TOXIKOLOGIE Gefährliches Chili-Gemisch
Der Mann war von Sinnen: Nackt und blutüberströmt rannte der 42jährige Peter M. in München über die Höhenstadter Straße. Er wälzte sich auf dem Boden, schrie: »Ich bin Gott.« Danach schmierte er Sekundenkleber auf seine Wunden und schlug mit dem Kopf ein Fenster ein.
Die herbeieilenden Polizisten sprühten dem Mann Pfefferspray ins Gesicht - es zeigte keine Wirkung. Mehrere Beamte konnten ihn schließlich doch überwältigen. Als sie dem Rasenden endlich Handschellen angelegt hatten, kollabierte er. Zwei Tage später, am 5. Juli, starb er im Krankenhaus.
Ein Rechtsmediziner obduzierte den Toten. Der Befund: Der Mann sei einen »lagebedingten Erstickungstod« gestorben, nachdem die Beamten ihn gefesselt hatten. Möglicherweise habe ihn aber auch das Kokain umgebracht, das er geschnupft hatte. Pfefferspray »spielte keine Rolle im Obduktionsergebnis«, so die zuständige Münchner Oberstaatsanwältin Barbara Stockinger.
Fall geklärt, Akte geschlossen.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn trotz der bizarren Umstände ähnelt dieser Fall Dutzenden ähnlich gelagerter Fälle in der ganzen Welt: Menschen unter Drogeneinfluss geraten außer Kontrolle, Polizisten greifen zum Pfefferspray, um sie zu bändigen, »und 15 bis 30 Minuten später sind die Leute tot oder im Koma«, sagt John Mendelson.
Der Suchtmediziner vom California Pacific Medical Center in San Francisco hat gerade eine Studie abgeschlossen. Darin erhärtet er einen Verdacht, den Pfefferspray-Kritiker immer wieder geäußert haben: Wer unter Drogen oder Psychopharmaka stehe, für den könne Pfefferspray tödlich wirken.
Schlimm jedenfalls erging es Mäusen in Mendelsons Labor: Einer Gruppe spritzte der Arzt Kokain; die Tiere einer anderen Gruppe bekamen zusätzlich noch Capsaicin verpasst, den Extrakt aus der Chili-Schote.
Als der Forscher nach 24 Stunden wieder an die Käfige trat, waren nur wenige Koks-Mäuse tot, aber gut die Hälfte der Nager, die den Koks-Chili-Mix bekommen hatten. »Capsaicin macht geringere Dosen Kokain eher tödlich«, schlussfolgert Mendelson - jedenfalls bei Mäusen.
Bereits in den sechziger Jahren schützten sich Postboten mit einer Mixtur aus Cayennepfeffer und Mineralöl vor übereifrigen Wachhunden. Park-Ranger in Amerika hielten mit Pfefferspray zudringliche Grizzlybären auf Distanz. In den neunziger Jahren begannen dann Polizisten in aller Welt, das scharfe Zeug einzusetzen.
Capsaicin ist 600-mal schärfer als der schärfste Cayennepfeffer. Der in einem Ethanol-Wasser-Gemisch gelöste Stoff reizt Augen und Schleimhäute. Pfefferspray wirkt aus über zwei Meter Distanz und ist wohl ungefährlicher als Tränengas, Polizisten können damit Gewalttäter in Schach halten, ohne zu Knüppel oder gar Pistole zu greifen. Die meisten Polizeibeamten tragen es seit Jahren am Gürtel. »Etwas Besseres ist nicht verfügbar«, hieß es nach der Einführung bei der Berliner Polizei.
»Wir haben das empfohlen«, rechtfertigt Hans Damm, Leiter des Polizeitechnischen Instituts der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster: »Das Pfefferspray kam aus Amerika als neue Idee und war ein natürlicher Stoff, da konnten auch die Grünen nichts sagen.«
Schwieriger sei schon die Dosierung. Weil die Wirksubstanz aus Chili schwer in reiner Form zu gewinnen ist, greifen die Firmen oft auf synthetisches Capsaicin zurück. Zudem reagieren Menschen sehr unterschiedlich auf die Substanz, »da liegen die wirksame und die tödliche Dosis nicht so weit auseinander«, so Damm.
