FRANKREICH Gefährlicher Mann
Jeder hat so seine Bürde zu tragen in diesen schwierigen Zeiten in Frankreich.
Jacques Collard etwa, Chef des feudalen Pariser Pavillon-Restaurants »L'Espace Cardin«, leidet als Nachbar des Elysee-Palastes darunter, daß seine vornehme Kundschaft nicht mehr so unbekümmert vorfahren und parken kann wie vor der Pariser Terrorwelle.
Polizisten und Sperrgitter um das Allerheiligste der Nation vergraulen die Gäste. Deswegen hat sich Collard an den Innenminister und an den Elysee gewandt. Weil die verschärften Sicherheitsvorkehrungen sein Lokal einzingeln, stehe ihm staatliche Entschädigung zu, so »wie Bauern in Dürreperioden«.
Millionen Franzosen hätten sich gern mit ähnlichen Sorgen an die Regierung gewandt. Streikende Eisenbahner legten wochenlang die Züge lahm; Metro- und Busfahrten zum Arbeitsplatz wurden zu stundenlangen Abenteuern in Enge und Kälte; der Strom fiel aus, die Post blieb weg. Als auch noch Schnee und Frost über Frankreich hereinbrachen erfuhren die Pariser, daß es in der Stadt an die 15000 Obdachlose gibt, denen nachts Kirchen und Metro-Stationen geöffnet werden, damit sie überleben.
Der Franc fiel und fiel, und mit ihm das Selbstvertrauen. »Frankreich wird der kranke Mann Europas«, schrieb »Le Monde« und ließ nicht einmal den Trost eines Fragezeichens.
Frankreich hat schon mehr als einen Streik, mehr als eine Abwertung unbeschädigt überstanden. Diesmal beunruhigt die Franzosen etwas anderes: Die ihnen so wichtige Balance zwischen Staat und Gesellschaft stimmt nicht mehr. Eine Regierung, die sich stets als stark darstellte, erweist sich plötzlich als unstet und schwach. Selbst für den rechten »Figaro« ist Frankreich »das Land des Unvorhersehbaren« geworden.
Die da oben und die da unten haben Schwierigkeiten miteinander. Der sozialistische Ex-Premierminister Laurent Fabius erkannte: »Die Demokratie steht auf dem Kopf.« Das traditionell staatsgläubige Volk fühlt die Regierung nicht mehr in der richtigen Dosierung - mal ist sie zu stark, dann wieder, wenn's drauf ankommt, zu schwach.
»Die Franzosen«, erläutert Pierre Charpy, 67, so etwas wie Chefideologe der Gaullistenpartei RPR, »weisen einerseits die Staatsmacht ständig zurück bestehen aber darauf, ständig mit ihr und durch sie zu leben. Jeder will Reglementierung, aber nur für die anderen.«
Seit der Gaullist Jacques Chirac die Regierung führt, ist die Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft ständig gewachsen. Der »Bulldozer« Chirac - so nannte ihn halb liebevoll, halb zur Vorsicht mahnend sein politischer Ziehvater, der 1974 verstorbene Staatspräsident Pompidou - hat seinen Landsleuten zuviel zugemutet. Er hat zumindest ihre Reformfreude völlig falsch eingeschätzt.
»Die Franzosen«, sagt Charpy, »sind immer für Reformen. Aber sobald deren Folgen sichtbar werden, sobald sich gar ein Risiko ankündigt, sagen sie: Ah, non.« Sie sagen es immer häufiger und immer lauter.
Der rechte Ex-Premierminister Raymond Barre klagte vor wenigen Tagen, Chirac habe der Nation eine »Überdosis« an Neuerungen zugemutet. Der frühere Staatspräsident Giscard d'Estaing rügte an Chirac »Irrtümer in Methode und Kalender«. Und der linke »Nouvel Observateur« fragte, ob das »grausame Wort« de Gaulles über Giscard d'Estaing - »sein Problem ist das Volk« - jetzt nicht auf Chirac passe.
