ABRÜSTUNG Gefühl im Herz
Am Morgen vor der Kabinettssitzung, die über Bonns künftige Sicherheitspolitik entscheiden sollte, wurde der große alte Mann der SPD noch einmal deutlich. »Ich will vermeiden helfen«, erklärte Herbert Wehner der »Neuen Ruhr-Zeitung« in einem Interview, »daß das Verhältnis der UdSSR zu den westeuropäischen Ländern und vor allem zur Bundesrepublik wieder unter den Nullpunkt sinkt.«
Die Einladung des Kanzlers, an der für das künftige Ost-West-Verhältnis so wichtigen Minister-Sitzung teilzunehmen, hatte der SPD-Fraktionschef schon einige Tage vorher wegen anderer Verpflichtungen abgesagt. Wehner fuhr in den Kölner Gürzenich, um mit einem politischen Gegner, dem ehemaligen CDU-Arbeitsminister Hans Katzer, den 60. Geburtstag zu feiern.
Die Kabinettsrunde im »Aquarium«, dem abhörsicheren Konferenzraum im Verteidigungsministerium, mußte sich mit Wehners Stellvertreter Horst Ehmke und dem SPD-Abrüstungsexperten Alfons Pawelczyk zufriedengeben. Wehner beließ es bei seiner Warnung, in Europa allzu hastig neue Waffensysteme einzuführen.
Und obwohl sein Name in der ganztägigen Debatte am Mittwoch nicht ein einziges Mal fiel, hatten alle Teilnehmer noch sein eher wie eine Drohung klingendes Kanzlerlob aus dem Bundestag im Ohr: Er, Wehner, habe »absolutes Vertrauen in den Sachverstand des Mannes, der Bundeskanzler ist«. Und er, Wehner, wisse ganz genau, was »ein Mann mit soviel Sachverstand im Kopf und auch soviel Gefühl im Herzen tun muß, tun kann, tun darf, damit es nicht zu einem Aderlaß kommt«.
Während der Fraktionsvorsitzende auf der Katzer-Fete das Lied »Lobet den Herren« anstimmte, brillierte der Kanzler vor seinen Ressortchefs und Generälen mit Fachbegriffen wie TNF (Theatre Nuclear Forces -- atomare Gefechtsfeldwaffen) und ADM (Atomic Demolition Munition -- Atomminen), ohne einen einzigen Blick auf die vor ihm liegende geheime Kabinettsvorlage zu werfen.
Verschüchtert fragte nach den ersten Dialogen Bildungsminister Jürgen Schmude, ob der Herr Bundeskanzler, der selbst immer wieder das Fachchinesisch der Rüstungsexperten beklage, sich nicht etwas verständlicher ausdrücken könne. Schmude: »Davon verstehe ich nichts.«
Halb belustigt, halb gereizt konterte der Kanzler, er spreche doch vor »Fachleuten mit hohem intellektuellem Niveau«. »Fachleute sitzen hier«, erwiderte der Bildungsminister, aber nicht jeder könne Fachmann für alles sein.
Antje Huber, Ressortchefin für Familie und Jugend, versuchte zu entschärfen: Sie erkundigte sich bei Generalinspekteur Jürgen Brandt nach dem Pillenknick. Der General möge einmal erklären, was aus der Bundeswehr werde, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge einrücken müßten.
Sehr viel ernster wurde die Debatte dann, als es um die atomaren Waffen und ihre Rolle bei der Strategie der Abschreckung ging. Der Kanzler habe wohl vergessen, so Verteidigungsminister Hans Apel zu seinem politischen Ziehvater, was er im vergangenen Mai auf dem Nato-Gipfel in Washington unterschrieben habe. Das langfristige Verteidigungsprogramm (Long Term Defense Program) sehe auch eine Modernisierung des atomaren Waffenarsenals vor, und von dieser Verpflichtung komme jetzt niemand mehr herunter. FDP-Wehrexperte Jürgen Möllemann, zu den Beratungen hinzugezogen, assistierte lebhaft.
