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AUSSENPOLITIK Gefährlicher Marschbefehl

Berlin will die überforderte Bundeswehr nach Zentralafrika und ins afghanische Hinterland entsenden. Deutsche Soldaten zahlen so den Preis für die Kriegsdienstverweigerung am Golf.
Von Ralf Beste und Alexander Szandar
aus DER SPIEGEL 25/2003

Ganz nebenbei schickte die Bundesregierung am Freitag vergangener Woche 350 deutsche Soldaten auf eine gefährliche Mission. Das Kabinett hielt es nicht für zwingend, sich eigens zu treffen, sondern erteilte die Zustimmung schriftlich.

Außenamtschef Joschka Fischer und sein Kollege aus dem Ressort Verteidigung, Peter Struck, entledigten sich dieser Aufgabe in Brüssel, der eine im Hotel, der andere während einer Nato-Tagung. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul unterzeichnete die Dokumente in ihrer Wiesbadener Wohnung, Kanzler Gerhard Schröder an seinem Schreibtisch in der Regierungszentrale.

An die Stelle einer Diskussion im Kabinettssaal trat das so genannte Umlaufverfahren: Per Fax erreichte das zwölfseitige Schriftstück die Minister, per Fax sandten sie es unterschrieben zurück.

So routiniert geht es mittlerweile zu, wenn die Berliner Koalition Auslandseinsätze der Bundeswehr verfügt. Zwar hatte das Kabinett schon zweimal über den Einsatz gesprochen, doch erwies sich am Ende der Zeitdruck als so groß, dass keine abschließende Beratung möglich war. Am Mittwoch muss noch der Bundestag zustimmen, dann können deutsche Sanitäter, Transportflieger, Stabssoldaten und eine kleine Schutztruppe den Uno-Einsatz im Nordosten des Kongo unterstützen. Ziel der Operation ist, das gegenseitige Abschlachten der verfeindeten Volksgruppen der Hema und Lendu zu unterbinden.

Der Welt gehen die Konflikte nicht aus - und damit auch der Bundeswehr nicht die Einsatzorte. Schon in nächster Zeit können weitere Missionen auf sie zukommen.

* Derzeit befindet sich ein aus vier Ministerien rekrutiertes Expertenteam auf Erkundungsreise in Afghanistan. Es soll klären, ob deutsche Soldaten nicht nur in Kabul, sondern auch im gefährlichen Hinterland eingesetzt werden.

* Verteidigungsminister Struck vereinbarte mit den Nato-Kollegen, dass die Allianz die Stabilisierung im Irak unterstützen darf. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Bundeswehr im nächsten Jahr daran beteiligen wird.

* Uno-Generalsekretär Kofi Annan forderte vorige Woche eine Blauhelmtruppe als Puffer zwischen Israelis und Palästinensern. Gerhard Schröder hatte entsprechende Ideen schon auf einer Kommandeurstagung der Bundeswehr vor gut einem Jahr vorgetragen: Eine deutsche Teilnahme sei denkbar - trotz »historisch bedingter Sensibilitäten gegenüber Israel«.

Für Einsätze der Bundeswehr im Ausland scheint es Tabus nicht mehr zu geben. Sie wird mehr und mehr zu einem Instrument weltumspannender Politik deutscher Regierungen. Dabei überfordern sie ihre Truppe, denn die ist längst noch nicht gerüstet, ein »global player« zu sein.

Bei höchst unklaren Erfolgsaussichten drohen ähnliche Katastrophen wie am vorvergangenen Samstag in Kabul. Da sprengte sich ein Attentäter neben einem Bus der Bundeswehr in seinem Auto in die Luft und riss so vier Soldaten mit in den Tod.

Doch was soll Berlin schon tun? Mit dem Nein zum Irak-Krieg hat die Bundesregierung vor allem gegenüber den Amerikanern ihren außenpolitischen Kredit bis zum Limit ausgereizt. Jetzt werden die Schulden abgestottert.

Die Deutschen können sich schwerlich entziehen, wenn die USA eine Ausweitung der labilen Afghanistan-Mission über Kabul hinaus wünschen. Und sie können ebenso wenig Nein sagen, wenn Frankreich, der treue Verbündete im diplomatischen Irak-Konflikt mit Washington, Schwarzafrika befrieden will.

Der Einsatz im Kongo, seufzt ein Diplomat, sei eine Folge des »Pralinen-Gipfels« vom April, als die Bundesrepublik, Frankreich, Luxemburg und Belgien Initiativen in der europäischen Militärpolitik ankündigten. Was eignete sich da besser als der ehemalige Kolonialkontinent Afrika?

Die EU-Mission im Kongo ist bis zum 1. September befristet. Zudem sind die Deutschen nicht im umkämpften Bunia stationiert, sondern in Entebbe, 300 Kilometer weit entfernt im Nachbarland Uganda. Ob man diese Beschränkungen einhalten kann, ist ungewiss. Der Druck der Franzosen, von den Deutschen zusätzliche Hilfe zu bekommen, könnte rasch wachsen.

Weil es um Völkermord geht, trifft Chirac in der Bundesregierung im Prinzip auf Wohlwollen. Man habe »die Lehren aus Srebrenica und Ruanda« zu ziehen, sagt etwa die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, und Heidemarie Wieczorek-Zeul pflichtet ihr bei: »Der Schutz vor Mord in großem Umfang«, so die Sozialdemokratin, sei die »wirkliche Begründung« für den neuesten Einsatz.

