aufmachen darfst?« Wie eine Ordnungsmacht seien sie aufgetreten. Er habe aber insgesamt wenig Probleme mit Rechtsradikalen, beteuert Yildirim.
An den Hauptverkehrsstraßen hängen Wahlplakate, am 18. Mai wird ein neuer Landrat gewählt. Der Kandidat der NPD, Michael Andrejewski, der bereits im Schweriner Landtag und im Kreistag von Ostvorpommern sitzt, wurde wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue nicht zur Wahl zugelassen.
Dafür hat Martin Protz, 18, kein Verständnis. »Es ist Schwachsinn, dass die NPD nicht antreten darf. Man soll doch seine Meinung frei äußern dürfen, auch wenn sie sich gegen das System richtet«, sagt der Straßenbauer.
Daniel, 18, und Alexander, 17, tragen ihre rotblonden Haare kurz und sind mit der politischen Situation in Deutschland unzufrieden. »Von Demokratie halte ich nichts, weil die einem nur das Geld abnehmen. Die Ausländer hier haben mehr Geld als wir. Am besten wäre ein anderes System«, sagt Alexander und verschnürt seinen Armeerucksack mit den Einkäufen für ein Grillfest. »Ist doch so«, sagt Daniel. »Jeder soll in seinem Land wohnen. Die Deutschen in Deutschland und die Russen in Russland.« Durch eine Diktatur ließe sich einiges ändern. Die NPD sei »wenigstens eine ordentliche Partei«, auch nicht so radikal wie die NSDAP. Daniel will bei der Landratswahl die NPD wählen. Dass sie nicht zur Wahl steht, weiß er nicht.
Gudrun Rost, 48, hat viele der Jugendlichen, die in Ducherow zur rechten Szene gehören, in der Grundschule als Lehrerin betreut. »Wir haben versucht, den Kindern Demokratie zu vermitteln, nur dass wir dieses Wort selten benutzt haben«, sagt sie. »In der Grundschule möchten die Kinder noch darüber reden.« Später würden sie von anderen Jugendlichen »aufgefangen«. Dann heiße es: »Wir zeigen euch, wo was los ist. Kommt doch mal mit.« Oft sind das dann ultrarechte »Kameradschaften«.
In Anklam, zehn Autominuten von Ducherow entfernt, hat die Bundeszentrale für politische Bildung ein Büro eröffnet. Hier arbeiten Annett Freier und Tina Rath für das »Bildungsprojekt zur Entwicklung demokratischer Kultur in der Modellregion Ostvorpommern«.
Es gebe eine »weitgehende Etablierung des rechten Gedankenguts«, sagt Annett Freier. Man muss die beiden nicht viel fragen. Sie sprudeln. Es gibt hier so viele Geschichten, die nicht zu einer Demokratie passen, und es fallen sehr oft die Wörter »Obrigkeitsdenken« und »autoritär«. Es sind Geschichten von Bürgermeistern, die in den Fragestunden die Fragen der Bürger abbügeln, die sich so autoritär aufführen, als wären die Dörfer ihre Lehen. Es sind Geschichten von Leuten, die sich das gefallen lassen, weil sie immer folgsam waren, gegenüber Gutsherren, Nazis und Sozialisten. Es sind Geschichten von Schülern, die Rudolf Heß für einen Märtyrer halten und eine Fünf im Fach Sozialkunde nicht bedauerlich finden.
Die große Politik ist hier durch Ulrich Adam (CDU) vertreten, er sitzt für den Wahlkreis Greifswald - Demmin - Ostvorpommern im Bundestag. Er ist ein runder, gemütlicher Mann, der allerlei Kriegsspielzeug in seinem Berliner Büro stehen hat und zuletzt auffiel, weil er dubiose Wahlkampfspenden nicht gemeldet hat. Mit Leuten wie ihm wäre die Demokratie tatsächlich verloren.
Die Hoffnungen liegen bei Annett Freier und Tina Rath. Sie wissen, dass es in diesem Stadium keinen Sinn hat, Reden zu halten. Sie versuchen, in den Dörfern Fahrgemeinschaften zu organisieren, damit die Jungs in den Städten Fußball spielen können. Der Sportverein soll ein Gegengewicht sein zu den Kameradschaften, eine soziale Bindung, deren Klebstoff nicht braun ist, mit Adolf Hitler auf der Tube. Die beiden Frauen fangen ganz klein an, sie müssen arbeiten wie Missionare, weil die Demokratie noch gar nicht richtig angekommen ist in Ostvorpommern.
