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Ohrfeigen für den Parteisekretär Gefängnis oder totales Berufsverbot

aus DER SPIEGEL 48/1976

Vollständige Zahlen der in Ursus gekündigten Arbeiter sind nicht bekannt. Während es sich nach einigen Berichten um ca. 250 Personen handeln soll, ist in den anderen von etwa 1500 die Rede. Es ist bisher nicht gelungen, diese Differenz zu klären, dennoch scheint es. daß sich eher die zweite der beiden Zahlen bestätigen wird.

In den Tagen vom 4. bis 6. Juli wurden diejenigen Arbeiter, die man bereits vorher zu einer Geldstrafe verurteilt hatte, aufgefordert, sich bei der Miliz-Kommandantur von Ursus zu melden. In der Überzeugung, daß es sich nur um irgendwelche Formalitäten handle, gingen die Leute hin. Sie wurden jedoch verhaftet und nach Warschau, in die Rakowiecka-Straße, gebracht -- auch diejenigen, die ihre Geldstrafe inzwischen schon bezahlt hatten. Es erwies sich nämlich, daß die Warschauer Miliz-Kommandantur die, nach ihrer Meinung zu milden, Urteile beanstandet hatte.

Die strafbestimmenden Kollegien wurden angewiesen, all diese Urteile zu revidieren und sie durch Haftstrafen ohne Bewährung zu ersetzen.

So geschah es auch: Fast alle Urteile lauteten nun auf drei Monate Haft. Manche Verhandlungen wurden unter völliger Ignorierung der in der Strafprozeßordnung verankerten Prinzipien geführt.

So wurden zum Beispiel während einer Verhandlung Aussagen eines abwesenden Zeugen (Zeuge Dynda) zitiert, der behauptete, die Angeklagte hätte Milizionäre tätlich angegriffen. Den Aussagen der Angeklagten schenkten die Richter keinen Glauben und stützten ihre Urteile ausschließlich auf die schriftlichen Aussagen des abwesenden Zeugen. Oft wurde auch ein nur mittelbarer Zeuge der Anklage benutzt (Zeuge Dabek), dessen Wissen über die Sache darauf beschränkt war, daß er in der Milizkommandantur die Personalien der Festgenommenen und die Grunde ihrer Festnahme, laut Bericht der jeweiligen Milizionäre, aufschrieb. Da er aber nicht die Personalien der eskortierenden Milizionäre notiert hatte, gab es keine Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu überprüfen.

Ab und zu passierte es auch, daß die Anklagezeugen die Angeklagten verwechselten und nicht wußten, wo sie diesen oder jenen Angeklagten festgenommen haben wollten.

Nach der Verurteilung wurden die Arbeiter ins Gefängnis nach Bialoleka gebracht. Viele von ihnen haben zwar Berufung eingereicht, in der Regel jedoch ohne Erfolg, weil die Berufungsverfahren mit einer Bestätigung des Urteils endeten.

Die Erklärungen der Arbeiter über körperliche Mißhandlungen, denen sie seitens der Milizionäre ausgesetzt waren, wurden von den Richtern ignoriert.

Nach einem Monat wurde einem Teil (ca. 40) der Verurteilten eine halbjährige Bewährungsfrist für die restlichen zwei Monate Haft angeboten. So haben also Anfang August etwa 40 Arbeiter ihre Zellen verlassen können. Es ist zu betonen, daß diejenigen, die zuerst eine Geldstrafe bezahlt hatten und später erneut zu drei Monaten Haft verurteilt wurden, bisher das von ihnen bezahlte Geld nicht zurückerstattet bekamen. So sind sie wegen ein und derselben Tat zweimal bestraft worden.

Alle von Repressalien betroffenen Arbeiter (also sowohl die fristlos Gekündigten wie auch die Verurteilten) können bis heute nirgends eine Arbeit finden. Das Beschäftigungsverbot für diese Menschen bezieht sich sowohl auf staatliche Betriebe wie auch auf Kooperativen und sogar auf Privatunternehmen, denen man, im Falle einer Weigerung, mit Lizenzentzug droht. Das Warschauer Arbeitsamt weigert sich, mit den nach dem 25. Juni entlassenen Arbeitern überhaupt Gespräche zu führen.

Es gab Fälle, in denen man Leute, die trotz des erwähnten Verbots eingestellt wurden, bald danach wieder rausgeschmissen hat. Die bei den regionalen Berufungskommissionen eingereichten Anträge auf Revision von Kündigungsbescheiden der Betriebsleitungen wurden von der Kommission bisher abgelehnt. Unter den Arbeitern herrscht die Überzeugung, daß sie erst nach einer fünfmonatigen Pause wieder eingestellt werden, damit sie auf diese Weise die Arbeitskontinuität und die mit ihr verbundenen Rechtsansprüche (Rentenversorgung) verlieren.