Die Krise der Gesellschaft, die »niemand mehr zu verstehen scheint« ("Le Monde"), begann mit dem für die Fünfte Republik einmaligen Experiment der Kohabitation zwischen dem bis 1988 gewählten sozialistischen Staatspräsidenten
Francois Mitterrand und der rechten Regierungsmehrheit unter Chirac. Die befürchtete Verfassungskrise ist bisher nicht eingetreten, aber die Beziehungen zwischen den Partner-Rivalen Mitterrand und Chirac sind so konfliktreich - beide haben die Präsidentschaftswahlen 1988 im Auge -, daß Frankreich statt von Kohabitation fast nur noch von Koexistenz spricht.
Das hat Folgen für das gesamte Machtsystem der Fünften Republik. Das Organ der zur Regierungskoalition gehörenden Republikanischen Partei, »Le journal des Republicains«, sprach aus was manche insgeheim fürchten: »Unter unseren Augen zeichnet sich bereits die Sechste Republik ab.« Ist es wirklich schon soweit?
Wie eh und je kann das politische Temperament der Franzosen, ihre ständige Bereitschaft, verbal zu explodieren, leicht hinwegtäuschen über eine tief konservative Unbeweglichkeit.
Kleine Rituale, die emotionale Beständigkeit anzeigen, klassische Anzeichen, daß »la France profonde«, das tiefe, das wahre Frankreich, weiter existiert, leben tröstlich fort.
Noch immer fegen - mit Reisig-, nicht mit Plastikbesen - die Heerscharen der »balayeurs« mit Hilfe kunstvoll geschleuster Rinnsale längs der Trottoirs die Straßen in Groß- und Kleinstädten. Wie seit Menschengedenken schneiden die Franzosen jeden erreichbaren Baum und Busch in geometrische Formen, unterwerfen Parks und Gärten kleinbürgerlichem Rigorismus.
Ob im Bistro oder im Büro, die Franzosen bleiben weiterhin »leicht, widersprüchlich, meckernd, impulsiv«, wie der Schriftsteller Jean d'Ormesson analysierte.
Das spontane, das geschliffene Wortes stand schon immer höher als die Tat. An der Theke beim Rotwein, in den pathetischen Politiker-Reden oder den endlosen Fernsehdebatten wiegt traditionell der literarisch-philosophisch durchwirkte Diskurs schwerer als die schlichte Tat. Selbst in Sportsendungen des Fernsehens sind mehr Journalisten beim Reden zu sehen als Sportler beim Wettkampf.
Aber nun hat einer, sozusagen von ganz oben her, die Wort-Tat-Ordnung ins Gegenteil verkehrt: Premier Chirac, 54, Tatmensch durch und durch. Giscard d'Estaing hat ihn einmal einen ewig »Aufgeregten« genannt. Jetzt regt Chiracs besessene Zickzack-Agilität Frankreich auf.
Im Handstreich hatte Chirac einst das Pariser Rathaus genommen - seit neun Jahren ist er ein uneingeschränkt respektierter Bürgermeister. Die Gaullisten-Partei hat er sich im Nu unter den Nagel gerissen - seit zehn Jahren ist er deren kaum ersetzbarer Führer.
Der hochgewachsene Mann mit der spitzen Nase und dem schütteren, angeklatschtem Haar wird, oft widerwillig, bestaunt als unermüdlicher Arbeiter. Er ist das, was die Deutschen tüchtig nennen - das Französische kennt keine genaue Entsprechung dafür -, und damit seinen Landsleuten unheimlich, fremd.