Haldensleben in Sachsen-Anhalt, die dritte Station dieser Reise, schien da schon weiter zu sein. Bürgermeister Norbert Eichler kann eigentlich ganz zufrieden aus seinem Büro blicken. Das alte Ostkaufhaus Roland direkt gegenüber ist ein Schandfleck, okay, aber sonst: ein hübscher Marktplatz, auf dem die Gemüsehändler ihre Spargelangebote ausrufen. Fachwerkhäuser mit lieblich schiefem Gebälk. Am Ortseingang stehen nicht nur die üblichen Supermärkte, sondern Fabrikhallen, in denen Menschen nicht Geld ausgeben, sondern welches verdienen. Die Arbeitslosenquote ist mittlerweile unter zehn Prozent gerutscht. So ähnlich muss sich Helmut Kohl vor 20 Jahren seine blühenden Landschaften vorgestellt haben.
Umso rätselhafter ist die Wahlmüdigkeit. Haldensleben, 20 Kilometer nordwestlich von Magdeburg gelegen, ist der Verwaltungssitz des Bördekreises, und der Bördekreis hält seit Jahren den wenig rühmlichen Rekord, der trägste Wahlkreis Deutschlands zu sein. 65,7 Prozent gaben hier bei der Bundestagswahl 2002 ihre Stimme ab, bundesweit waren es 79,1 Prozent. Drei Jahre später waren es dort 68,7 Prozent und bundesweit 77,7 Prozent der Wahlberechtigten.
Bürgermeister Norbert Eichler (CDU) ist ein anregender Gesprächspartner und das lebende Gegenmodell zur Apathie, die sich in der Gegend um Haldens- leben eingenistet hat. Er ist ambitioniert und bodenständig zugleich und denkt politisch-philosophisch. Dazu passt denn auch, dass ihn die Frage umtreibt, wie er Bürgermeister einer Stadt sein kann, die zum allergrößten Teil nicht für ihn gestimmt hat.
Am letzten Sonntag im März ist Eichler zum vierten Mal gewählt worden. Er hat 3358 Stimmen von 17 010 Wahlberechtigten bekommen, also nur jede fünfte Stimme. Eichler ist eher geduldet als gewählt worden. Die Wahlbeteiligung ging von 45,1 auf 35,9 Prozent zurück.
»Das geht querbeet«, sagt Eichler. Wohlhabende Leute lassen das Wählen ebenso bleiben wie Arme. Als die Magdeburger »Volksstimme« die Kandidaten miteinander diskutieren ließ, kamen 65 Leute. »Manchmal frage ich mich«, sagt Eichler, »ob die Leute Wahl mit Abwahl gleichsetzen.« Wenn es nichts abzuwählen gibt, dann bleibt man eben weg.
Wenn der Stadtrat tagt, sitzen zwei Stammgäste im Zuschauerraum. Nur wenn es um die Belange direkt vor der Haustür geht, werden die Bürger wach. Der Ausbau einer Straße kann die Gemüter erregen oder die Privatisierung einer Schule.
Der Westschock sitzt tief, selbst knapp 20 Jahre danach. Zu DDR-Zeiten, sagt Eichler, kostete der Kubikmeter Abwasser 30 Pfennig, heute das 30fache. Auf den schön geteerten Straßen von Haldensleben fährt man wie auf Wolken und nicht mehr wie früher durch Schlaglöcher. Früher ging das auf die Stoßdämpfer des Trabant, heute auf den Geldbeutel.
Die Freiheit kostet Geld und erweist sich als Last. Früher, sagt Eichler, als es bei den Wahlen in der DDR Beteiligungen gab über hundert Prozent hinaus, da hätten Leute gesagt: Erst wenn ich eine Wohnung bekomme, dann gehe ich zur Wahl. Weil die Politiker ihre Zahlen schönen wollten, gab es dann eben die Wohnung. Heute ist das nicht mehr möglich.
Nur 47 Prozent der Ostdeutschen sind laut Institut für Demoskopie Allensbach der Meinung, dass sich die Demokratie im Großen und Ganzen bewährt habe. 23 Prozent fänden eine autoritäre Staatsform besser. Marlis Schünemann will darüber reden. Es ist ihr Thema, und man merkt schnell, warum. Unter Antriebsschwäche und Meinungsarmut leidet Marlis Schünemann, die frühere Lehrerin und heutige Stadträtin, sicher nicht. Keine einfache, aber eine interessante Person, eine Demokratin mitten im demokratiemüden Haldensleben.