Am 16. und 17. Juli fand vor dem Woiwodschaftsgericht in Warschau ein Strafprozeß gegen sieben Arbeiter statt, die beschuldigt waren, eine Elektrolok zur Entgleisung gebracht zu haben. Fünf der Angeklagten arbeiteten in den »Ursus«-Werken, einer in der Werkzeugmaschinen-Fabrik in Pruszków, einer war Kraftfahrer und Kiosk-Pächter. Keiner der Angeklagten war vorbestraft. Der jüngste war knapp 21, der älteste 42 Jahre alt.

Verteidiger waren die von dem Gericht bestellten Anwälte. Einziges Beweismaterial waren Photoaufnahmen. Die Urteile lauteten auf fünf, viereinhalb, vier und drei Jahre Gefängnis. Das höchste Urteil bekam der jüngste Angeklagte.

Die Familienangehörigen der Verurteilten befinden sich oft in einer sehr schwierigen materiellen Lage:

* Grzegorz Zielonka, 42, hat eine Ehefrau mit zwei Adoptivkindern im Alter von sieben und acht Jahren. Die Frau hat eine kranke, gebrechliche Mutter zu versorgen und kann deswegen keine Beschäftigung aufnehmen. Die Familie ist ohne Existenzmittel.

* Czeslaw Milczarek, 27, ist Vater von zwei Kindern im Alter von ein und drei Jahren. Seine Frau versorgt außerdem ihre schwer asthmakranke Mutter, hat sich aber trotzdem entschlossen, ihre Erwerbstätigkeit nicht zu unterbrechen.

* Wojciech Czarnecki sorgt für seine vor kurzem operierte Mutter, der man einen Teil des Magens entfernt hat; die Mutter bezieht eine Rente in Höhe von 900 Zloty. Im August fanden vor dem Gericht in Pruzsków zwei Prozesse statt, in denen die Angeklagten beschuldigt wurden, Eier und Zucker aus dem aufgebrochenen Lieferwagen unter der Bevölkerung verteilt zu haben. Insgesamt wurden zwölf Personen verurteilt -- zu Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr (auf Bewährung) und dreieinhalb Jahren Gefängnis. Auch die Familienangehörigen der in diesem Prozeß Verurteilten befinden sich in einer sehr schwierigen materiellen Lage.

Die Zahl der Menschen, die sich nach wie vor in Haft befinden, ist nicht bekannt. Man vermutet, daß es sich um etwa So Personen handelt. Gegen einige von ihnen wird ein Verfahren wegen der entgleisten Lokomotive vorbereitet.

In Untersuchungshaft wird, auch bis heute, ein geistig zurückgebliebener Junge gehalten, der seit seiner Kindheit in ständiger ärztlicher Behandlung ist.

Dieser Bericht enthält ausschließlich Namen von gerichtlich verurteilten Personen aus einem Prozeß, über den in der polnischen Presse berichtet wurde. Die Namen anderer Betroffener sind den Verfassern des Berichtes bekannt, werden jedoch, um die Personen vor eventuellen zusätzlichen Repressalien zu schützen, nicht genannt.

Strafprozesse und Arbeitsentlassungen gab es nicht nur in Radom und Ursus, sondern auch in Szczecin (Stettin), Plock, Wroclaw (Breslau), Bialystok und Warschau.

In der Warschauer Fabrik »Zelmot« wurden 30 Personen entlassen -- am 25. Juni ist hier gestreikt worden. Am nächsten Tag beschloß das Parteiaktiv im Betrieb, daß die durch den Streik verlorene Zeit nachgeholt werden muß. 30 Leute waren damit nicht einverstanden -- sie wurden sofort entlassen.

Die Beihilfen des »Ursus«-Betriebs und der Sozialhilfe-Behörden sind kümmerlich. Anträge auf Beihilfen, zu denen der Betrieb verpflichtet ist und die von den unteren Instanzen genehmigt wurden, werden von den oberen Instanzen (auf Betriebsebene) abgelehnt. Auch die zuständigen Sozialhelfer, an die man sich um Hilfe wandte, haben ihre Unterstützung verweigert. Da die Familienangehörigen der Verhafteten und Entlassenen zumeist von diesen unterhalten wurden, sind sie nun auch ohne Krankenkassenversorgung.

Der Direktor des Arbeitsamtes in Warschau soll die Anweisung bekommen haben, daß man die Arbeitsentlassenen nicht wieder einstellen darf.

Laut eines umlaufenden Gerüchtes soll der Parteichef Gierek am 24. August nach Ursus gekommen sein, um sich vom Direktor der »Ursus«-Werke sagen zu lassen, daß ein Teil der Entlassenen zu ihrer Arbeit zurückkehren müßte, wenn ein Rückgang der Produktion vermieden werden soll.

Im nächsten Heft

889 Ursus-Arbeiter klagen die Parteiführung an -- Prominente Widerstandskämpfer und Juristen fordern öffentlich Gerechtigkeit, sie nennen die Namen der Folterer und ihrer Opfer -- Spontane Volks-Spende für die Arbeitslosen

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