Soldaten zu Samaritern zu verklären hat bei Konservativen schon Tradition. 1992 stilisierte CDU-Wehrminister Volker Rühe die Sanitäter, die zum ersten Blauhelm-Einsatz nach Kambodscha ausgerückt waren, kurzerhand als »Engel von Phnom Penh«. Die Entsendung eines Afrika-Korps von 1700 Soldaten in den Hungerstaat Somalia pries der damalige Unions-Fraktionschef Wolfgang Schäuble 1993 als »zutiefst humanitäre Aktion« - und in seltener Eintracht schickte der Bundestag sechs Jahre später sogar ohne Uno-Mandat Kampfjets in das Kosovo, um eine »humanitäre Katastrophe« abzuwenden.

In zunehmendem Tempo jagt das Duo Schröder/Fischer die Bundeswehr in neue Engagements: Kampftruppen rückten in das Kosovo, Mazedonien und Afghanistan ein, ABC-Abwehrspezialisten wurden nach Kuweit und Kriegsschiffe ans Horn von Afrika geschickt, Sanitäter und Transportflieger ins fernöstliche Osttimor abkommandiert (siehe Grafik).

Der militärpolitische Aktionismus ist eine Folge der wiedergewonnenen Souveränität nach dem Fall der Berliner Mauer. Und die deutschen Soldaten fügten sich schnell in die neue Rolle - doch ihre Ausrüstung hinkt den erheblichen Anforderungen weit hinterher.

So fehlt es vor allem an Flugzeugen und Schiffen für den Transport in ferne Länder. Weitreichende Kommunikationsmittel oder moderne Computer für Gefechtsstände sind nicht im Bestand. Mühsam wird immer wieder lebenswichtiges Material aus der ganzen Republik zusammengeklaubt oder bei den Verbündeten ausgeliehen. Vielmehr bestellte das Heer weiter im alten Trott schwere Panzerhaubitzen und Schützenpanzer - als stünden noch die Sowjets an der deutschen Grenze.

Nicht minder peinlich: Oft genug ist das Gerät nicht einsatzbereit, weil Ersatzteile Mangelware sind. Selbst in Kabul standen »Fuchs«-Panzer und neue »Dingo«-Patrouillenfahrzeuge wochenlang nutzlos in der Werkstatt. Es fehlt überall an Geld.

Um die Bundeswehr für die Ansprüche endlich fit zu machen, forciert Minister Struck in neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien den Umbau zur global einsetzbaren Interventionsarmee. Zugleich aber sträubt er sich, die Wehrpflicht, ein Relikt des Kalten Krieges, zugunsten der kleineren Profi-Truppe aufzugeben. Deshalb befindet sich die Bundeswehr in einer seltsamen Grauzone. Sie ist bei ihren Auslandseinsätzen halb Kampftruppe und halb Friedensmission - und diese Unentschiedenheit kann die Soldaten gefährden.

In Kabul galten schon schwarz-rot-goldene Fähnchen als eine Art Lebensversicherung. Die Bundeswehr hält sich für beliebt, weshalb die Truppe etwa zum Flughafen mit dem Bus fuhr - wie das Heeresmusikkorps daheim. Das kostete jetzt vier junge Männer das Leben, und 29 wurden zum Teil schwer verletzt.

Trotzdem weist Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan Forderungen aus der CDU/CSU-Opposition zurück, schwere Panzer nach Kabul zu schicken: Die Bundeswehr, findet er, dürfe nicht wie eine »Besatzungsmacht« auftreten.

Obwohl sich die gezielten Attacken auf die Isaf-Friedenstruppe am Hindukusch nach einem internen Armeebericht mehren, lässt Struck gerade ein weiteres Himmelfahrtskommando vorbereiten: Unter dem Schutz eines Häufleins von etwa 200 Soldaten sollen zivile Wiederaufbauhelfer in die afghanische Provinz ausrücken. Vorbild sind amerikanische und britische »Provincial Reconstruction Teams«.

Ende Juni will die Regierung über den Einsatz befinden. Besonders pikant ist dabei, dass er nicht unter dem Uno-Mandat für die friedenssichernde Isaf-Truppe ablaufen soll, sondern mit dem Kampfauftrag der Anti-Terror-Operation »Enduring Freedom« - für die hatte Gerhard Schröder dem US-Präsidenten bekanntlich »uneingeschränkte Solidarität« versprochen.

Bevorzugtes Einsatzgebiet ist Herat, 650 Kilometer Luftlinie von Kabul entfernt. »Relativ sicher« sei es dort, sagen Struck und Fischer. Aber was heißt das schon? Analysen des Auswärtigen Amts prognostizieren schwere Risiken: Scharmützel zwischen Gefolgsleuten des mächtigen Gouverneurs Ismail Khan und einem Rivalen, die Rückkehr von »Taliban/Islamisten« - insgesamt ein »wachsendes Spannungspotenzial«.

Heidemarie Wieczorek-Zeul bewertet den Ausflug in die Provinz folglich »eher zurückhaltend«. Die Wiederaufbauhelfer, so ihre Sorge, würden »in eine militärische Aktion einbezogen«. Fischer und andere Spitzen-Grüne sprechen sich dagegen für den Plan aus und - trotz Bedenken führender Militärs - auch der Verteidigungsminister.

Doch was zählen Einwände von Generälen und Entwicklungshelfern, wenn der große Verbündete aus Washington plötzlich wieder ungewohnt versöhnliche Töne anschlägt? Nachdem ihn die Todesnachricht aus Kabul erreicht hatte, beeilte sich George W. Bush, dem deutschen Kanzler zu kondolieren. Seine Anteilnahme, fand ein dankbarer Gerhard Schröder danach, ging »über das hinaus, was unter Verbündeten üblich ist«. RALF BESTE, ALEXANDER SZANDAR

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