Die Bürger seien überfordert, sagt sie und wartet nicht auf die Nachfrage. »Warum überfordert? Meine Generation, wir haben eine Vergewaltigung erlebt, wir mussten zur Wahl gehen, und das war eine Wahl ohne Wahl.« In der DDR sei keine Wahlkultur gewachsen, sondern 40 Jahre lang vorsätzlich kaputtgemacht worden. Dann sei Kohl gekommen, und alle wollten Kohl und die freie Marktwirtschaft. Doch schon bald habe es ein Erwachen gegeben. Marlis Schünemann erinnert sich noch an den Gedenkgottesdienst ein Jahr nach der Wende. Viele hätten Dankgebete gesprochen, aber schon damals hätten sich viele Fürbitten darunter gemischt: Lieber Gott, lass mich meine Arbeit behalten ...
Bei der Landtagswahl 2006 gingen in Sachsen-Anhalt 44,4 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen, ein Negativrekord. In fast allen Bundesländern ist die Wahlbeteiligung zuletzt stark gesunken, zum Beispiel in Hamburg oder in Niedersachsen. Auch die Bundestagswahl fand den schlechtesten Zulauf aller Zeiten: 77,7 Prozent. Fast ein Viertel der Wahlberechtigten hatte keine Lust, diesen kleinen Dienst an der Demokratie zu leisten.
Nach der Landtagswahl in Niedersachsen im Januar unterstützte der scheidende Landtagspräsident Jürgen Gansäuer den Vorschlag, eine Enquetekommission einzusetzen, um der Ursache der schwächs-ten Wahlbeteiligung aller Zeiten auf den Grund zu gehen. 57,1 Prozent, »das geht an die Substanz der Demokratie«, befand er.
Die Demokratie wird allmählich im Stich gelassen. Es gibt viele Gründe dafür, aber besonders interessant ist ein Blick auf die Zahlen in Berlin bei der letzten Bundestagswahl. Es gibt ein klares soziales Gefälle. In Steglitz-Zehlendorf, wo das wohlhabende Bürgertum lebt, machten 83,6 Prozent mit, in Neukölln und Marzahn-Hellersdorf, wo das Lebens- und Bildungsniveau im Schnitt deutlich niedriger liegt, waren es nur 74 und 73,5 Prozent.
»Ich bin total enttäuscht von der Politik«, sagt Marina, 50, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Sie dreht sich auf einer Bank im Problemkiez am Kottbusser Damm in Neukölln eine Zigarette und starrt vor sich hin. Die Politiker »scheren sich einen Dreck darum, was wirklich in Deutschland los ist«. Einst hat die Frau mit der Bubikopffrisur als Beamtin für den Staat gearbeitet. Dann stürzte sie ab, wurde versetzt und dann frühpensioniert, weil sie erblindet ist auf einem Auge. Ihre fünf Kinder wurden ihr weggenommen. Der Bezirk »arbeite gegen sie«, lasse nicht mit sich reden. Unterhalt habe sie fast nie bekommen, weil ihr niemand geholfen habe, ihre Rechte durchzusetzen.
Wählen bringe sowieso nichts, glaubt Mathias, 45, der ebenfalls anonym bleiben möchte. »Wir haben auf nichts Einfluss, im Endeffekt ist es doch gar keine Demokratie«, sagt er und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche. Bei der letzten Bundestagswahl lag der langhaarige, schlaksige Mann, dessen Adern am Arm hervorstechen, wegen seiner Drogensucht im Krankenhaus. Seit zehn Jahren ist der gelernte Textilveredler arbeitslos. »Wir sind Menschen zweiter Klasse«, sagt er. Dabei schweift sein Blick über die gesamte Straße. »Wir«, das seien die Arbeitslosen, Süchtigen und Kranken. Der ganze Kiez sei verarmt. »Von den Politikern lässt sich hier niemand blicken, und bei den Behörden wird man von oben herab gemustert und ignoriert.« Auch die Beratungsangebote sozialer Einrichtungen könnten ihm nicht helfen.
Er wünscht sich, dass in der Politik »alles ein bisschen humaner« wird. »Die Politiker sind mit ihren Machtspielchen beschäftigt. Ihnen fehlt die emotionale Intelligenz. Alles ist so theoretisch«, sagt er.