Dieser politische Aktivist neigt dazu, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Ihm fehlt die urfranzösische Eigenart, sich zu arrangieren, wendig zu bleiben in allen Lebenslagen. Ein ausländischer Diplomat, der ihn seit Jahren vor Ort beobachtet, hält ihn letztlich »für den unfranzösischsten aller Politiker« und fragt spaßeshalber: »Wo hat der eigentlich seine Chromosomen her?«
In seiner Reform-Hektik hatte Chirac offenbar die Lektionen aus Frankreichs jüngster Geschichte verdrängt. 1969 schickten die Wähler Charles de Gaulle per Referendum in den Ruhestand nach Colombey, weil sie sich durch seine »großartigen Unternehmungen« überfordert und belästigt fühlten.
1981 wählte Frankreich Francois Mitterrand und dessen Linke nicht, weil es plötzlich sozialistisch geworden wäre, sondern weil es den volksfremden Grandseigneur Giscard loswerden wollte. 1986 stimmte Frankreich rechts, weil es von den Sozialisten genug hatte.
Beide Voten waren Anti-Wahlen. Chirac aber gebärdete sich nach seinem Einzug ins Hotel Matignon, das Palais des Premierministers, als habe er ein nationales Mandat für einen harten Rechtskurs mit liberal-kapitalistischen Neuerungen erhalten. Er legte los wie ein Exorzist, der Frankreich den sozialistischen Spuk austreiben und den rechten Geist einbläuen müßte.
An ähnlich gewirkten Helfern fehlte es nicht. Als Innenminister holte sich der Premier den ultrarechten Charles Pasqua, über den Sozialistenchef Lionel Jospin urteilte: »Dieser Mann ist gefährlich.« Justizminister wurde der Industrieführer und Nichtjurist Albin Chalandon.
Wie die Personen, so das Programm. Die auf Frankreich niederhagelnden Chirac-Reformen waren ideologisch eingefärbt und befriedigten erst einmal die Stammkundschaft: Reprivatisierung der von den Sozialisten verstaatlichten 65 Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen, dazu - gegen den Willen einer Bevölkerungsmehrheit - der größten Fernsehanstalt TF 1.
Die Steuer auf große Vermögen wurde abgeschafft, Steuerflüchtlinge erhielten eine Amnestie, Arbeitgeber durften wieder ohne behördliche Genehmigung entlassen und die wöchentlichen Arbeitsstunden einseitig festsetzen.
Dann - im vergangenen Septembererlebte der stramme Chirac die erste Pleite. Seine kraftmeierische Politik versagte vor der Terrorwelle, die über Paris hinwegging, 10 Tote und über 160 Verletzte forderte. Blamiert war Innenminister Pasqua, der versprochen hatte, »die Terroristen zu terrorisieren«.
Die Bürger sahen erstmals die Rechtsregierung in der Unterwäsche. Es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, denn mit der Stimmung der Franzosen ging es seit den letzten Sommerferien ohnehin spürbar bergab.
»Eine gesunkene Moral, ohne daß man wirklich von Angst sprechen kann«, beobachtete der Generalsekretär des Elysee-Palastes, Jean-Louis Bianco, an seinen Landsleuten. Gaullist Charpy registrierte einfach »la frousse«, Schiß.
Es ist laut Bianco eine »individuelle« Angst. Sie drückt nicht Sorge um Volk und Staat aus, sondern um Person und Familie: Überfälle in der Metro, Einbrecher, Verlust des Arbeitsplatzes, Drogengefahr für die Kinder.
Frankreich sah, wie Symbole der Lebenslust und der Frechheit weggerafft wurden. Der Politclown Coluche starb durch einen Motorradunfall, der volkstümliche Parodist Thierry Le Luron durch Krebs oder Aids. Beiden bereitete eine aufgewühlte Nation wahre Staatsbegräbnisse.