In den vergangenen sechs Monaten sind in Deutschland mindestens drei Menschen nach einem Pfefferspray-Einsatz der Polizei gestorben. Zwei von ihnen standen unter Drogen, der Dritte hatte starke Beruhigungsmittel verabreicht bekommen.
In den USA hat die Bürgerrechtsbewegung ACLU in den neunziger Jahren etliche Todesfälle nach Pfefferspray-Einsätzen dokumentiert, 26 Menschen starben allein in Kalifornien zwischen 1993 und 1995. Alle bis auf zwei standen unter Drogen, die anderen beiden waren psychisch krank. Experten des US-Justizministeriums kamen in einer anderen Studie trotzdem zu dem Schluss, dass in nur 2 von 63 untersuchten Fällen Pfefferspray den Tod mit verursacht habe.
Tatsächlich kann ein Delirium ausreichen, um jemanden umzubringen. Doch Forscher Mendelson glaubt an eine Wechselwirkung zwischen Chili-Extrakt und Droge. Er vermutet, dass der Stoff dieselben Nervenrezeptoren anspreche, die auch bei einem Wahnzustand aktiv seien. Denn, so sagt er, die dokumentierten Fälle ähnelten sich auf verblüffende Weise: »Fast immer sind es Leute, die verrückte Dinge tun, sie rennen etwa nackt mit einem Messer durch den Straßenverkehr.«
Die deutschen Fälle scheinen seine Theorie zu untermauern. Ein 27-jähriger Drogensüchtiger starb am 31. Oktober in Laucha in Sachsen-Anhalt. Der Mann hatte Crystal - Methamphetamin - genommen. Dann rannte er nackt auf die Straße und schlug mit der Faust Windschutzscheiben von parkenden Autos ein. Danach griff er eine Pfarrerin an. Polizisten sprühten ihm Pfefferspray ins Gesicht - doch der Mann reagierte nicht.
Vier Beamte überwältigten und fesselten ihn schließlich. Wenig später war er tot. Die Obduktion erklärte eine Überdosis der Droge zur Todesursache. Deutschen Rechtsmedizinern sei oft nicht bewusst, dass »Pfefferspray möglicherweise ein Faktor sein kann, der zum Tod beiträgt«, sagt Fred Zack, Forensiker aus Rostock. »Es kann sein, dass wir hier Neuland betreten.« Der Rechtsmediziner hat 2007 selbst einen volltrunkenen Mann aus Ribnitz-Damgarten in Vorpommern obduziert, der nach einem Pfefferspray-Einsatz gestorben war.
In einem weiteren Fall, am 7. August, riefen Angestellte eines Pflegeheims für psychisch Kranke in Essen-Heidhausen die Polizei, weil ein 43-jähriger Patient, ein kräftiger Mann aus Russland, die Mitarbeiter bedroht hatte. Eine Notärztin spritzte dem Mann ein Beruhigungsmittel, doch er sprang aus dem Bett und ging auf die Umstehenden los. Trotz Pfeffersprays konnten die Beamten ihn nur mit Mühe bändigen. Kurz darauf starb er. Vier Monate später steht das Obduktionsergebnis immer noch nicht fest.
Möglicherweise gebe es mit Psychopharmaka ähnliche Wechselwirkungen wie mit illegalen Drogen, meint Mendelson. Dabei hatten Behörden zur Einführung des Pfeffersprays noch gelobt, es eigne sich gerade zum Einsatz gegen psychisch kranke und unter Drogen stehende Menschen.
»Pfefferspray stoppt Menschen im Delirium kaum«, sagt dagegen Mendelson. Der US-Forscher empfiehlt in solchen Fällen Elektroschocker, sogenannte Taser. »Unter diesen Umständen erscheinen die sicherer und effektiver.« CORDULA MEYER