Die Verlorenen der Gesellschaft sind auch für die Demokratie verloren. Das belegen die Zahlen der SPIEGEL-Umfrage. Von den Befragten mit mehr als 3000 Euro Nettoeinkommen im Monat sind 19 Prozent »nicht zufrieden« mit der Demokratie und dem politischen System. Von den Befragten mit weniger als 1500 Euro sind es 28 Prozent. Wem es materiell nicht gutgeht, der neigt offenkundig eher dazu, dem »System« die Schuld zu geben. Gerade für die Akzeptanz der verspäteten und oktroyierten deutschen Demokratie war der Wohlstand der Bürger wichtig. Auch das Wirtschaftswunder hat die Deutschen zu Demokraten gemacht.
Deshalb sind die jüngsten Zahlen, denen zufolge die Mitte schrumpft, so alarmierend. Die Mitte, das sind die Bürger von Steglitz-Zehlendorf, die so gut leben, dass sie dem System nicht zürnen, und die ausreichend gebildet sind, um zu wissen, dass ihnen nur die Demokratie die geschätzten Freiheiten gewähren kann. Die Mitte trägt die Demokratie, weshalb die schlechten Ergebnisse bei den Pisa-Studien zur Bildung und die Undurchlässigkeit zwischen den Schichten Gefahren für die Demokratie sind.
Es ist auch diese Mitte, aus der sich das politische Personal rekrutiert, und es gibt einen wachsenden Unwillen, mitzumachen. Bad Hindelang ist ein Beispiel dafür.
Unten im Tal riecht es nach Frühling, nach nasser Erde, die den Winterpanzer abgelegt hat. Oben am Oberjoch, einem Ortsteil von Bad Hindelang, fahren die letzten Unentwegten noch Ski auf Kunstschneebändern. Unten in Vorderhinde- lang bimmelt bei Ulrich Berktold auf dem Balkon ein Windspiel im lauen Lüftchen. Berktold hat dafür gesorgt, dass die Demokratie zu Hause bleibt in diesem Allgäuer Tal bei Sonthofen.
Als sich lange vor der Kommunalwahl in Bayern diesen März abzeichnete, dass Bürgermeister Roman Haug abwandern würde, stellte die CSU Adi Martin auf und druckte mehrseitige DIN-A4-Hochglanzbroschüren mit dem Kandidaten. Mehr passierte nicht. Die SPD stellte keinen Kandidaten auf, die FDP nicht, die Grünen nicht, die Freien Wähler nicht. Es sah so aus, als würde die Wahl zum Bürgermeister von Hindelang so ablaufen wie die Wahl des Präsidenten in Usbekistan.
»Ein Kandidat, so kann das ja nicht sein«, sagte sich Berktold mit einigen anderen Gemeinderäten. »Das hat ja mit Demokratie nichts zu tun, wenn nur ein Kandidat da ist.« Also schrieben mehrere Gemeinderäte die Stelle in der »Bayerischen Staatszeitung« aus. »In der Marktgemeinde Bad Hindelang (4860 Einwohner), Landkreis Oberallgäu, wird 2008 der Erste Bürgermeister neu gewählt.« Wer Kandidat werden möchte, solle sich bewerben.
Eine ganze Menge Leute haben sich gemeldet, aber wenn Berktold ehrlich ist, dann entsprachen sie alle nicht den Vorstellungen der Gemeinderäte, auch das Dutzend nicht, das in die Endrunde gekommen war. Dennoch hat die unorthodoxe Methode die Demokratie in Hindelang wieder wachgeküsst: Der Kämmerer Karl-Heinz Reimund ermannte sich, gegen Martin anzutreten, und druckte auf eigene Kosten seine viel bescheideneren Flugblätter. Er verlor, hat seine Kandidatur aber dennoch nicht bereut, und Ulrich Berktold sagt, das Ziel sei in jedem Fall erreicht worden, auch wenn es am Ende derjenige wurde, der am Anfang als alleiniger Kandidat dastand.
Die Not der Hindelanger, den Sessel im Rathaus zu einem Möbel zu machen, um das man kämpfen muss, kennen viele Gemeinden in Deutschland. Vor allem solche mit wenigen Einwohnern, in denen der Bürgermeister ehrenamtlich tätig ist. Aber auch die Gemeinden, die ihren Bürgermeister nach dem Beamtenbesoldungsgesetz bezahlen, tun sich schwerer und schwerer, Kandidaten zu finden. Heruntergebrochen auf einen Stundenlohn, macht jeder Facharbeiter einem ehrenamtlichen Bürgermeister eine lange Nase. Und wer mehr Ärger hat, darüber muss man nicht lange streiten.