Weniger denn je gefragt sind - vor allem bei der Jugend - Ideologien, Parteien und das, was die Franzosen »la politique politicienne« nennen, die Politik als Ränkespiel. »Wir befinden uns im Nach-Liberalismus wie im Nach-Sozialismus«, schrieb der Soziologe Alain Touraine. Die politische Szene bilde sich neu: »Wir wollen nicht mehr für eine bessere Gesellschaft kämpfen; wir erwarten von der Politik und der Macht nur Respektierung unserer Chancen und Freiheiten.«
Was das bedeutete, bekam die Regierung Chirac jetzt zu spüren. Erst revoltierten im Dezember Hunderttausende von Schülern und Studenten, dann begann der öffentliche Dienst zu streiken. Beide Sozialkonflikte gingen von der Basis aus, beide überraschten die etablierten Politiker.
Und in beiden Fällen ging es anfangs nicht so sehr um Forderungen, sondern um Abwehr staatlichen Drucks. Die vorakademische Jugend sträubte sich gegen schärfere Selektion; die Eisenbahner, von denen der Streik ausging, bekämpften ein Beförderungssystem nach Leistung statt nach Dienstalter.
Zwei Gesellschaftsklassen und zwei Generationen lehnten einen regierungsamtlich verordneten Auslesewettkampf nach der Regel vom Recht des Tüchtigeren ab. Haßerfüllt bescheinigte der Fackelträger der Ultrarechten, Louis Pauwels, im »Figaro-Magazine« dieser Jugend, sie sei von »geistigem Aids« befallen.
»Die Generation von 1986«, urteilt dagegen der Historiker Felix Torres, »hat das politische Frankreich entschuppt und ein modernes Land hervortreten lassen.« Frankreichs Jugendliche haben sich eine Kultur geschaffen, die all das pflegt, was der rechten Regierung belanglos oder überflüssig vorkommt: Mitgefühl für die Schwachen, Großmut gegenüber Außenseitern.
Mehr als 50 Prozent der Jugendlichen, so geht aus einer dem Elysee-Palast vorliegenden Umfrage hervor, sind bereit zu kämpfen - gegen die diskriminierenden Einwanderungsgesetze, gegen Privatgefängnisse, für Entwicklungshilfe, für die vom verstorbenen Coluche gegründeten Armen-Küchen »Restaurants des Herzens«.
So alt Chirac und seine Mitstreiter aussehen mochten, einer gab sich jung: der 70jährige Mitterrand. Einfühlsam, aber auch berechnend - schließlich sind die Schüler schon bald Wähler - versicherte er der protestierenden Jugend, er befinde sich »auf derselben Wellenlänge«.
Als die Regierung sich aufregte, weil Mitterrand eine Delegation streikender Eisenbahner empfangen hatte, konterte der Präsident: »Ist eine ausgestreckte Hand ein Übel für Frankreich?«
Gerade mit dem Ausstrecken der Hand hat Chirac seine Mühe. Er stimmte zu, als die Gaullistenpartei mit streikgeschädigten Bäckern, Metzgern und Krämern gegen die landesweite Behinderung durch den öffentlichen Dienst demonstrierte. Eine Gesellschaftsschicht Frankreichs verteufelte auf der Straße die andere.
So ermöglichte es die Rechte dem linken Mitterrand, als Präsident aller Franzosen immer höher über der Nation zu schweben. An die 60 Prozent der Franzosen, das zeigen Umfragen, schätzen ihn heute. Statistisch bedeutet das: Nicht nur Linkswähler sind seine Anhänger.
Im ersten, noch fröhlichen Teil ihrer Aufmärsche hatten Schüler und Studenten einen Lieblingsslogan gerufen: »Tonton, tiens bon, nous revenons« = Onkel (Mitterrands Spitzname), halt durch, wir kommen wieder. Kurz nach den Protestmärschen veröffentlichte die Studentenzeitschrift »L'Etudiant« Resultate einer Jugendbefragung, die Frankreich verblüfften. Auf die Frage nach den am meisten geschätzten Personen antworteten 70 Prozent der 15- bis 18jährigen, die Großeltern und alten Leute seien ihnen am liebsten. Bei denen fänden sie Trost, Zartgefühl und gute Ratschläge.
Staatspräsident Mitterrand ist dreifacher Großvater.