Doch Experte Schmidt wußte es besser. In Washington, belehrte er die Runde, sei nur von TNF die Rede gewesen. Und TNF heiße Theatre Nuclear Forces, atomare Gefechtsfeldwaffen. Möllemann verärgert: »Vielen Dank, davon habe ich noch nie etwas gehört.« Aber der Verteidigungsminister habe recht. Die Amerikaner rech--
* Auf dem Geburtstagsempfang für Hans Katzer am 31. Januar in Köln.
neten zu den Gefechtsfeldwaffen auch die Rakete »Pershing 1« (Reichweite 750 km) und die in Entwicklung befindliche »Pershing 2« (Reichweite 1500 km), mit denen die USA in Europa die Überlegenheit des sowjetischen Mittelstreckenpotentials (Rakete SS 20 und Jagdbomber »Backfire") ausgleichen wollen.
Einigkeit, ob auch die »Pershing« zum TNF-Arsenal gehöre, konnte die Kabinettsrunde trotz längerer Diskussion nicht erzielen. Um Aufklärung soll nun David Aaron gebeten werden, der Stellvertreter des amerikanischen Präsidentenberaters Zbigniew Brzezinski.
Aaron will in der nächsten Woche in Bonn und in anderen europäischen Hauptstädten die Ansichten der Verbündeten zu den neuen Waffen und den amerikanisch-sowjetischen Abrüstungsgesprächen erkunden.
Die Beratungen des Kabinetts über die künftige deutsche Ost- und Abrüstungspolitik werden, so verkündete Verteidigungsminister Apel noch am Mittwochabend vor SPD-Genossen in Datteln/Westfalen, am 7. Februar in Bonn fortgesetzt. »Entscheidungen zur Sache« seien nicht gefallen. Später, in kleinerer Runde, fügte er hinzu, es werde noch vieler Gespräche und vieler Diskussionen in der Fraktion bedürfen, um Übereinstimmung zu erzielen.
Das Kommunique über die Kabinettssitzung, von Hardthöhen-Planungschef Walter Stützle aufgesetzt und von Regierungssprecher Klaus Bölling redigiert, gibt immerhin die Marschrichtung an:
* Bonn unterstützt die Bemühungen Präsident Carters um einen baldigen Abschluß der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Begrenzung der Interkontinental-Waffen (Salt 2).
* In einer neuen Verhandlungsrunde (Salt 3) sollen Amerikaner und Russen sich unter Assistenz der Europäer bemühen, die sowjetische Überlegenheit bei den Mittelstrecken-Raketen abzubauen.
* Die Wiener Verhandlungen über einen ausgewogenen gegenseitigen Truppenabbau in Zentraleuropa (MBFR) sollen nach Kabinettsmeinung forciert und die bereits erzielten »Fortschritte in konkrete Ergebnisse« umgesetzt werden.
Der eigentliche Streitpunkt zwischen Schmidt, Apel und Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf der einen und den SPD-Entspannungspolitikern Wehner, Egon Bahr und Willy Brandt auf der anderen Seite bleibt vorerst ausgeklammert.
Schmidt und seine Anhänger neigen dazu, die neuen Waffen erst einmal einzuführen und dann mit den Russen über ihren Abbau zu reden. Wehner dagegen möchte keine vollendeten Tatsachen schaffen; er hofft, daß in Verhandlungen mit den Sowjets ein neuer Rüstungswettlauf und damit ein Rückfall in den Kalten Krieg verhindert werden können.
Auf keinen Fall aber wollen sich die Deutschen, darüber bestand schließlich Einigkeit in der Hardthöhen-Runde, von den Amerikanern in die Rolle eines Nato-Vorreiters drängen lassen und als einzige europäische Bündnispartner die neuen Waffen auf ihrem Boden stationieren.
Dies sei, so entschied der Kanzler, kein deutsch-amerikanisches Thema, sondern ein Nato-Problem. Und bevor irgendwelche Entscheidungen fallen könnten, müsse erst einmal ermittelt werden, welche europäischen Verbündeten bei der Modernisierung des atomaren Vernichtungspotentials überhaupt mitwirken wollen.
Dann wandte sich der Kanzler an den Abteilungsleiter Militärpolitik im Führungsstab der Streitkräfte, den Brigadegeneral Hans-Peter Tandecki, den er noch aus seiner Zeit als Verteidigungsminister kennt und der am Katzentisch das Protokoll der streng vertraulichen Beratungen führte.
»Wenn über diese Sitzung am Montag etwas im SPIEGEL steht«, mahnte er, »dann können die Informationen nur von Ihnen stammen.« Tandecki erhob sich und antwortete knapp: »In Ordnung, Herr Bundeskanzler.«