Vor anderthalb Jahren machte die nicht ganz kleine Stadt Ratzeburg von sich reden, weil bereits zum zweiten Mal zunächst keiner Bürgermeister werden wollte. Vom »Ratzeburger Déjà-vu« schrieben die »Lübecker Nachrichten«.
Wenn das so weitergeht, wird die Demokratie allmählich verkümmern. Denn Demokratie ist Mitmachen: wählen, sich wählen lassen, sich in Parteien engagieren. Herfried Münkler, Politikgelehrter an der Berliner Humboldt-Universität, lässt sich nicht trösten damit, dass in den Vereinigten Staaten die Demokratie auch funktioniert, obwohl die Wahlbeteiligung viel geringer ist als in Deutschland und Parteien kaum eine Rolle spielen.
Die USA würden von Aristokratien regiert, die Bundesrepublik aber sei ein Parteienstaat. »Wenn tiefsitzende Mentalitäten nicht mehr zur institutionellen Ordnung passen, ist das ein ernstes Problem«, sagt Münkler. »Ich sehe große Gefahren für das System der Demokratie in Deutschland.«
Eine deutsche Mentalität hat sich in den vergan-genen Jahrzehnten stark gewandelt. Das ist die Lust auf Bindung. Sportvereine, Kirchen, Gewerkschaften merken das, eben auch Parteien. Es gebe eine Projektmentalität, sagt Münkler. Man engagiert sich durchaus, möchte das aber nur für eine gewisse Zeit tun, dann ein neues Projekt beginnen. Eine Parteimitgliedschaft, die auf lebenslänglich angelegt ist, passt nicht in einen solchen Lebensentwurf, genauso wenig eine Ehe.
Wie politisch das Private ist, zeigt sich für Münkler auch an der wachsenden Zahl von Familien, die nur ein Kind haben. »Wenn nicht von Anfang an die Erfahrung gemacht wird, dass sich Kooperation lohnt, hat das Folgen für den Wunsch nach Kooperationen.« Heißt es nicht über Einzelkinder, sie seien kleine Diktatoren? Gesellschaftlicher Wandel hat oft tiefere Ursachen in individuellen Psychologien.
Dazu zählt für Münkler auch, dass »die Leistungsfähigen ihre Zukunft nur in der Verwendung ihrer Arbeitskraft sehen und sich stark auf das individuelle Einkommen orientieren«. Also keine Lust haben, am Wochenende Kugelschreiber mit Parteiemblem zu verteilen oder in Parteiversammlungen endlosen Reden zuzuhören. Oder für ein vergleichsweise niedriges Einkommen Bürgermeister, Mitglied des Bundestags, Bundeskanzlerin zu werden. Und die anderen, sagt Münkler, »die im Übermaß Zeit hätten«, Arbeitslose also, »verlieren sich in Passivität und Agonie«.
Nach einem Gespräch mit Münkler wirkt die deutsche Demokratie ziemlich verlassen und allein. Man braucht geradezu Erholung, man muss Leute finden, die sich für die Demokratie interessieren, und da vorn, nur einen Kilometer von der Humboldt-Universität entfernt, stehen sie doch: Jeden Tag rückt eine lange Menschenschlange Schub um Schub ins Westportal des Reichstags ein. »Dem deutschen Volke« steht über dem Eingang, und hinein drängt das Volk, das Geduld mitbringen muss. An der untersten Stufe der Treppen zum Eingang steht ein Schild: »Ab hier noch ca. eine halbe Stunde«. Drei Millionen Menschen kommen jedes Jahr hierher. Der Bundestag ist das meistbesuchte Parlament der Welt.
Gabriele-Pia Schnurnberger vom Besucherdienst des Bundestags empfängt am Eingang eine Schulklasse, zehnte Jahrgangsstufe, Realschule. Halbzeit einer Berlin-Reise, Parlamentsbesuch zwischen Pergamonaltar und Technikmuseum. Die Klasse macht schon einen etwas matten Eindruck, als sie das Gebäude betritt. »Seien Sie nicht zu entsetzt!«, bittet eine Lehrerin Frau Schnurnberger um mildernde Umstände.
Frau Schnurnberger versucht es mit Schwung. Sie beginnt bei den Inschriften der sowjetischen Soldaten im Erdgeschoss. »Habt ihr euch vorbereitet?«, fragt sie. »Nö.« »Wisst ihr, wie der Bundestag arbeitet?« »Nö.« »Wisst ihr, was der Unterschied ist zwischen Bundestag und Reichstag?« »Ist das Gleiche«, kommt es aus einer Ecke.
Nach zehn Minuten kämpfen die ersten mit der Schwerkraft. »Ich kann nicht mehr stehen«, stöhnt eine Schülerin und stützt sich auf die Schulter ihrer Freundin. »Das ist keine Sitzung, sondern eine Führung«, sagt Frau Schnurnberger. »Ist die zickig«, zischt die Müde ihrer Stütze zu.
»Was ist für euch der Bundestag?«, fragt Frau Schnurnberger. »Zeitung lesen«, kommt als erste Antwort. Wo ist der Abgeordnete, wenn keine Sitzungswoche in Berlin ist? »In Bonn«, tönt es zurück.
Es ist eher ein guter Arbeitstag für Frau Schnurnberger. Am Tag davor war sie dem vollen Programm der Vorurteile ausgesetzt: Abzocker, Nichtstuer, Diätenverprasser, Wichtigtuer seien die Politiker. Dagegen waren die Schüler aus der Realschule harmlos. Nur müde, nicht aggressiv.
Die schiere Zahl der drei Millionen Besucher sagt nur bedingt etwas über den Respekt für das Parlament aus, über das Interesse. Es ist ein zoologisches Interesse. Eisbär Knut gucken in seinem Gehege und Kanzlerin Merkel gucken im Parlament, beide Male gibt es einen tiefen Graben zwischen Besuchern und Besuchten. Man guckt auf etwas Fremdes, Unverständliches. Doch während Knut Begeisterung auslöst, empfinden die Besucher für die Politiker eher Ablehnung.
Das haben jüngst wieder erschreckende Zahlen des Instituts für Demoskopie Allensbach belegt. Demnach halten nur 17 Prozent der Deutschen die Politiker für fähig und kompetent, nur 28 Prozent für verantwortungsbewusst. Gerade mal ein gutes Viertel unterstellt, sie wollten das Beste für das Land, und sie leisteten viel und arbeiteten hart. Das heißt: In den Augen der meisten Bürger liegt das Schicksal des Landes in den Händen einer faulen und unfähigen Bande.
Faul sind sie nicht, das zeigt die tägliche Nahsicht in Berlin. Aber unfähig? Nicht verantwortungsbewusst?
Manchmal wirkt das alles so, in den hessischen Wochen zum Beispiel. Ein hässlicher Wahlkampf, in dem Ministerpräsident Roland Koch (CDU) Ressentiments gegen ausländische Jugendliche schürt, in dem sich die Spitzenkandidatin der SPD, Andrea Ypsilanti, darauf festlegt, nicht mit der Linken zu kooperieren. Und dann ein unklares Wahlergebnis und eine Andrea Ypsilanti, die den SPD-Vorsitzenden Kurt Beck belatschert, dass sie doch mit den Linken kooperieren darf, und sie darf, womit beide ein Versprechen gebrochen haben. Ein erbitterter Machtkampf in der SPD, und jetzt eine geschäftsführende Regierung in Hessen, die so richtig nicht regieren kann.
Wenn man ein Drehbuch für ein Stück hässlicher Demokratie schreiben sollte, Hessen hätte den Stoff geliefert. Politik ist hässlich, schmutzig und gemein wie jeder andere Lebensbereich auch, aber keiner wird so grell ausgeleuchtet von den Scheinwerfern der Medien, die ihr eigenes Spiel dabei spielen, nicht immer ein gutes. Das Misslingen ist eher eine Schlagzeile wert als das Gelingen, der Streit macht eher eine Story als der Friede.
Es sind die Akteure des politischen Systems, die an seiner Auszehrung arbeiten. Man erlebt, wie die Gewaltenteilung sich aufhebt, wie die Politik - das Parlament und die Exekutive - zunehmend mit dem Bundesverfassungsgericht ihr Geschäft betreibt und dessen Entscheidungen in die Taktik mit einbaut. Wie der Bundesrat zum Blockadeinstrument umgebaut wurde. Man erlebt, wie andersherum manche Richter des Bundesverfassungsgerichts die rote Robe der Enthaltsamkeit immer häufiger abstreifen und sich zur Lage der Nation politisch äußern. Daran, dass der Bundespräsidentenposten von den Parteien ausgekungelt wird, hatte man sich schon gewöhnt, bevor sich Guido Westerwelle damit öffentlich im Fall Köhlers brüstete. Wir lachen über Berlusconi-Land und sehen doch italienische Spurenelemente auch hier.
Manfred G. Schmidt, Professor für Politologie in Heidelberg, sieht deshalb nicht nur die Vorzüge der Demokratie, sondern auch ihre Gefährdungen. Das Wort von der »geglückten Demokratie« seines Heidelberger Kollegen Edgar Wolfrum hält er für zu nobel als Kennzeichnung der Bundesrepublik, das von der »feindlosen Demokratie« des Ulrich Beck für mittlerweile überholt und widerlegt.
Bei Schmidt bekommt das deutsche System Bestnoten in der Machtaufteilung zwischen Bund und Ländern. Aber in der Effizienz? Für diese Machtaufteilung bezahle man einen hohen Preis.
»Die Demokratie ist zu langsam und zu schnell«, sagt Schmidt. Zu schnell, weil der Herrschaftsauftrag nur für kurze Zeit vergeben wird. Zu langsam, weil kurzfristige Erfolgsnachweise die langfristigen und notwendigen Projekte erschwerten.
Es gäbe dennoch keine schwere Krise der Demokratie in Deutschland, »Weimar ist nicht in Sicht«, aber wenn man Schmidt richtig versteht, in erster Linie deshalb, weil der innere Feind fehlt: »Die Linke«, sagt er »ist auch nicht die Anti-System-Partei.« Sie sei eine Oppositionspartei. Was es brauchte, um Weimar herbeizuführen, das wäre eine Mehrheit der Armen und eine Anti-System-Partei. Diese harten Indikatoren für einen Demokratiezerfall seien nicht gegeben, sagt Schmidt.
Allerdings, Europa zehre die Demokratie aus, die Europäische Union, das sei nicht Demokratie, sondern »government of governments, by governments, and for governments«. Das ist eine Anspielung auf die berühmte Demokratiedefinition des US-amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln von 1863, wonach die Demokratie »government of the people, by the people, and for the people« ist. »Der EU«, sagt Schmidt, »fehlt der Demos.«
Aber die Sache, die Schmidt am meisten Sorgen macht, ist das, was er »die Aufkündigung des Loser's Consent« nennt, die Einsicht des Verlierers in die Niederlage. Dabei denkt er nicht nur an Robert Mugabe in Simbabwe, sondern auch an Gerhard Schröders Gebaren nach der Bundestagswahl 2005. Man müsse doch mal die Kirche im Dorf lassen, hatte Schröder Merkel angeraunzt, als diese den Auftrag zur Regierungsbildung für sich reklamierte, weil die Union knapp stärkste Kraft geworden war. »Wenn das Schule machen würde, wäre das wirklich beunruhigend«, sagt Schmidt. »Da liegt so viel Dynamit drin.«
Macht es nicht schon Schule? Ypsilanti hat in Hessen nicht einsehen wollen, dass sie die Wahl knapp verloren hat. Es drängte sie mit aller Macht zur Macht, und dafür war sie bereit, ihre Wähler zu betrügen.
Manchmal mag man nicht mehr hinsehen, und dieser so leicht hingeschriebene Satz ist genau das Problem von Peter Limbourg. Er sitzt an seinem Schreibtisch in der Jägerstraße in Berlin und blickt von dort auf sechs Bildschirme, auf denen Nachrichtenkanäle laufen. Bald werden es zwölf sein. Er muss in Echtzeit wissen, womit die Konkurrenz lockt. Limbourg ist ein Verteidiger der Demokratie, weil er im Informationsslalom der Fernsehzuschauer eine neue Stange aufgestellt hat. Informationsslalom nennt der Fachmann das Verhalten des Fernsehzuschauers, der sofort wegschaltet, wenn sich auch nur der Verdacht einer Nachrichtensendung auftut. Dieser Slalom endet meist bei den Privaten, bei denen man oft unbehelligt bleibt von politischen Informationen.
Peter Limbourg, Chefredakteur von N24, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Nachrichten bei Sat.1 wieder einzuführen. Gerade wenn man wisse, dass einem die Leute das nicht gierig aus den Händen reißen, »gerade dann muss man sich besondere Mühe geben, die Dinge zu erklären«. Das Fernsehen ist das Massenmedium des 20. Jahrhunderts gewesen, und es bleibt es auch eingangs des 21. Jahrhunderts. Wer Fernsehen macht, bestimmt maßgeblich über das Leben und die Interessen der Leute.
Limbourg will das Feld nicht freiwillig seinen Kollegen von ARD und ZDF überlassen. Mag ja sein, dass die Öffentlich-Rechtlichen die Politikinteressierten vor »Tagesschau« und »heute« sitzen haben, aber nicht einmal mehr zehn Prozent von deren Zuschauern sind unter 50 Jahren. Die anderen schauen RTL und Sat.1. »Es kann sein, dass ganze Generationen komplett infofrei aufwachsen«, sagt Limbourg. Außer man tut was dagegen, und wenn man das macht, dann geht man ein Risiko ein. In jeder Sekunde können Limbourgs Chefs ablesen, ob er wieder Leute vergrault hat. Es gibt für jede Sekunde einen Punkt auf der Zuschauerkurve. Da sind sie ausgestiegen, genau bei diesem Beitrag: Brüssel zum Beispiel ist ein echter Downer, und Szenen aus Nahost. Klick, weg.
»Es erfordert Mut, auch politische Themen zu setzen, die nicht automatisch Quote bringen«, sagt Limbourg. Und es geht dann, wenn man den Leuten erklärt, was diese Politik da in Berlin mit ihrem Leben zu tun hat. Oder wenn richtig die Fetzen fliegen. Kontinuierliche Berichterstattung über Normalzustände der Politik aber ist schwer. »Wir können und wollen nicht den Deutschlandfunk verfilmen«, sagt Limbourg.
Eigentlich wäre das nicht schlecht für die Demokratie, findet Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach. Ihre Dependance in Berlin, eine sehr schmucke Villa in Berlin-Grunewald, ist die letzte Station dieser Reise durch die Nachtseiten der Demokratie.
Renate Köcher ist eine elegante Frau, die den Deutschen seit vielen Jahren tief ins Gemüt blickt. Sie kennt uns, sie weiß, wie wir denken und fühlen, und soll jetzt sagen, wie bedroht die Demokratie wirklich ist.
In einem langen Gespräch nennt sie einige Bedrohungen, die EU, Zurüstungen bei der inneren Sicherheit zu Lasten der Freiheit, aber das alles macht ihr nicht wirklich Sorgen. Wirklich Sorgen machen ihr die Leute, die sich Informationen nur noch aus dem Fernsehen holen.
»Das Fernsehen tut sich schwer mit komplexen und abstrakten Botschaften, es braucht den Einzelfall, die Situation, den einzelnen Menschen.« Wer sich fast nur über das Fernsehen informiere, verliere den Überblick, den Sinn für das Große und Ganze, für die Komplexität einer Demokratie. »Es wird«, sagt Renate Köcher, »immer weniger in Systemkategorien gedacht und abstrahiert. Es nimmt zu eine stärker fragmentarische Urteilsbildung, die sich auch oft am Einzelfall orientiert.«
Die Lösung sei Lesen, findet Köcher und kommt zu dem Punkt, den sie dramatisch findet. Anfang der neunziger Jahre lasen weit über 50 Prozent der Deutschen zwischen 14 und 29 Jahren eine Tageszeitung. Jetzt sind es nicht mal mehr 30 Prozent. Und das Leseverhalten ändert sich kaum im Laufe eines Lebens. Wer mit 20 keine Tageszeitung liest, liest auch keine mit 50. Man könne sich nicht damit beruhigen, dass die Jungen zu den Online-Medien abwandern, sagt Köcher. Es seien eher die Leser von Tageszeitungen, die sich im Internet politisch informieren.
Was das heißt für die Demokratie? »Das Urteilsvermögen der Gesellschaft sinkt.« Die Folge kann man sich ausmalen, »eine größere Manipulierbarkeit durch geziel- te Selektion, Emotionalisierung und die Organisation von Aufregungszyklen«. Mit anderen Worten, die Gesellschaft wird anfälliger für Populismen aller Art und den Wunsch, das, was gerade populär ist, machtvoll durchzusetzen, also nicht unbedingt in einem komplizierten, langsamen demokratischen Verfahren.
So ist der Befund nach einer langen Reise: Die Demokratie in Deutschland lebt, aber sie wird vernachlässigt, mehr und mehr. Das liegt an Politikern, Journalisten und Bürgern, die sie als selbstverständlich hinnehmen, als gesichert für alle Zeiten, und deshalb zum kleineren Teil schändlich mit ihr umgehen, zum größeren Teil unaufmerksam. Beides verträgt sie nicht gut, und deshalb ist sie keineswegs auf alle Zeiten gesichert.
»Demokratie braucht kontinuierliche Aufmerksamkeit und Zuwendung«, sagt Renate Köcher.
Das ist der Auftrag, an alle.
MITARBEIT: JANINE WERGIN
Von Dirk Kurbjuweit und Christoph Schwennicke